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Ein Vertrag ist nur die halbe Miete

Internationale Geschäfte erfordern interkulturelles Know-how
Ein Vertrag ist nur die halbe Miete

Wer weltweit einkauft, muss ganz schön gut aufgestellt sein. Während Vertriebsleute und Marketingspezialisten in der Regel für Auslandsentsendungen mit interkulturellen Trainings vorbereitet werden, hat die Personalabteilung diese Form der Qualifizierung für Einkäufer in der Regel nicht vorgesehen. Dabei machen Einkäufer wichtige Geschäfte – da stehen schnell Millionen auf dem Spiel.

Susanne Kilian hat als Dolmetscherin unter anderem für die UNO, aber auch für international tätige Unternehmen gearbeitet und viele schwierige Situationen miterlebt. Immer wieder konnte sie beobachten, dass neben Sprachproblemen ein ungenügendes Verständnis für die Kultur und Denkweise des Geschäftspartners Schwierigkeiten heraufbeschwört. Aus ihrer Erfahrung hat sie ein Lernkonzept erstellt, bei dem sie Sprache, aber auch wichtige kulturelle Unterschiede im Geschäftsleben vermittelt. Der „English Code“ ist ein „Missverständnis- und Fettnäpfchen-Vermeidungsprogramm“ für deutsche Firmen. International verstehen und verstanden werden hilft, Zeit und Geld zu sparen.

Problem Unpünktlichkeit. Ein Thema, das ihre Teilnehmer häufig ansprechen, ist, dass Orders – gerade aus Indien oder China – nicht termingerecht geliefert werden, aber dieses „too late“ auf der Partnerseite wie auf taube Ohren stößt. Sie erklärt das mit einer unterschiedlichen Konotation von Zeit in beiden Gesellschaftstypen, mit „monochroner Gesellschaft versus polychroner Gesellschaft“. Damit will sie ausdrücken, dass in unserer deutschen Gesellschaft, die in der Regel von preußischem Protestantismus geprägt wurde, die Vorstellung gilt, dass man nur eine Chance hat, etwas gut zu machen. Monochrone Gesellschaften arbeiten mit Prioritätslisten, unerledigte Aufgaben sind eine Belastung und wenn am Abend die To-do-Listen nicht vollständig abgehakt sind, dann geht man unzufrieden nach Hause. Arbeitsprozesse werden als Zeiteinheiten definiert und Zeit ist Geld.
Um das noch besser zu veranschaulichen, holt sie etwas weiter aus: „In meinen Sprachtrainings frage ich die Teilnehmer gerne, wie viele Leben haben Sie? Klar, die Antwort heißt: eines. Nächste Frage: Was passiert, wenn ich in diesem Leben Mist baue? Antwort: Ich komme in die Hölle und leide Folterqualen auf ewig. Und was ist, wenn ich es gut mache? Im positiven Fall komme ich in den Himmel. Wir modernen Menschen haben ein wenig unseren christlichen Hintergrund vergessen, aber er prägt uns immer noch. Wir haben gedanklich immer noch nur den einen Versuch, der über Himmel oder Hölle für immer entscheidet.“
Dann fragt Kilian ihre Gruppe, wie viele Leben hat man in Indien? Antwort: unendlich viele Leben. Man wird wiedergeboren, bis man den Zustand der Vollendung erreicht hat und ins Nirwana eingeht. Wenn jemand also einmal ein richtiger Fiesling war, wird er vielleicht als Ameise wiedergeboren oder als Floh, war er dann als Ameise gut, steigt er auf und so weiter. Damit ist eine ganz andere Bedeutung von Zeit verbunden. Die Inder sagen: „Change is law – nichts ist für immer“. Ein ewiger Kreislauf, aber auch immer eine neue Chance.
Die Bedeutung von Zeit. Und nun schlägt sie den Bogen zum Alltag ihrer Teilnehmer: Wenn also beispielsweise in einem Handelsgeschäft ein Deutscher zu einem Inder sagt, die Lieferung kommt zu spät, dann kann der Inder das so nicht verstehen. In Indien spielt Zeit eine ganz andere Rolle. „Wo bleiben die Ersatzteile? … Das ist zu spät! … Aber wir haben doch gesagt, erster Mai! … Wie oft muss ich noch sagen, das ist zu spät …?“ Indische Partner verbinden mit „zu spät“ ganz andere Inhalte, für sie hat Zeit und damit „zu spät“ nicht diese existenzielle Bedeutung.
Bei uns ist man nach Abschluss eines Vertrages zufrieden, heftet den Vertrag in einen Leitzordner und wendet sich der nächsten Aufgabe zu. Und wundert sich dann, wenn der Partner den Vertrag so nicht erfüllt. In polychronen Gesellschaften, also Gesellschaften, in denen der Mensch mehr als eine Chance hat, muss man ständig am Ball/am Partner dran bleiben. „Ja, das ist Aufwand“, sagt Kilian, „den muss ich in meiner Kalkulation mit einberechnen, genauso wie man mit einkalkulieren muss, was passiert, wenn der Partner nicht liefert.“ Aber Beziehungspflege spiele in Indien oder China eine wichtige Rolle. Wenn eine Minute Bandstillstand 10 000 Euro kostet, ist die Not groß.
Das bedeutet, dass ein Einkäufer beispielsweise immer mal wieder zwischen Order und Auslieferung den Kontakt pflegen sollte, „Keep-in-touch-mails“ schreiben, sich freundlich an den Geschäftspartner wenden. Beziehungs-Mails, also sich beispielsweise beim Anderen nach dem Wochenende zu erkundigen, erscheinen Deutschen als Zeitverschwendung. In polychronen Gesellschaften bedeutet das viel mehr, man bringt sich – angenehm – wieder in Erinnerung. Geschäftsbeziehung und Beziehung gehen häufig Hand in Hand.
Dass diese eigentlich simple Methode wirken kann, bestätigen ihr die Teilnehmer der Seminare. Einer habe erzählt, dass er früher drei Wochen auf die Beantwortung seiner Mail gewartet habe, inzwischen antworte sein indischer Geschäftspartner auch am Wochenende. Einem großen Unternehmen, das bereits per Anwalt mit seinem indischen Lieferanten korrespondierte, empfahl Kilian ebenfalls diesen Weg. „Die haben mich angeschaut, als sei ich auf Droge“, lächelt sie in der Erinnerung. „Wir bemühen jetzt bald das Gericht und die kommt mit Beziehungspflege daher.“ Inzwischen funktioniere das Geschäft reibungslos, sagt sie.
Beziehungen pflegen. Ein polychroner Mensch sieht den, der gerade vor ihm steht, das ist der Kontakt und diese Beziehung wird gepflegt. In China spricht man von „guanxi“ – Beziehungen, und wer kein guanxi hat, kommt auch nicht weiter.
Man muss aber gar nicht um die halbe Welt fahren, um andere Gewohnheiten zu treffen, es genügt der Sprung nach Frankreich. Da gebe es etwas Ähnliches, sagt Kilian. Da heißt das „être au centre“ – in der Mitte eines Beziehungsgeflechtes stehen. In einer monochronen Gesellschaft gilt „I make it to the top“, in einer polychronen Gesellschaft ist der wichtigste Wert das „être au centre“.
Das sind nicht nur zwei verschiedene Zeitkonzepte, das bedingt auch zwei komplett verschiedene Geschäftskonzepte. Man kann nicht sagen, eines ist besser oder effektiver, sie sind einfach verschieden, betont sie. Projekte werden dort genauso fertig wie bei uns. Das erlebe sie derzeit bei einer deutsch-französischen Gruppe, die sie betreue. Die beiden Partner kommunizieren und arbeiten auf Englisch miteinander. Da komme dieses Thema immer wieder hoch.
„Die Deutschen sagen: Ihr Franzosen geht zwei Stunden Mittagessen, ihr schafft nicht ordentlich. Ihr seid nicht effektiv. Und dann antworten die Franzosen: Ihr Effektivler! Das ist ja zum Lachen! Ihr seid total uneffektiv! Wir erleben immer wieder, dass vier von euch an genau der gleichen Sache arbeiten. Weil ihr euch nicht austauscht. Weil ihr nicht wisst, was der andere macht, macht ihr viele Sachen doppelt, dreifach und vierfach. Ich weiß genau, Jean-Paul macht gerade das, also mache ich mir nicht nochmal die Arbeit, sondern gehe zu Jean-Paul. Wir sind besser miteinander vernetzt, wir wissen besser, woran der andere gerade arbeitet und das ist unsere Art von Effektivität.“
Wer solche Unterschiede vorher weiß, kann sich viel Mühe und Frust ersparen. Einkäufer sollen weltweit einkaufen. Wenn etwas nicht klappt, sind sie zum einen in ihrer persönlichen, professionellen Ehre gekränkt, ganz abgesehen davon, dass sie enorm unter Erfolgsdruck stehen. Sie setzen dabei oft voraus, dass es überall so funktioniert, wie bei uns. Das tut es aber nicht. Gerade Einkäufer sollten solche Unterschiede wissen, um ihren Job gut machen zu können.
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