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Besuch beim Lieferanten

Speakers' Corner: Einkäufer berichten
Besuch beim Lieferanten

Besuch beim Lieferanten
Speakers´ Corner heißt die Serie von BA: Wie im Londoner Hyde Park steigt hier der Einkäufer auf ein Podest und sagt, was Sache ist
Keine Termindiskussion ohne die körperliche Inaugenscheinnahme des Fertigungsstandes! Wolfgang Schubert, Autor und erfahrener Einkäufer, erinnert sich in unserer Serie an interessante Fälle aus der Einkaufspraxis. Besuche in der Fertigung des Lieferanten sind demnach üblich.

Wolfgang Schubert

Die Beziehungen der Einkäufer zu ihrem Gegenüber – dem Vertrieb – müssen nicht immer gespannt sein. Bisweilen sind sie sogar sehr gut. Und so waren wir zu einer kleinen Feier anlässlich der Verabschiedung des Vertriebsvorstandes eines unserer wichtigsten Lieferanten eingeladen. Der Lieferant versorgt uns mit Getrieben. Da für ein großes Projekt wieder Lieferungen anstanden, nutzten wir Einkäufer die Zeit zwischen zwei Häppchen, um eine Terminbesprechung mit der Planungsabteilung des Herstellers abzuhalten.
Der Abwicklungsstandard des Unternehmens sah vor, dass die Feinplanung der Aufträge erst einige Wochen vor Ende der Lieferzeit erfolgte. Für einen großen Auftrag mit vielen Getrieben war das eigentlich zu spät.
Die Diskussion mit den Planungsexperten ergab, dass die Liefersituation insgesamt angespannt war. Man versicherte uns aber, unsere Aufträge würden mit der Priorität „gelb“ durchgezogen werden. Das sei die höchste Priorität, so wurden wir belehrt.
Keine Termindiskussion ohne die körperliche Inaugenscheinnahme des Fertigungs-standes! Im Mittelpunkt unseres Interesses standen die für die einzelnen Getriebe genannten terminbestimmenden Einzelteile.
Wir waren davon ausgegangen, dass die Getriebegehäuse wohl terminkritisch sein könnten, deshalb besuchten wir die weiter entfernt liegende Gießerei zuerst. Deren Fertigungsleiter war überzeugt: Von den Gehäusen sei keine Lieferverzögerung zu erwarten. Natürlich!
Im Hauptwerk des Getriebebauers konzentrierte sich das Interesse unserer Einkäuferdelegation auf den weiteren Fertigungsablauf der Teile und auf die Montage. Die Besichtigung ergab, dass in der sehr großen Fabrik praktisch alle Teile „gelb“ gekennzeichnet waren. Einzelne Positionen waren mit „99“ bezeichnet, ohne dass es dafür eine Erklärung gab.
Große Zahnräder mit geschliffenen und gehärteten Zähnen, die Naben mit gestoßenen Nuten, wie sie für unsere Getriebe benötigt wurden, erfordern viele Arbeitsgänge. Vom aktuellen Fertigungsstand des größten Zahnrades wollten wir uns auf jeden Fall überzeugen. Aber: Fehlanzeige! Das Zahnrad sollte in der Härterei zu finden sein oder auf dem Wege dorthin. Wir konnten es nicht finden.
Nun suchten wir uns ein vergleichbares Zahnrad, das sich in der Endkontrolle be-fand. Anhand der Arbeitspapiere stellten wir die Durchlaufzeit dieses Rades seit der Fertigstellung zum Härten fest. Dann schrillten alle Glocken! Nach dem Modell-durchlauf zu urteilen, würde der Liefertermin um rund sechs Wochen überschritten werden. Vorausgesetzt, das Rad war tatsächlich fertig zur Wärmebehandlung.
Jetzt wollten wir die Wahrheit hören, aber die früheren Aussagen hinsichtlich Termintreue wurden nur bestätigt. Eventuell könne es beim mehrschichtigen Spezialanstrich wegen der langen Trocknungszeiten schwierig werden. Diese Botschaft hörten wir – allein es fehlte der Glaube. Wir ließen uns dann noch die Einplanung unseres großen Zahnrades am Planungssystem zeigen. Das bestätigte unsere Skepsis. Die Auslieferung für dieses Getriebe war für sechs Wochen nach dem vereinbarten Liefertermin eingeplant. Aber dieses System war erst noch in der Einführungsphase. Die Werte waren nicht „real“.
Inzwischen war uns auch bekannt, dass es sich bei der „99“ um die Konzernleitungs-priorität handelte. Das Misstrauen war total. Wir verlangten jetzt eine Notfallplanung mit Arbeiten an Sonntagen, stufenweiser Anlieferung und Endanstrich auf der Baustelle.
Obwohl uns der scheidende Vertriebsvorstand trotz allem versicherte, der Liefertermin würde eingehalten werden, erläuterte unsere Geschäftsleitung in einem Schreiben an den Vorstand des Getriebebauers noch einmal die Terminsituation des Gesamtprojektes. Um den Auftrag von unserem Kunden zu erhalten, hatten wir sehr hohe Vertragsstrafen akzeptieren müssen. Vertragsstrafen, die auch nur einen Teil der Verluste unseres Kunden abdecken würden. Er muss ja zum Produktionsbeginn nicht nur das Betriebspersonal, Wasser, elektrische Energie und Dampf bereitstellen, sondern auch die Versorgung der Produktionsanlage mit den Vormaterialien, die Entsorgung und den Verkauf der Erzeugnisse sicherstellen. Er muss lange vor der Produktionsaufnahme Verkaufsverträge mit seinen Kunden abschließen. Wenn er diese Verträge nicht termingerecht erfüllen kann, muss er seine Konkurrenten um Hilfe bitten. Noch schlimmer als die materiellen Verluste wären die immateriellen Schäden, der Verlust an Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit für alle Unternehmen der Supply Chain.
Schließlich wurde eine Lösung gefunden mit der wir unsere Verpflichtungen gegen-über unserem Kunden termingerecht erfüllen konnten.

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Dipl.-Ing. Wolfgang Schubert stellt seine Erfahrungen seit seiner Pensionierung als Berater zur Verfügung. Zuvor war er 17 Jahre lang Einkaufsleiter und Leiter Materialwirtschaft einer Tochtergesellschaft eines internationalen Konzerns im Maschinen- und Anlagenbau. Er studierte am Staatstechnikum Konstanz und an der RWTH Aachen Maschinenbau und Wärmetechnik.
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