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Der Mensch als cyber-physisches System

Industrie 4.0, Teil 2
Der Mensch als cyber-physisches System

Der Mensch als Arbeitskraft bleibt auch in der Produktion der Zukunft ein entscheidender Faktor. Als Teil eines cyber-physischen Systems kann er aktiv in die Produktionsplanung einbezogen werden. So lassen sich körperliche Belastungen reduzieren.

Unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ wird ein Umbruch in der Fertigung aktuell heiß diskutiert. Cyber-physische Systeme (CPS) halten Einzug in den Produktionsalltag und vernetzen die Produktion zu einem echtzeitoptimierten System. Jedes beliebige Objekt im Produktionsprozess kann dabei ein CPS sein. CPS kommen zu ihrer Intelligenz, indem sie durch eine Softwarekomponente repräsentiert werden, die objektspezifische Daten speichern und aktualisieren kann, und über ein digitales Netz mit anderen CPS kommunizieren können („Internet der Dinge“). Sensoren befähigen sie darüber hinaus dazu, Umweltzustände wahrzunehmen, mit Aktoren ausgestattet können sie sogar selbst auf physikalische Prozesse Einfluss nehmen. Es entsteht eine virtuelle Form des realen Produktionssystems, das in Echtzeit den aktuellen Stand des Gesamtsystems widerspiegelt. Durch den flächendeckenden Einsatz von CPS kann ein hochflexibles und dynamisches Produktionsumfeld geschaffen werden, das aus intelligenten Objekten besteht, welche sich untereinander abstimmen und sich dabei selbst steuern. In der Folge dieser Selbststeuerung werden Entscheidungen nicht mehr zentral vorgegeben, sondern es werden im Produktionsablauf viele kleine Einzelentscheidungen getroffen, woraus die Anforderung entsteht, dass jedes CPS für sich selbst über Steuerungswerkzeuge und -regeln verfügen muss, anhand derer es die entsprechenden Entscheidungen treffen kann.

Der Mensch – ein Teil des Systems. Um dabei zum Beispiel auch personenspezifische Aspekte einfließen lassen zu können, kann nun auch der Mensch selbst zum CPS werden. Dass es sich beim Menschen an sich schon um ein intelligentes „Objekt“ handelt, soll damit natürlich nicht angezweifelt werden, auch nicht, dass er in der Lage ist, Umweltzustände zu erfassen oder selbst zu agieren. Da in der Zukunftsvision der vollvernetzten Produktion das gesamte Produktionssystem virtuell abgebildet ist und die menschliche Arbeitskraft einen weiterhin wichtigen Faktor darin darstellt, muss auch sie in die virtuelle Welt aufgenommen werden.
Der Mensch wird digitalisiert. Dazu erhält jeder einzelne Arbeiter eine virtuelle Repräsentation, die letztlich nichts weiter ist als eine Datei, die bestimmte produktionsrelevante Daten über ihn speichert. Diese Daten können über einen Mitarbeiterausweis, ein mobiles Kommunikationsmedium oder eine Eingabemaske an einem PC eingegeben werden. Sobald der Mitarbeiter in dieser Form „digitalisiert“ wurde, ist er ein Teil des Internets der Dinge. Wenn ein CPS nun eine Entscheidung trifft, kann es dabei auch auf die vorliegenden personenbezogenen Daten jedes einzelnen Mitarbeiters zurückgreifen und diese in die Entscheidungsfindung mit einbeziehen.
Auf diese Weise ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, die Arbeit des Menschen als flexible Größe in den Produktionsprozess zu integrieren. Alternative Arbeitszeitmodelle unter Einbeziehung individueller Präferenzen und Lebenssituationen stellen ebenso eine mögliche Anwendung dar, wie die Abstimmung einzelner Arbeiter untereinander, sowohl in Bezug auf Arbeitsaufgaben als auch auf Arbeitszeiten.
In diesem Beitrag soll die Berücksichtigung von körperlicher Belastung in der Produktionssteuerung betrachtet werden, denn der Mensch als Arbeitskraft bleibt auch in der Produktion der Zukunft ein entscheidender Faktor. Dies gilt insbesondere für Montagetätigkeiten. Arbeiten in der Montage beinhalten jedoch einen hohen und konstanten Anteil an körperlicher Arbeit und damit körperlicher Belastung.
Die Körperbelastung als Kenngrösse. Gerade unter Berücksichtigung des demografischen Wandels, stellt die körperliche Belastung ein Problem dar. Hinzu kommt, dass durch die Standardisierung von Prozessen und Arbeitsabläufen ein hoher Faktor an repetitiven Tätigkeiten entsteht, wodurch die Belastung einzelner Körperbereiche verstärkt wird. Um einen Belastungsausgleich zu schaffen, sollten körperliche Belastungen nicht nur möglichst gering, sondern auch verteilt sein.
Indem der Arbeiter als CPS agiert, kann er nun aktiv in die Produktionsplanung einbezogen werden. Um eine Größe wie die Körperbelastung in ein rechnergestütztes Entscheidungsverfahren einbeziehen zu können, muss sie aber quantifizierbar, also in numerischer Form darstellbar sein. Hierfür eignen sich Methoden aus der Arbeitswissenschaft, mit denen körperliche Belastungen erfasst und bewertet werden. Die meisten dieser Methoden beurteilen einzelne Arbeitsschritte unterteilt nach Unterkategorien wie Armhaltung, Handgelenkshaltung oder Oberkörperhaltung und berücksichtigen darüber hinaus die zeitliche Verteilung und das Handhaben von Lasten. Ergebnis der Bewertung ist ein numerischer Belastungswert, der in der Regel in ein Ampelschema übersetzt wird – „grün“ bedeutet, die Belastung akzeptabel, „gelb“ bedeutet, dass Verbesserungen mittelfristig eingeleitet werden sollten, und „rot“ symbolisiert sofortigen Handlungsbedarf.
Stehen nun für einen Montageschritt eines Produkts verschiedene Optionen zur Verfügung (z. B. im Stehen oder im Sitzen schrauben), kann das CPS anhand der vorliegenden Daten – inklusive derer des Bearbeiters – entscheiden, welche Methode angewendet werden soll. Das CPS greift dabei zum einen auf die bisher vom Arbeiter ausgeführten Arbeitsschritte und Körperhaltungen und zum anderen auf dessen hinterlegte Körperdaten zurück. Für jede mögliche Montagemethode lässt sich dann die Auswirkung auf die Belastung errechnen und der Wert als Zielgröße in die Entscheidungsfindung mit einbeziehen.
Bei dieser Entscheidung spielt eine Rolle, welche Montagetätigkeiten der Arbeiter bereits ausgeführt hat und wie hoch sein Belastungswert demnach ist, wie viel Zeit die Montageoption in Anspruch nimmt, wie hoch deren durchschnittliche Fehlerquoten sind, eventuelle Unterschiede bei der Werkzeugbenutzung und andere situationsabhängig variierende Faktoren. Werden bei einer Entscheidungsfindung mehrere Zielgrößen adressiert, spricht man von einer Mehrzieloptimierung.
Das grundlegende Problem dabei ist, dass zwei unterschiedliche Zielsetzungen oft gegenläufig sind. So kann beispielsweise eine rückenschonende Montagemöglichkeit im Sitzen länger dauern als im Stehen. Um dieses Problem in einem numerischen Modell zu lösen, gibt es verschiedene mathematische Ansätze.
Mehrzieloptimierung. Setzt man nun eine Methode der Mehrzieloptimierung in einem Modell ein, in dem als Zielgrößen neben den „üblichen“ Faktoren wie Kosten, Zeit, Fehlerquote oder Kapazitätsauslastung auch die Körperbelastung verankert wird, kann man die Produktionssteuerung um eine Komponente erweitern, die bei der Optimierung des Arbeitsablaufs auch die Belange der Arbeitskraft aktiv mit einbezieht. Dabei wird sichergestellt, dass weder die körperliche Belastung, noch andere Aspekte alleine für Entscheidungen verantwortlich sind, sondern zwischen allen Zielaspekten ein Kompromiss gefunden wird. Die entsprechenden Regeln werden aufgestellt und hinterlegt und ermöglichen eine situationsabhängige Abwägung der verschiedenen Einflussgrößen.
Es braucht Zeit und Ideen. Das hier beschriebene Vorgehen zeigt, dass die Möglichkeiten von Industrie 4.0 weit über Effizienz- oder Effektivitätsverbesserungen hinaus gehen und auch eine Berücksichtigung von Aspekten bei der Echtzeitsteuerung ermöglichen, die bislang nicht möglich sind. Die Potenziale, die sich hinter der IT-getriebenen Entwicklung der Industrie verbergen, sind enorm, erfordern aber neben intensiver Forschung auch Zeit und neue Ideen.
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