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Entwicklung der Rechtsprechung bei der Produkthaftung

Deliktshaftung als Vorläufer
Entwicklung der Rechtsprechung bei der Produkthaftung

Das deutsche Recht kannte früher keine eigene Bestimmung über die Produkthaftung, also über Ansprüche des Letzterwerbers einer Sache oder sogar unbeteiligter Dritter gegen den Hersteller auf Leistung von Schadensersatz wegen Schäden an Körper oder Gesundheit oder wegen Sachschäden. Man dachte zunächst daran, vertragliche Ansprüche könnten zum Schadensersatz führen. Das Reichsgericht hat aber bereits 1915 entschieden, daß durch den Kauf eines Produktes von einem Händler kein unmittelbares vertragliches Verhältnis zu dem Hersteller entsteht. Auch der BGH hat diese Rechtsprechung fortgesetzt und die Produkthaftung daher als Deliktshaftung entwickelt.

Dr. iur. H .J. Kullmann

Nachdem das Arzneimittelgesetz von 1976 bereits eine besondere Haftungsvorschrift für die verschuldensunabhängige Haftung für Arzneimittel enthielt (§ 84), ist durch das Produkthaftungsgesetz vom 15.12.1989 in Deutschland eine verschuldensunabhängige Haftung für alle Produkte eingeführt worden.
A. Deliktshaftung
Von den Vorschriften über die „Unerlaubte Handlung“ kommen für Schadensersatzansprüche gegen den Hersteller von Waren, die über eine Absatzkette vertrieben werden, vor allem die Absätze 1 und 2 des § 823 BGB in Betracht.
I. Materielles Recht Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB
Nach § 823 Abs. 1 BGB ist jeder, der vorsätzlich oder fahrlässig Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, zum Schadensersatz verpflichtet. Die deutsche Rechtsprechung, vor allem diejenige des Bundesgerichtshofes, hat daraus die allgemeine Pflicht abgeleitet, daß jeder, der schuldhaft einen gefährlichen Zustand herbeiführt oder andauern läßt, die nach Lage der Verhältnisse erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz anderer Personen zu treffen hat. Trifft er schuldhaft solche Maßnahmen nicht, dann haftet er wegen Verletzung einer sogenannten Verkehrssicherungspflicht, falls dadurch eines der in § 823 Abs. 1 BGB erwähnten Rechtsgüter verletzt wird. Die Rechtsprechung hat diesen Grundsatz auch auf die Produzentenhaftung angewendet.
Allgemeines:
Im Betrieb eines Warenherstellers können nach der Rechtsprechung des BGH solche Verkehrssicherungspflichten in allen Bereichen der Unternehmenstätigkeit verletzt sein, nämlich bei
–der Produktentwicklung (es liegen dann Konstruktionsfehler vor),
–der Produktherstellung (das können Fabrikationsfehler oder Kontrollfehler sein),
–der Warenauslieferung (hier können Instruktionsfehler vorkommen) und
–noch nach der Auslieferung (dies sind sogenannte Produktbeobachtungsfehler)
Überall können sich solche Gefahrenlagen ergeben, die Sicherungspflichten auslösen, die der Unternehmer selbst zu erfüllen hat.
Zu dieser Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht hat die Rechtsprechung einige allgemeine Grundsätze aufgestellt. Damit versucht sie, die Risiken, die sich aus der Inverkehrgabe schadenstiftender Produkte ergeben können, gerecht zwischen dem Hersteller einerseits sowie den Benutzern und etwa geschädigten Dritten andererseits zu verteilen.
Der erste Grundsatz lautet: Nicht bei jeder Gefahrenquelle, die geschaffen wird, sind Sicherungsmaßnahmen zu treffen. Eine solche Pflicht besteht nur dann, wenn es nahe liegt (und nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht), daß Rechtsgüter anderer verletzt werden. Eine naheliegende Schädigungsmöglichkeit, die Sicherheitsmaßnahmen erfordert, ist nach einer Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1964 immer dann gegeben, wenn Gefahren bestehen, die von dem Gefährdeten nicht vermutet werden und vor denen er sich daher selbst nicht schützen kann, wenn er sich also nicht bewußt ist, daß er sich einem besonderen Risiko aussetzt. Es ist dann nicht gerechtfertigt, dieses aus der Produktbenutzung sich ergebende Risiko ihm zu überantworten. Der BGH begrenzt deshalb die Verkehrssicherungspflicht durch die Verkehrserwartung.
Für die Bestimmung des Umfangs der Verkehrssicherungspflicht gilt der zweite vom BGH aufgestellte Grundsatz, wonach der Träger dieser Pflichten gehalten ist, diejenigen Maßnahmen zu treffen, die nach den Gegebenheiten des Falles zur Gefahrenbeseitigung objektiv erforderlich und zumutbar sind.
Bei der Entscheidung darüber, welche Sicherungsvorkehrungen objektiv erforderlich sind, ist folgendes zu berücksichtigen: Grundsätzlich ist alles das objektiv erforderlich, was die Gefahr beseitigen kann. Die Rechtsprechung, insbesondere diejenige des BGH, verkennt jedoch nicht, daß eine vollkommene Verkehrssicherung, die jeden Unfall ausschließt, in der Praxis nicht zu erreichen ist. Auch für den Umfang der Verkehrssicherungspflicht wird deshalb auf die Verkehrserwartung abgestellt. Der Verkehrssicherungspflicht ist nach Auffassung des BGH genügt, „wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich erachtet“.
Maßstab ist dabei, was ein vernünftiger Angehöriger eines bestimmten Verkehrskreises erwarten darf, also der Verbrauchergruppe, die normalerweise das betreffende Produkt benutzt.
Ist ermittelt, welche Sicherungsmaßnahme objektiv erforderlich war, so ist anschließend zu prüfen, ob die Maßnahme dem Hersteller auch nach objektiven Maßstäben zumutbar war. Die Zumutbarkeit kann davon beeinflußt werden, welche Rechtsgüter gefährdet sind und wie hoch das Maß der Gefährdung zu veranschlagen ist. Bestehen z.B. erhebliche Risiken für Leben und Gesundheit von Menschen, so sind dem Hersteller viel weitergehendere Sicherungsmaßnahmen und finanzielle Aufwendungen zumutbar als in den Fällen, in denen nur Eigentums- oder Besitzstörungen zu befürchten sind.
Pflichten des Herstellers in einzelnen Verantwortungsbereichen
Es gibt bisher schon eine umfangreiche Rechtsprechung des BGH und der Oberlandesgerichte zu den Pflichten des Herstellers in den einzelnen Verantwortungsbereichen, dem Konstruktions-, dem Fabrikations-, dem Instruktions- und dem Produktbeobachtungsbereich.
Konstruktionsbereich
Der Produkthersteller muß bei der Entwicklung neuer Produkte vielfältige Vorkehrungen treffen, um Konstruktionsfehler zu vermeiden. So muß er:
–Bei der Konstruktion alle ihm zugänglichen technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse und Möglichkeiten ausnutzen und alle technisch möglichen Sicherheitsvorkehrungen treffen. Er darf also keine Produkte in den Verkehr bringen, worin sich ein nach dem jeweiligen Stand der Technik und Wissenschaft vorhersehbarer Konstruktionsfehler eingeschlichen hat.
–Bei Maschinen an unverkleideten Maschinenteilen Schutzvorrichtungen anbringen und diese fest mit dem Produkt verbinden.
–Alle Neuentwicklungen einem der Eigenart des jeweiligen Produkts und seiner späteren Verwendung entsprechenden Test- oder Prüfverfahren unterziehen, wobei die Prüfgeräte und Prüfverfahren dem neuesten Stand der Technik entsprechen müssen. Nur dann, wenn höherwertige Interessen es gebieten, ein noch nicht lange genug erprobtes Produkt auf den Markt zu bringen, kann ein Verschulden des Herstellers entfallen.
–Bei Verwendung von Zulieferteilen oder -stoffen prüfen, ob sie für den beabsichtigten Zweck geeignet sind und ob sie den zu stellenden Anforderungen entsprechen.
–Bei Verwendung von Zulieferprodukten sogar durch Zielvorgaben an den Zulieferer sicherstellen, daß dessen Produkte keine sicherheitsrelevanten Mängel aufweisen.
Hat das auf diese Weise entwickelte Produkt trotz Einhaltung aller erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen nur deshalb schädliche Eigenschaften, weil sie nach dem im Produktionszeitpunkt vorhandenen Stand von Wissenschaft und Technik unvermeidbar oder nicht voraussehbar waren, so kann dem Hersteller kein Verschulden angelastet werden und seine Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB entfällt damit. Das sind die in der wissenschaftlichen Diskussion als Entwicklungsfehler gekennzeichneten Fälle.
Fabrikationsbereich
Der Hersteller ist auch dafür verantwortlich, daß die Sicherheit seiner Produkte nicht durch mangelhafte Herstellung beeinträchtigt wird. Der Hersteller muß deshalb den Produktionsablauf so organisieren, daß bei der Produktherstellung keine Bearbeitungs- oder Fabrikationsfehler bzw. Fertigungsfehler eintreten. Die Produktion muß prinzipiell auf Fehlerfreiheit ausgerichtet sein. Sind trotz einwandfreier Organisation des Fertigungsprozesses Fehler nicht vermeidbar oder sind menschliche Unzulänglichkeiten nicht ausschließbar, dann muß der Hersteller dafür sorgen, daß das Produkt einer sorgfältigen Fertigungskontrolle unterzogen wird. Dieser Verpflichtung kann der Hersteller nachkommen durch Kontrolle des Fertigungsablaufs oder durch Kontrolle des fertigen Produkts (z.B. Druckprüfungen, Untersuchungen auf Betriebssicherheit, Sichtkontrolle usw.). Es können sogar aufwendige Kontrollverfahren (z.B. Röntgenkontrolle) nötig werden. Der Hersteller eines Endprodukts muß ferner prüfen, ob die ihm zugelieferten Produkte fehlerfrei sind.
Instruktionsbereich
Dem Instruktionsbereich kommt eine besondere Bedeutung zu. Das läßt sich daran erkennen, daß hierzu die meisten obergerichtlichen und höchstrichterlichen Entscheidungen ergangen sind. Der BGH hat in zahlreichen Entscheidungen darauf hingewiesen – dies ist ein von ihm eisern befolgter Grundsatz – daß der Hersteller immer dann, wenn bei der Anwendung oder Verwendung des von ihm hergestellten Produkts mit einer Schädigung der Benutzer oder Dritter zu rechnen ist, dafür Sorge zu tragen hat, daß eine ausreichende Belehrung der Benutzer über die möglichen Gefahrenquellen und die Grenzen der Produktanwendung erfolgt. Nur wenn der Hersteller dieser Verpflichtung nachkommt, kann er ein ihm bekanntes oder erkennbares Produktrisiko auf den Verwender verlagern.
Der BGH hat allerdings auch Grenzen für die Instruktionspflicht gesetzt.
Oberstes Prinzip für den Umfang der Instruktionspflicht ist: „Was auf dem Gebiet allgemeinen Erfahrungswissens der in Betracht kommenden Abnehmerkreise liegt, braucht nicht zum Inhalt einer Gebrauchsbelehrung gemacht zu werden“. Dasselbe gilt für eine offen vor Augen liegende Gefahrenquelle. Denn auch die Instruktionspflichten des Herstellers bestehen nur im Rahmen der Verbrauchererwartung. Kennt oder sieht der Verwender eines Produkts bestimmte Produktgefahren bzw. -risiken, dann kann er keine spezielle Belehrung darüber seitens des Herstellers erwarten.
Von diesem Grundsatz hat sich der BGH bisher immer leiten lassen, wenn er die Frage entscheiden mußte, ob ein Warenhersteller verpflichtet war, seinem Produkt Gebrauchs- oder Warnhinweise beizugeben. Der BGH hat deshalb auch die Revision gegen ein Urteil des OLG Düsseldorf nicht angenommen, in dem es das OLG nicht für erforderlich hielt, Verpackungen von Stahlnägeln mit einem Hinweis des Herstellers zu versehen, der alle denkbaren Gefahren, die sich aus dem Gebrauch der Nägel ergeben, aufzeigt, z.B. das Absplittern von Nagelköpfen beim Einschlagen in einen Mauerstein. Entgegen einer teilweise polemisch geführten Kritik an der BGH-Rechtsprechung zu den Instruktionspflichten hat der BGH diese in den letzten Jahren in keiner Weise verschärft.
Eine weitere Grenze für die Instruktionspflicht hat der VI. Senat in dem Urteil vom 7.7.1981 hinsichtlich eines absolut bestimmungswidrigen Gebrauchs gezogen. Er entschied in einem Fall, in dem der 15-jährige Sohn eines Kältemechanikermeisters ein Kältemittel zum Sniffing verwendete, daß Warn- und Hinweispflichten im allgemeinen nur gelten, soweit ein bestimmungsgemäßer Gebrauch des Erzeugnisses in Frage steht. Er fügte hinzu: „Jenseits dieser Erwägungen … müssen die der Produkthaftpflicht eigentümlichen Hinweis- und Warnpflichten dort aufhören, wo die Verwendung des Erzeugnisses, die zum Schaden führen kann, … mit dem Produktzweck überhaupt nichts mehr zu tun hat.“
Diese Grenzen für die Instruktionspflicht werden nicht etwa dann wieder eingerissen, wenn Minderjährige oder sonst unerfahrene Personen während ihrer Ausbildung mit Industrieprodukten in Berührung kommen können. In dem Sniffing-Fall hat der BGH auch diese Frage entschieden, indem er ausführte: „Ihnen die vielen modernen Arbeitsmitteln innewohnende Gefährlichkeit bei unsachgemäßem Gebrauch rechtzeitig und eindrücklich bewußt zu machen, ist Sache des Ausbilders; es würde zu einer unzumutbaren Belastung des Wirtschaftslebens führen, wenn man unter diesem Gesichtspunkt den Herstellern noch zusätzliche Warn- und Aufklärungspflichten auferlegen wollte.“ Hier wird also das Produktrisiko auf die Ausbilder verlagert.
Produktbeobachtungsbereich
Auch die Pflicht zur Produktbeobachtung ist abgeleitet aus der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht. Denn nur wenn der Hersteller die Bewährung seiner Produkte in der Praxis überprüft, dann ist er in der Lage, ihm bislang unbekannt gebliebene Gefahren rechtzeitig zu erkennen und daraus entsprechende Konsequenzen zu ziehen.
Die Produktbeobachtungspflicht muß also bestehen, um eine Lücke im Rechtsschutz zu vermeiden. Im Rahmen einer Verschuldenshaftung ist es zwar unumgänglich, daß der Verwender das Risiko einer auch für den Hersteller nicht erkennbaren Produktgefahr zu tragen hat. Wird sie aber nach Inverkehrgabe des Produkts erkennbar, dann ist es Sache des Herstellers, für die Gefahrabwendung zu sorgen. Der BGH hat deshalb den Hersteller der Allgemeinheit gegenüber für verpflichtet erachtet, seine Produkte nach der Inverkehrgabe sowohl auf noch nicht bekannte schädliche Eigenschaften hin zu beobachten, als sich über deren sonstige, eine Gefahrenlage schaffenden Verwendungsfolgen zu informieren.
Erforderlich ist grundsätzlich eine sog. aktive Produktbeobachtung mit der Einrichtung einer Abteilung, welche Kundenbeschwerden, Mängelanzeigen, Testberichte, Veröffentlichungen wissenschaftlicher Erkenntnisse, Ergebnisse von Fachveranstaltungen und sicherheitsrelevante Änderungen bei Konkurrenzprodukten sammelt und auswertet.
Inzwischen hat der BGH die Produktbeobachtungspflicht auch ausgedehnt auf Gefahren, die aus der Kombinierung eines Produkts mit Produkten anderer Hersteller entstehen können, wie dies in gewissem Sinne bereits aufgrund gesetzlicher Anordnung für pharmazeutische Unternehmer (§§ 11 Abs. 1 Nr. 7 und 11a Abs. 1 Nr. 7 AMG) und Hersteller medizinisch-technischer Geräte (§ 4 bs. 1 MedGV) galt.
Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB
Das Haftungsrisiko ist relativ hoch, wenn der Hersteller ein sogenanntes Schutzgesetz verletzt. Nach § 823 Abs. 2 BGB ist schadenersatzpflichtig, wer gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Diese Vorschrift hat in jüngerer Zeit auch im Produkthaftpflichtbereich eine erhebliche Bedeutung gewonnen. Sie wird wahrscheinlich in Zukunft noch größer werden, da unser Wohlfahrtsstaat immer neue Gesetze schafft, die als Schutzgesetze in Betracht kommen.
Die Rechtsprechung hat in den letzten Jahren eine Reihe von Bestimmungen, die das Inverkehrbringen von Industrieprodukten betreffen, als Schutzgesetze anerkannt. Dazu gehören z.B. die dem § 5 des jetzigen Arzneimittelgesetzes entsprechende Vorschrift des § 6 AMG 1961, die das Inverkehrbringen bedenklicher Arzneimittel verbietet, sodann § 8 LMBG, der es u.a. verbietet, Stoffe, deren Verzehr geeignet ist, die Gesundheit zu schädigen, als Lebensmittel in den Verkehr zu bringen, ferner § 3 Abs.1 GSG über das Inverkehrbringen und Ausstellen technischer Arbeitsmittel und § 3 Nr. 2 b des Futtermittelgesetzes, der es verbietet, Futtermittel in den Verkehr zu bringen, wenn sie bei bestimmungsgemäßer und sachgerechter Verfütterung geeignet sind, die Gesundheit von Tieren zu schädigen.
Das Verschulden muß sich, wenn eine Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB in Betracht kommen soll, nur auf die Verletzung der Schutznorm beziehen, nicht dagegen auf die konkrete Verletzung eines bestimmten Schutzgutes. Es ist daher auch nicht das Bewußtsein erforderlich, daß ein bestimmtes, in Verkehr gebrachtes Produkt tatsächlich schädigende Eigenschaften besitzt. Es reicht vielmehr der schuldhafte Verstoß gegen die Verhaltensvorschrift aus, also z.B. das fahrlässige Inverkehrbringen von Stoffen als Lebensmittel, deren Verzehr objektiv geeignet ist, die Gesundheit zu schädigen. Die Haftung wird dann dadurch begründet, daß tatsächlich bei einem Verbraucher eine Gesundheitsschädigung eintritt. Das ist eine wesentliche Erleichterung für den Geschädigten und gleichzeitig eine erhebliche Risikoverlagerung auf den Hersteller. Das Produktrisiko und damit auch das Haftungsrisiko liegt daher regelmäßig bei dem Hersteller, wenn er zumindest fahrlässig eines der zahlreichen Schutzgesetze verletzt.
II. Beweisprobleme bei der Durchsetzung der Ansprüche aus § 823 BGB
Nach deutschem Recht muß jeder, der einen Anspruch geltend macht, beweisen können, daß die anspruchsbegründenden Voraussetzungen vorliegen. Bei Ansprüchen aus § 823 Abs. 1 BGB ist dies besonders schwer, da der Geschädigte nicht nur beweisen muß, daß er an einem der darin erwähnten Rechtsgüter verletzt worden ist, sondern auch die schädigende Handlung, bei Produktschäden z.B. Produktfehler und Organisationsmängel, sowie den Ursachenzusammenhang zwischen dieser Handlung und der Rechtsgutverletzung bzw. dem Schaden, und schließlich noch, daß er vorsätzlich oder fahrlässig verletzt wurde. Dieser Beweis ist für einen Produktgeschädigten bei unserer heutigen industriellen Massenproduktion und der rapiden Entwicklung von Wissenschaft und Technik und der Erkenntnisse über Produktgefahren kaum zu erbringen.
Die deutsche Rechtsprechung hat die Beweisnot des Geschädigten seit langem erkannt und versucht – soweit es möglich ist – für ihn Beweiserleichterungen zu schaffen.
Ansprüche aus § 823 Abs. 1 BGB. Beweis der Pflichtwidrigkeit und des Verschuldens
Hier kommt die Rechtsprechung dem Geschädigten seit dem Urteil des Bundesgerichtshofes in einem Prozeß um Schaden aus der Verwendung eines verunreinigten Impfstoffes gegen die Hühnerpest, dem sogenannten Hühnerpest-Urteil, zu Hilfe. Im Wege richterlicher Rechtsfortbildung hat der BGH damals entschieden, daß sich bezüglich der Pflichtwidrigkeit im Produkthaftpflichtprozeß die Beweislast umkehrt, wenn der Geschädigte nachgewiesen hat, daß sein Schaden im Organisations- und Gefahrenbereich des Herstellers ausgelöst worden ist, und zwar durch einen objektiven Mangel oder Zustand der Verkehrswidrigkeit.
Voraussetzung für die Beweislastumkehr ist, daß der Geschädigte zur Überzeugung des Gerichts dargetan hat, daß die Ware einen Fehler aufweist, der bereits im Zeitpunkt der Auslieferung aus dem Herstellerwerk vorhanden war, und daß dadurch der Schaden ausgelöst worden ist. Der BGH meint, daß dann, wenn der Geschädigte diesen Beweis geführt hat, der Produzent näher dran sei, den Sachverhalt aufzuklären und die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen, da er die Produktionssphäre überblicke und den Herstellungsprozeß sowie die Auslieferungskontrolle der fertigen Produkte organisiere. Die Rechtsprechung hierzu ist in den letzten Jahren immer weiter verfestigt worden. Unentschieden war lange Zeit, ob die Beweislastumkehr auch zu Lasten von Klein- und Familienbetrieben gilt, und ob der Geschädigte bei den sogenannten ursprünglichen Instruktionsfehlern vom Beweis des Herstellerverschuldens entlastet ist; unklar war auch, ob die Beweislastumkehr zu Lasten von Mitarbeitern des Unternehmers greift.
Beweislastumkehr zu Lasten von Klein- und Familienbetrieben
Die Frage, ob auch Klein- und Familienbetriebe mit der Beweislastumkehr belastet werden, hat der BGH sowohl in seiner Entscheidung im Hühnerpest-Fall als auch noch im Urteil vom 30.4.1991 über die Haftung für eine AIDS-Infektion durch Bluttransfusion offen gelassen.
In einem Urteil um Schadensersatz wegen einer Salmonellenvergiftung von Hochzeitsgästen durch ein Hochzeitsessen vom 19.11.1991 hat er sich dann aber durchgerungen und auch von dem Kläger, der von dem Inhaber eines Klein- oder Familienbetriebes Schadensersatz forderte, nicht den Nachweis eines Verschuldens bezüglich des Salmonellenbefalls der Nachspeise zum Hochzeitsessen verlangt. Dem BGH war dabei bewußt, daß es sich bei der Beweislastumkehr um eine Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel handelt.
Obwohl Kleinbetriebe in vielen Fällen nicht über die Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich der weiterverarbeiteten Produkte verfügen wie industrielle Großbetriebe, hat der BGH dennoch eine einheitliche Anwendung der Beweislastumkehr auch zu Lasten von Kleinbetrieben befürwortet. Dafür sprachen vor allem drei Gründe, die auch in dem Urteil erwähnt sind: Die Inhaber von Klein- und Familienbetrieben genießen auch bei der mit der Deliktshaftung konkurrierenden Haftung aus § 1 ProdHaftG keine Sonderstellung, so daß es dem BGH nicht angebracht erschien, bei der Deliktshaftung jetzt noch zwischen Groß- und Mittelbetrieben einerseits und Kleinbetrieben andererseits zu differenzieren. Es gibt keine brauchbaren Kriterien zur sinnvollen Abgrenzung zwischen Klein- und Mittelbetrieben. Schließlich ist von dem Inhaber eines Kleinbetriebs der Entlastungsbeweis wegen der Überschaubarkeit seines Betriebes relativ leicht zu erbringen, zumal er sich bei ihm zugelieferter Produkte grundsätzlich immer entlasten kann, wenn er diese Produkte von einem ihm als zuverlässig bekannten Lieferanten bezieht.
Beweislastumkehr bei ursprünglichen Instruktionsfehlern
In einem der Apfelschorf-Fälle hatte der BGH entschieden, daß bezüglich eines Instruktionsfehlers eine Beweislastumkehr zu Lasten des Herstellers im allgemeinen dann nicht erfolgt, wenn feststeht, daß dem Hersteller für den Zeitpunkt des Inverkehrbringens seines Produkts kein Schuldvorwurf wegen einer unzureichenden Instruktion der Verwender zu machen ist, es vielmehr nur darum geht, ob er aufgrund neuer Erkenntnisse verpflichtet gewesen wäre, nachträglich noch die potentiellen Verwender zu warnen oder ihnen Gebrauchsempfehlungen zu erteilen. Die Ausführungen zur Beweislastumkehr waren eindeutig auf den Verstoß gegen eine erst nachträglich entstandene Warnpflicht beschränkt.
Später hat der VI. Zivilsenat des BGH aber ausdrücklich entschieden, daß bezüglich eines bereits beim Inverkehrbringen des Produkts begangenen Instruktionsfehler nichts anderes gilt als bei bezüglich der Fabrikations- und der Instruktionsfehler. Insoweit hat der Geschädigte lediglich den Beweis zu führen, daß eine nicht erfolgte Instruktion des Verbrauchers nötig bzw. eine erteilte Instruktion objektiv unrichtig war. Es ist dann Sache des Herstellers, entsprechende Tatsachen vorzutragen und zu beweisen, aus denen sich ergibt, daß die nicht mitgeteilten Gefahren für ihn nicht erkennbar waren, ihn also kein Verschulden trifft.
Beschränkung der Beweislastumkehr auf den Inhaber des Unternehmens
Für Produktschaden kann gelegentlich auch einmal ein Konstrukteur, ein Produktionsleiter oder derjenige Mitarbeiter des Herstellers verantwortlich sein, der für die Abfassung von Gebrauchsanweisungen bzw. Warnhinweisen zuständig war. Selbst ein Monteur des Herstellers, der eine Anlage fehlerhaft installiert, oder ein Arbeiter am Fließband, der ein Sicherheitsteil bei einer Maschine oder einem Auto falsch montiert, kann dem Geschädigten nach § 823 Abs. 1 BGB haften, falls sein Fehler zu einem Schaden führt und ihn ein Verschulden trifft. Problematisch ist jedoch, ob auch solche Mitarbeiter des Herstellers mit dem Beweis ihrer Schuldlosigkeit belastet sind, oder ob ihnen der Geschädigte ein Verschulden nachzuweisen hat. Der BGH hat seine diesbezügliche Ansicht klargestellt: Die Beweislastumkehr trifft grundsätzlich nur den Unternehmer selbst. Sie gilt nicht für Betriebsangehörige, die nicht Herr des Organisationsbereiches sind; es sind nicht einmal alle leitenden Mitarbeiter von der Beweislastumkehr betroffen. Nur in ganz besonderen Einzelfällen kann etwas anderes gelten, nämlich dann, wenn der Betriebsangehörige aufgrund seiner besonderen Stellung im Betrieb als Repräsentant des Unternehmens betrachtet werden kann, vor allem wenn er zusätzlich noch kapitalmäßig, etwa als Kommanditist, an dem Herstellungsunternehmen beteiligt ist.
Fehler- und Kausalitätsbeweis
Nach wie vor hat der Produktgeschädigte den Fehler- und den Kausalitätsbeweis zu erbringen. Im Hühnerpest-Fall hat der BGH ausgeführt, es stehe nicht in Frage, daß der Geschädigte auch bei der Produzentenhaftung nachzuweisen hat, daß der Schaden durch einen Fehler des Produkts entstanden ist und daß dieser Fehler bereits im Zeitpunkt der Auslieferung des Produkts vorhanden war. Beweiserleichterungen gab es im wesentlichen nur durch den Anscheinsbeweis.
Der Anscheinsbeweis kommt nur in Betracht, wenn es sich um einen typischen Geschehensablauf handelt, der unter Verwertung allgemeiner Erfahrungssätze, insbesondere der Lebenserfahrung, die Bejahung eines Fehlers oder des ursächlichen Zusammenhanges nahelegt und damit dem Richter die Überzeugung in vollem Umfang begründet. Auch hinsichtlich der Kausalität zwischen einer unterlassenen Belehrung über die Gebrauchsfähigkeit eines Produkts bzw. einer Warnung vor Produktgefahren und dem eingetretenen Schaden ist der BGH nach wie vor sehr streng in seinen Anforderungen an die Beweisführung durch den Geschädigten. Hier verlangt er grundsätzlich sogar den Nachweis, daß pflichtgemäßes Verhalten den Schaden mit Sicherheit verhindert hätte.
Wenn jedoch auf bestimmte Gefahren deutlich und für den Adressaten plausibel hinzuweisen war, dann besteht nach der neueren Rechtsprechung des BGH eine tatsächliche Vermutung dafür, daß, wenn ein solcher Hinweis erfolgt wäre, diese Warnung auch beachtet worden wäre.
Beweis für die Entstehung des Fehlers im Herstellungsbereich
In einem Urteil vom 7. Juni 1988 zu einer geplatzten Mehrweg-Limonadenflasche ist die Beweissituation für den Geschädigten beim Fehlerbeweis in gewisser Weise verbessert worden, und zwar für den Beweis, daß ein bestimmter – unstreitiger oder bereits nachgewiesener Produktfehler – im Verantwortungsbereich des Herstellers entstanden ist. Nach Auffassung des BGH kann unter besonderen Umständen für diese Frage zugunsten des Geschädigten eine Beweislastumkehr in Betracht kommen, nämlich dann, wenn der Hersteller aufgrund der ihm im Interesse des Verbrauchers auferlegten Verkehrssicherungspflicht gehalten war, das Produkt bzw. bestimmte Teile des Produkts auf ihre einwandfreie Beschaffenheit hin zu überprüfen und den Befund zu sichern, er dieser Verpflichtung aber nicht nachgekommen ist.
In dieser Entscheidung hat der BGH die Prüfungs- und Befundsicherungspflicht für die Fälle bejaht, in denen aufgrund der Eigenart der Produktion oder des Produkts besondere Gefahren entstehen und sich deshalb bei unterlassener Produktkontrolle das typische Produktrisiko verwirklichen kann, wenn der Hersteller also, wie bei einer Mehrweg-Sprudelwasserflasche ein Produkt in den Verkehr bringt, das wegen seiner Art (hier: Glasbehälter, der mehrfach verwendet wird und unter starkem Innendruck steht) eine besondere Schadenstendenz aufweist. Diese Rechtsprechung hat der BGH in späteren Entscheidungen bestätigt und näher präzisiert.
Verwirklicht sich nach unterlassener Produktkontrolle in diesen besonderen Fällen ein typisches Risiko des Produkts und steht fest, daß der Produktfehler nicht in der Sphäre des Verbrauchers entstanden sein kann, sondern entweder beim Hersteller oder dessen Vertragshändler, dann muß der Hersteller beweisen, daß der Fehler nicht aus seiner Sphäre kommen kann. Voraussetzung für diese Beweiserleichterung ist nicht, daß durch die Befundsicherung Explosionen von Getränkeflaschen in Verbraucherhand völlig ausgeschlossen werden; es genügt, daß dadurch eine signifikante Verringerung des Berstrisikos erfolgt.
Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB
Auch bei der Geltendmachung von Ansprüchen aus § 823 Abs. 2 BGB spielt das Beweisrisiko eine erhebliche Rolle. Hier muß der Geschädigte zunächst den Beweis dafür führen, daß der Hersteller ein Schutzgesetz verletzt hat, daß er also z.B. Stoffe als Lebensmittel in den Verkehr gegeben hat, deren Verzehr geeignet war, die Gesundheit zu schädigen (§ 8 Nr. 2 LMBG). Außerdem muß der Geschädigte beweisen, daß zwischen der Schutzgesetzverletzung und dem Schadenseintritt ein ursächlicher Zusammenhang besteht und daß den Hersteller ein Schuldvorwurf trifft. Hier gibt es keine Beweislastumkehr. Die Rechtsprechung hat für alle diese Punkte als Beweiserleichterung für den Geschädigten lediglich den auch sonst im Zivilprozeß anerkannten Anscheinsbeweis zugelassen. Er greift jedoch nur dann, wenn es sich bei der Beweisfrage um einen typischen Geschehensablauf handelt, der unter Verwertung allgemeiner Erfahrungssätze, insbesondere der Lebenserfahrung (aber auch der wissenschaftlichen Erfahrung), dem Richter die Überzeugung begründet.
B. Haftung aus dem Produkthaftungsgesetz
Das neue deutsche Produkthaftungsgesetz hat in der deutschen Rechtsprechung bisher noch keine sehr wesentliche Rolle gespielt. Nur zu wenigen Fragen der Anspruchsvoraussetzungen hat die deutsche Rechtsprechung bisher Stellung genommen.
Fehlerhaftes Produkt
Voraussetzung der Haftung ist ein fehlerhaftes Produkt i.S. des § 3 ProdHaftG, das der Hersteller in den Verkehr gegeben hat.
Das kann z.B. der Fall sein, wenn eine Holzschutzfarbe dunkler ausfällt, als auf der Verpackung angegeben, und auch dann, wenn bei der Produktherstellung bestimmte, in technischen Normen enthaltene Mindeststandards nicht eingehalten werden, und zwar sogar dann, wenn der Hersteller ein Sonderzubehör gegen Bezahlung anbietet, durch das die Produktgefahren gemindert werden.
Rechtsgüterschutz
Schadensersatz erlangt ein Geschädigter nur, wenn eines der in § 1 ProdHaftG erwähnten Rechtsgüter verletzt worden ist.
Für die Haftungsvoraussetzung der Beschädigung einer Sache genügt nach dem BGH eine Einwirkung auf die Sache, durch die ihre bestimmungsgemäße Brauchbarkeit nicht nur geringfügig beeinträchtigt wird, z.B. die kaum behebbare Verschmutzung von Wasserleitungsrohren durch ein Gewindeschneidemittel.
Negative Anspruchsvoraussetzungen des § 1 Abs. 2 und 3 ProdHaftG
Wenn negative Anspruchsvoraussetzungen des § 1 Abs. 2 und 3 ProdHaftG vorliegen, ist die Schadensersatzpflicht ausgeschlossen. Das wäre z.B. der Fall, wenn nach den Umständen davon auszugehen wäre, daß das Produkt den schadensverursachenden Fehler noch nicht hatte, als der Hersteller es in den Verkehr brachte (§ 1 Abs. 2 Nr. 2) oder wenn der Fehler nach dem Stand der Wissenschaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte (§ 1 Abs. 2 Nr. 5). Die letztgenannte Voraussetzung kann nur bei einem Konstruktionsfehler erfüllt sein, nicht aber bei einem Fabrikationsfehler. Die Ausreißer-Haftung sollte, wie der BGH in dem zweiten von ihm entschiedenen Mineralwasserflaschen-Fall entschieden hat, durch das ProdHaftG nicht ausgeschlossen werden.
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