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Materialgruppenmanagement – Cherry-Picking aus dem Einkaufsvolumen?

Managementtechniken und -konzepte
Materialgruppenmanagement – Cherry-Picking aus dem Einkaufsvolumen?

Nicht aus der Arbeitsteilung, sondern in der Auseinandersetzung wachsen die Synergien. (Führungsweisheit). „Dezentralisierung schwächt die Schlagkraft des Einkaufs“ lesen wir in einem Fachartikel, der den klassischen Einkauf zu einem zentralen Dienstleistungscenter für Problemlösungen mutieren sieht.

Günter Hirschsteiner

Ist nun alles falsch, was bisher zur Dezentralisierung geführt hat:
•Die Flexibilität und Reagibilität der bedarfsnahen Beschaffung,
•die pragmatische Nähe des Einkaufs zur Produktion,
•seine Integration in die Wertschöpfungsprozesse,
•die Delegation von Verantwortung an die operative Peripherie,
•die enge Zusammenarbeit zwischen Einkauf und Entwicklung,
•die Vorteile der schnellen und direkten Kommunikation?
Alle diese Argumente gelten selbstverständlich besonders für geographisch verteilte Standorte von Abnehmerbetrieben oder Verbundunternehmen. Mit einem eigenen lokalen und autonomen Einkauf kann ein individueller Bedarf angemessener versorgt, auf spezifische Herausforderungen besser reagiert und der Koordinationsaufwand niedrig gehalten werden.
Zentralisierung versus Dezentralisierung
Die Nachteile der dezentralen Organisation ergeben sich bei der Aufteilung eines großen Bedarfsvolumens durch unterschiedliche und unkoordinierte Behandlung der gleichen Warengruppen und Lieferer, verschiedene Preise und Konditionen für ähnliche Produkte und vielleicht auch bei den selben Lieferern, kleinere Losmengen und eine größere Variantenvielfalt, viele Lieferer und damit besonders im C-Artikel-Bereich relativ hohe Logistikkosten, aber auch durch die unterschiedlich verteilten Kompetenzen. Eine systematische Zusammenführung der lokalen Bezüge zur Nutzung von Volumenvorteilen erfolgt kaum und beschränkt sich bestenfalls auf einzelne Initiativen.
Auch die modernen Konzepte der Wertschöpfungspartnerschaft oder des Supply Chain Managements lassen sich dezentral weniger effizient realisieren. Die Vorteile einer Zentralisierung der Beschaffungsaufgaben ergeben sich
•aus der Bündelung der dezentral anfallenden Bedarfsmengen,
•besonders bei Material- und Lieferer-Überschneidungen,
•durch Optimierung von Disposition und Losbildung,
•mit einer fachlichen und sachlichen Spezialisierung auf Marktsegmente, Technologien oder Produkte,
•durch zentrale Liefererkontakte und zusammengefasste Einkaufsvorgänge,
•mit einem koordinierten Beschaffungsmarketing.
Im Allgemeinen und mit Einschränkungen gilt, dass für Einzelunternehmen die Zentralisierung und für Unternehmen mit mehreren Betrieben eine moderate Zentralisierung der strategischen Aufgaben vorteilhafter ist. So wird meist mit individuellen Regelungen versucht, die Vorteile beider Organisationsprinzipien mehr oder weniger pragmatisch zu kombinieren: Strategisch-kaufmännische Aufgaben wie Marktuntersuchungen und Rahmenvereinbarungen für mehrfach benötigte Güter werden zentral ausgehandelt und vereinbart. Die dezentralen Betriebe sind für die taktisch-operativen Aufgaben der Disposition, Beschaffung und Expediting sowie für ihren Bedarf zuständig.
Wenn die dezentralisierten Einheiten ein hohes Einkaufsvolumen erreichen, müssen die Vorteile beider Organisationen organisationsübergreifend aktiviert werden, was bei den globalen Unternehmen bis zu interkulturellen Beschaffungsteams führen kann.
Dezentral organisierte Funktionen brauchen eine systematische und ortsübergreifende Koordination. Das war der klassische Zentraleinkauf, den es allerdings schon lange nicht mehr als zentralistisch organisierte Verwaltungseinheit gibt. Seine Aufgaben sind heute mehr die Befassung mit grundsätzlichen Fragen, die Formierung der Einkaufspolitik und die Vereinbarung von Rahmenverträgen. Hier soll ein angemessenes Materialgruppenmanagement ansetzen und die Vorzüge der beiden Strukturen realisieren und koordinieren.
Materialgruppenmanagement
Organisatorisch funktioniert das MGM mit Teams, denen eine definierte Beschaffungsverantwortung für bestimmte Materialgruppen übertragen wird. Die Teams werden mit Mitarbeitern aus den Bereichen Einkauf, Konstruktion, Fertigungsvorbereitung und Qualitätssicherung je nach ihren definierten Aufgaben gebildet. Zu ihren Aufgaben gehören auch die Vorbereitung von Make-or-buy-Entscheidungen, Wertanalysen, Liefererleistungsbewertungen, Marktuntersuchungen und andere.
Centers of Competence (COC) sind die nicht zentral sondern jeweils am Standort mit der besten Fach- und Marktkompetenz organisierten MGM-Teams. Die Materialgruppen werden durch Entscheidung dieser Teams aus dem Beschaffungssortiment der Materialpositionen ausgewählt und einzelnen MGM-Teams zugeordnet. In dieser Weise wird das MGM zum lernenden System, das sich durch Kommunikation und Interaktion selbst steuern soll.
Das Konzept des MGM basiert auf einer teamorientierten Zusammenarbeit zwischen Entwicklung, Beschaffung, Produktion und Logistik. Es ergänzt und koordiniert die bestehenden Einkaufsfunktionen. Das Ziel ist, Synergien sowie Vorteile durch Bedarfsbündelung, Rationalisierung, Standardisierung und die bessere Nutzung und Förderung der vorhandenen Einkaufskompetenzen zu realisieren.
Die zentralen Managementansätze des MGM sind
•Standardisierung des Beschaffungssortiments durch Reduktion der Typenvielfalt,
•Koordination des Einkaufsmanagements durch Bündelung des Bedarfs und Nutzung von Volumenvorteilen,
•Liefererauswahl durch breitere und intensivierte Marktuntersuchung,
•Liefererförderung und Kooperationsmodelle,
•systematisches Preis- und Konditionenmanagement,
•Ausbau und Nutzung von Verhandlungskompetenz.
Ein definiertes Materialgruppenmanagement soll die Vermischung von strategischen und operativen Aufgaben, die oft zur Vernachlässigung der strategischen und längerfristigen Akzente geführt hat, konsequent vermeiden. Die Trennung von kreativ-strategischen und operativ-administrativen Aufgaben wird von den unterschiedlichen Konzepten prinzipiell unterstützt.
Die hauptsächlichen Verfahrensschritte im MGM sind
•die Klassifizierung des Einkaufssortiments nach Materialgruppenschlüssel,
•die Analyse des Beschaffungsvolumens nach Lieferer- und Materialgruppenumsätzen,
•die Feststellung des Überschneidungsvolumens im Bedarfssortiment,
•Marktuntersuchungen und Marktrecherchen,
•Preis- und Konditionenvergleiche,
•Optimierung der Preise, Liefer- und Zahlungsbedingungen und andere,
•Festlegung der Lieferer und die Vertragsgestaltung,
•Einrichtung eines Informationssystems über Lieferer, zuständige Einkäufer, Vereinbarungen, Verträge und relevante Informationen.
Alle Informationen über die Materialgruppen müssen auch dezentral und auf der Mitarbeiterebene verfügbar sein. In der Folge sind die Strategien zu überprüfen, abzustimmen und die Beteiligten zu schulen. Auch wenn dies verlockend ist, sollten nicht nur Projekte mit messbaren Ergebnissen, sondern auch solche mit strategischen und langfristigen Wirkungen behandelt werden.
Standardisierung und Materialgruppen
Die Struktur eines Beschaffungsvolumens ist desto vielschichtiger, je breiter das Technologie- oder Produktspektrum ist, das versorgt werden soll. Das Problem bei der Einteilung in Materialgruppen ist, die wirklichen Überschneidungen zu erkennen: Kabel ist nicht immer gleich Kabel und so weiter, beispielsweise wenn man von den branchentypischen Besonderheiten der Anwender ausgeht.
Über Artikelbezeichnungen und Materialgruppenschlüssel muss eine einheitliche Identifikation sowie Transparenz und die Vergleichbarkeit hergestellt werden: Gewachsene Materialgruppenschlüssel sind oft mehr nach Verwendungskriterien aufgebaut oder sie müssen bei Unternehmensfusionen angepasst werden.
Materialstandardisierung bedeutet Vereinheitlichung nach den Eigenschaften und Auflösung der Vielfalt der Komponenten. Das ist allerdings auch ohne MGM und eigentlich immer aus technischen und wirtschaftlichen Erfordernissen geboten, aber auch durch die betriebliche Entwicklung, die Einführung von IT-Programmen oder durch Unternehmensfusionen.
Normung bezieht sich auf Einzelteile durch Festlegung von Form, Abmessungen und Qualität. Mit Typung wird die Vereinheitlichung von Erzeugnissen oder Baugruppen bezeichnet.
Für die Beschaffung ergeben sich diese Vorteile: Verbesserung der Versorgung durch handelsübliche Güter, Erleichterung der Abwicklung durch allgemein akzeptierte Bezeichnungen, Vereinfachung der Bevorratung und Logistik durch Reduzierung der Vielfalt, Verbilligung der Güter durch einheitliche Qualität und breite Verwendung.
Für die technologische und betriebswirtschaftliche Behandlung müssen Objekte und Bezeichnungen (fast immer als Nummer) eine eindeutige Zuordnung erhalten. Mit der Nummerung oder Verschlüsselung sollen Materialien oder Teile, die sachlich zusammengehören, auch in eine einheitliche Ordnung gebracht werden.
Das wird meist mit Systemen von sprechenden, d.h. technische und betriebswirtschaftliche Informationen enthaltenden und nicht sprechenden, d.h. ausschließlich identifizierenden, Schlüsseln gemacht. Mit der Nummerung sollen Identifikations-, Klassifikations- und Informationsaufgaben erfüllt werden. Einige Unternehmen verwenden statt eigener Systeme den Materialgruppenschlüssel des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden mit über 400 Materialgruppen.
Neben den Identnummern und Materialgruppen werden für die Aufgaben des MGM noch weitere Gliederungen gebraucht, u.a. nach Priorität z.B. mit Portfoliomethoden, nach Wertigkeit z.B. mit ABC-Analysen, nach Anforderern bzw. Versorgungsstellen, nach Verwendung, z.B. Produktionsmaterial oder Betriebsbedarf.
Neben der Standardisierung sollte bei der Einführung eines MGM-Konzeptes auch das Beschaffungssortiment technisch und wirtschaftlich optimiert werden durch Auslese, Bereinigung und Verdichtung. Das Ziel ist, ein übersichtliches und homogenes Sortiment zu erhalten, das technische und wirtschaftliche Vorteile realisiert.
Schnittstellenmanagement
Die organisatorische Aufgabenteilung schafft zwangsläufig Schnittstellen in den Strukturen und den Abläufen der Betriebe. Die Koordination und die Synthese der arbeitsteiligen Prozesse muss durch angemessene Information, Führung, Kommunikation und mit den notwendigen Einrichtungen dazu hergestellt werden. Nach unserem heutigen prozessorientierten Verständnis sind die organisatorischen Schnittstellen weniger als Trennungen, sondern mehr als Überschneidungen zu gestalten.
Zu den formell organisierten kommen auch noch die nicht organisierten, zufällig sich ergebenden, informellen Kontakte und Beziehungen. Auch sie müssen geführt und koordiniert werden, damit sich keine ungewollten und abweichenden Strukturen bilden.
Durch organisatorische Maßnahmen und durch angemessene Kommunikation muss das Schnittstellenmanagement des MGM Intransparenzen, Kompetenzkonflikte, Verzögerungen, Brüche und andere Nachteile verhindern und die Interaktion und Weiterentwicklung fördern.
Das ist den besonderen Gegebenheiten und den Absichten anzupassen. Soweit ergeben sich für verschiedene Unternehmen auch unterschiedliche Organisationsmodelle, zum Beispiel: Die Siemens AG hat drei Bündelungsmodelle, abhängig vom Formalisierungsgrad des Bedarfs und der Verteilung der Verbraucher, entwickelt:
•Lead-Buyer-Konzept: Bei niedrigem Formalisierungsgrad und wenigen Anforderern wird die Vertragsgestaltung einem Lead Buyer übertragen. Es ist regelmäßig der Einkäufer mit dem größten Bedarf oder mit dem bestgeeigneten fachspezifischen Wissen dieser Materialgruppe (Beispiel: A-Positionen).
•Purchasing Council: Für ausgewählte Materialgruppen werden Einkaufsteams gebildet, die verbindliche Verträge für alle Beschaffer im Unternehmen abschließen.
•Purchasing Service: Bei einem hohen Formalisierungsgrad und vielen Abnehmern wird eine Purchasing-Service-Funktion mit der Beschaffung dieser Materialgruppen beauftragt. Sein Aufgabenumfang wird situativ definiert und kann vom Abschluss von Rahmenvereinbarungen bis zur logistischen Abwicklung gehen (Beispiel: C-Positionen).
Das Konzept des Materialgruppenmanagements ist primär marktorientiert und soll die internen Voraussetzungen dafür gewährleisten.
Der Beitrag im nächsten Heft behandelt das Thema Fehlteilemanagement.
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