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Drum prüfe, wer sich bindet

Projekteinkauf unter der Lupe, Teil III
Drum prüfe, wer sich bindet

In diesem dritten und letzten Teil der Serie zum Projekteinkauf widmen sich die Autoren Prof. Dr. Roman Bartnik und Dr. Uwe Holtschneider langfristigen Geschäftsbeziehungen: dem System- und Integrationsgeschäft. Erneut geht es darum, Anreiz- und Koordinationsprobleme zu erkennen und sie zu beseitigen.

Im Systemgeschäft – denken Sie an den Kauf eines ERP-Systems oder einer Möbelgarnitur für die Büros – gehen wir eine langfristige Bindung mit dem Lieferanten ein und müssen daher besonders aufpassen. Nachkäufe der Software müssen mit dem ERP-System kompatibel sein. Nachkäufe an Möbeln zur Möbelgarnitur passen. Der Lieferant liefert uns dabei aus seiner Sicht ein Standard-Produkt (z. B. SAP oder eine Möbel-Reihe), er ist nicht durch Anpassungen an uns gebunden. Anders im Integrationsgeschäft: Hier passt der Lieferant die Leistung an (ein Scheinwerfer oder Dashboard für eine bestimmte Autoreihe) und die langfristige Bindung besteht insofern beidseitig.


Systemgeschäft

Im Systemgeschäft besteht das zentrale Koordinationsproblem aus der Bewertung der Folgeinvestitionen. Welche Aufwände würden eine Eigenentwicklung oder der Bezug einer nicht systemgebundenen Alternative verursachen? Welche Anschlussinvestitionen sind erforderlich? Erst geht es darum, Systemgeschäfte zu identifizieren und von Produktgeschäften zu trennen: Oft übersehen Einkäufer, dass sie eine langfristige Bindung eingehen. Hierfür sollten Checklisten entwickelt werden, die im Beschaffungsprozess bearbeitet und von Lieferanten und Fachabteilung gegengezeichnet werden müssen.

Zweitens müssen Kalkulationsvorlagen entwickelt werden, die dabei helfen, vage Vorstellungen von Anschlussinvestitionen mit Zahlen zu verbinden. Dabei sollten die Vorlagen mit Szenarien arbeiten, die mit überprüfbaren Annahmen verknüpft werden. Da die Zukunft unsicher ist, stellt ein Trio von Szenarien (pessimistisch – wahrscheinlich – optimistisch) mit klaren Annahmen den Möglichkeitsraum besser dar als das „Eindampfen“ auf einen nebulösen Mittelwert. Sensitivitätsanalysen helfen dabei, die Frage zu beantworten, wie stark das jeweilige Szenario von der Veränderung einzelner Input-Werte abhängig ist. Organisatorisch wichtig ist dabei, Termine und Verantwortliche für das Überprüfen der Annahmen zu benennen, und Aktionen zum Gegensteuern zu definieren, um den Schaden auch des pessimistischen Szenarios zu reduzieren.

Drittens, mit Fokus auf die Anreizprobleme, ist es wichtig, in diesen Vergleichen nicht nur die Kosten der neuen Lösung, sondern auch die Kosten der Alternative „Nichts-tun“ zu bepreisen. Der Anreiz, Teile von hart umkämpften Budgets für vage definierte positive Effekte auszugeben, ist ansonsten gering. Auch der Status quo verursacht Kosten, die aber zur Verteidigung alter Prozesse gerne vernachlässigt werden: Der BOM-Austausch mit Excel und Outlook verursacht zwar keine zusätzlichen Lizenzkosten, aber wie viel Zeit wird aktuell für Suche, Korrekturschleifen, Absprache, Eskalation und Schadensbegrenzung bei Fehlern in der Stückliste verschwendet? Wie lange dauert aktuell bei Ihnen die Erstellung von Stücklisten für Neuprojekte in Arbeitsstunden? Wie viele Fehllieferungen, Expediting und Eskalationen werden durch Fehler in der Stückliste verursacht? Welche Analysen werden aktuell regelmäßig mit Stücklisten durchgeführt, wie könnte sich dies durch ein neues Tool ändern und mit welchen Wirkungen auf Kostenreduktion? Eine Kalkulationsvorlage muss unbedingt auch die Kosten des Status quo erfassen, da sonst die positiven Aspekte von Systemlösungen unterschätzt werden.

Letzter und vielleicht wichtigster Punkt: Aufwandsschätzungen müssen immer gegengeprüft werden. Ansonsten setzt die Organisation systematisch Anreize für die Fachabteilungen, Aufwände strategisch zu übertreiben oder zu untertreiben (Vertrieb) und für politische Spiele um Abteilungsbudgets zu nutzen. Solche Spiele lassen sich nur vermeiden, wenn eine glaubhafte Datengrundlage für Schätzwerte vorliegt, der die Abteilungen vertrauen können und die vor politischer Manipulation geschützt wird (z. B. durch Auslagerung in eine Stabsstelle ohne Eigeninteresse in diesen Fragen). Benötigt wird ein System zur systematischen Erhebung von Schätzdaten, realen Prozessdauern und Gründen für Verspätungen. Gelingt dies, steht dem Anfangsaufwand eine deutliche zeitliche Entlastung gegenüber.


Integrationsgeschäft

Im Integrationsgeschäft muss das Produkt, aber auch die Fähigkeit des Lieferanten zur Integration bewertet werden. Ein Koordinationsproblem liegt hierbei in der Bewertung der langfristigen Kosten- und Nutzeneffekte. Dafür kann auf ähnliche Kombinationen von Checklisten und Kalkulationsvorlagen zurückgegriffen werden wie in Teil 1 dieser Serie beschrieben.

Diese müssen jedoch ergänzt werden, da im Integrationsgeschäft die Leistung nicht nur langfristig erbracht, sondern auch kundenspezifisch angepasst werden muss. Hierfür muss neben einer Kosten- und Nutzenabschätzung auch eine Potenzialbewertung erfolgen. Sie beantwortet, wie gut das Lieferantenteam aufgestellt ist, wenn es um die Betreuung von Entwicklungsfragen, Qualitätsmanagement, Logistik und Kostenreduktion geht. Der Projekteinkäufer muss dabei für Bestandslieferanten Informationen aus den Fachabteilungen binden und in eine Entscheidungsvorlage überführen. Für Neulieferanten müssen Selbstauskünfte und Audits durchgeführt werden. Da der Koordinationsaufwand für eine Potenzialbewertung hoch ist, bietet es sich an, Integrationsgeschäfte an Bestandslieferanten zu vergeben oder für Neulieferanten eine mehrjährige Strategie aufzusetzen.

Ein weiteres Anreizproblem geht aus der zweiseitigen Anpassungserfordernis hervor: Erstens muss der Lieferant motiviert werden, auch nach Vertragsabschluss in Produktanpassungen zu investieren. Zweitens müssen Anreize gesetzt werden, interne Anpassungsmöglichkeiten systematisch zu evaluieren. Oft können durch kleine Änderungen beim Lieferanten Einsparungen erzielt werden. Bietet der Lieferant etwa eine Standardkomponente an, auf die man wechseln könnte? Welche Probleme im eigenen Prozess könnten mit Produktvariationen einhergehen? Verstehen die Entwickler und der Lieferant den Produktionsprozess? In der Praxis beobachtet man, dass zur Analyse dieser Fragen in den Fachabteilungen wenig Anreiz besteht, was damit zusammenhängt, dass hierfür weder Vorlagen noch Erfahrungswerte genutzt werden.. Wenn das Rad immer wieder neu erfunden werden muss, bleibt zur Analyse wenig Zeit. Auch wird der Erfolg solcher Verbesserungen oft nicht durch KPIs honoriert – Ersparnisse können oft zwar verbucht werden, wenn Preise um fünf Prozent gedrückt werden, nicht aber, wenn durch intensive Analyse mit den Lieferanten durch Nutzung einer Standardkomponente die Kosten um 50 Prozent fallen.

Hier muss aus Organisationssicht nachgerüstet werden: Checklisten gehören erstellt, die aus Erfahrungswerten die wichtigsten Fragen stellen. Diese können nach und nach entwickelt werden, wobei eine klare Obergrenze hilft, ein „Zuwuchern“ zu verhindern. Die Checkliste sollte intern bearbeitet werden, wobei vom Projektteam Prioritäten auf einzelne Aktionsfelder (z. B. Material-Alternativen) gesetzt werden müssen. Schon im Ausschreibungsprozess sollten Optimierungsvorschläge der Lieferanten gesammelt werden. Aus Koordinationssicht bietet es sich an, Formulare für Lieferanteninput zur Verfügung zu stellen. Hierzu sollten Stabsabteilungen genutzt werden, um den Spezialisten zu erlauben, sich auf die Inhalte zu konzentrieren. Auch Assistenzrollen sollten berücksichtigt werden: Ohne Entlastung ist tiefe Analyse und inhaltliche Breite im Projekteinkauf nicht realistisch.

Aber welche Anreize haben Lieferanten, vor Vertragsabschluss, alle Optimierungsideen auf den Tisch zu legen? Hier besteht aus Anreizsicht ein Zielkonflikt: Nach dem traditionellen Beschaffungsverständnis wollen wir in der frühen Phase viel Auswahl haben und uns erst spät binden. Andererseits ist aber in komplexen Beschaffungssituationen ein technischer Austausch elementar. Wichtig ist hier strategische Planung: früher mit Kunden und Lieferanten sprechen, früher wagen, sich auf Lieferanten festzulegen, explizites Risikomanagement und Mehr-Projekt-Commitments der Lieferanten.


Im Überblick

Wissenschaftliche Serie: „Der Projekteinkauf unter der Lupe“

Die Serie hat folgende Teile:

  • Teil 1: Der Projekteinkauf als Schnittstelle – Ausgabe 09/2020
  • Teil 2: One-Night-Stands: Beziehungen ohne Bindung – Ausgabe 10/2020
  • Teil 3: Drum prüfe, wer sich bindet: Langfristige Beziehungen – Ausgabe 11/2020

Prof. Dr. Roman Bartnik lehrt und forscht an der Technischen Hochschule Köln zu den Themengebieten Supply Chain Management, Project Management und Lean Management.

Dr. Uwe Holtschneider ist Dozent für Lieferantenmanagement an der Cologne Business School und leitet den Bereich Supply Management/Methods and Tools bei Yazaki Europe Ltd.


Backhaus, Klaus; Voeth, Markus (2014): Industriegütermarketing. Grundlagen des business-to-business-marketings. 10., überarbeitete Auflage. Munich, Germany: Verlag Franz Vahlen (Vahlens Handbücher).

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