Startseite » Allgemein »

Nie wieder böse Überraschungen

Szenariobasierte Warengruppenstrategien
Nie wieder böse Überraschungen

Jeder Einkauf hat (hoffentlich) eine Strategie für jede Warengruppe. Das Problem ist bloß: Was ich heute habe, kann morgen schon veraltet sein. „Man kann eben nicht in die Zukunft schauen!“, heißt es. Das stimmt nicht. Man kann.

Ein guter Einkäufer hat Angst. Er hat Angst davor, Geld oder einen A-Lieferanten zu verlieren. Er hat Angst vor Rohstoffpreissteigerungen oder exogenen Schocks in der Supply Chain. Deshalb macht er Hedging, Multiple Sourcing, Volumenbündelung, Lieferanten-Audits und andere schöne Dinge, um sein Risiko zu reduzieren und am Ende, an dem andere vor einem Scherbenhaufen stehen, mit einem triumphalen Lächeln zu sagen: „Seht ihr? Das habe ich vorhergesehen!“ Das Problem ist, dass er bei dieser Vorausschau häufig Fehler macht.

Weg vom Heute. Wer zum Beispiel vor fünf Jahren als Hersteller falsch vorausschaute, entwickelte seine PCs und Handys in die falsche Richtung weiter: mehr Rechenpower, bessere Akkus. Dann kamen iPhone, iPad und Tablet. Alles Produkte, die sich eben nicht durch „noch mehr“, sondern durch „komplett neu“ auszeichnen. Die Moral: Wer lediglich das Heute linear in die Zukunft extrapoliert, legt sich auf die Nase, sobald etwas auftaucht, das eine Überraschung darstellt, eine Trendwende, einen Strukturbruch, einen Schwarzen Schwan, eine Wild Card, einen Supply-Chain-Schock oder einen Technologiesprung. Schocks kann man nicht vorhersehen? Mit dem richtigen Tool schon: Szenarioplanung. Im Einkauf heißt sie: szenariobasierte Warengruppen-Strategieplanung. Strategie macht bloß die Unternehmensleitung? Irrtum. Das macht der Warengruppenmanager. Wenn er gut ist.
Wer eine Warengruppe hat, kann und sollte für diese auch Szenarien entwerfen und durchspielen: Was passiert, wenn sich meine Rohstoffpreise verdoppeln? Wenn die Piraten vor Somalia meinen Nachschub kappen? Wenn unser ärgster Konkurrent drei unserer A-Lieferanten übernimmt? Wenn die nächste Ölplattform explodiert? Der nächste Vulkan ausbricht und den Luftfrachtverkehr lahmlegt? Das sind alles keine Hirngespinste, sondern reale Bedrohungen, auf die ein Warengruppenmanager vorbereitet sein sollte – indem er vor Eintritt eines Risikos das jeweilige Szenario schon mal durchspielt. Die meisten machen das nicht. Sie machen Krisenmanagement, wenn die Krise ausbricht. Das ist reaktiv. Der risikobewusste Warengruppenmanager denkt und handelt jedoch proaktiv. Wie macht er das? In nur vier Schritten.
Erstens. Schau zurück, um vorauszuschauen! Wie hat sich Ihre Warengruppe in den letzten fünf Jahren entwickelt? Welche Schocks, welche Krisen, welche Chancen? Was hat sich bewährt und was hätten Sie im Rückblick lieber anders gemacht? Wo stehen Sie heute? Eine Forschergruppe hat vor einiger Zeit zusammen mit Beratern die Szenarioplanung eines großen deutschen Unternehmens begleitet, Warengruppe Stahl. Der erste Schritt, der Blick zurück und auf den Status quo, offenbarte wenig überraschend eine preisbewegte Vergangenheit und eine ressourcenknappe Gegenwart. Beides wurde mit einer ganzen Batterie an Key Performance Indicators (KPI) erfasst: Sie bilden die Basis der Zukunftsprojektion – der zweite Schritt.
Zweitens. Entwickle Zukünfte! Auf Basis der KPIs von Vergangenheit und Gegenwart entwickelte das Projektteam aus Wissenschaftlern, Beratern und Teammitgliedern des Unternehmens 13 Zukunftsthesen zur Stahlbranche. Zum Beispiel: „Wachstum für die Stahlerzeugung gibt es in Zukunft nur noch in Schwellenländern.“ Oder: „Versorgungssicherheit wird wichtiger als der Preis.“ Mit diesen 13 Thesen sah der Warengruppeneinkäufer für Stahl seine Zukunft im Einkauf umfassend beschrieben. Dann ging es ans Einkochen. Das Zukunftsprojektteam bewertete die einzelnen Thesen: Welche der 13 sind die wichtigsten? Die Future Group identifizierte zwei Zukunftstreiber als wesentlich: den Konzentrationsgrad der Anbieter (Treiber Konzentration) und die Entwicklung von Wertstoffen, die Stahl ersetzen könnten (Treiber Substitution). Auf diese beiden zentralen Triebkräfte der Zukunft baute die Gruppe vier Szenarien auf:
  • 1) Hohe Konzentration, geringe Substitution: Dominanz der Stahlbarone
  • 2) Hohe Konzentration, hohe Substitution: Neue Spieler, neue Chancen
  • 3) Schwache Konzentration, schwache Substitution: Erstarrung des Marktes
  • 4) Schwache Konzentration, starke Substitution: Der Wirbelsturm
Mit dieser Eingrenzung sieht die normalerweise nebulöse und endlos variable Zukunft des Rohstoffs Stahl schon klarer und übersichtlicher aus. Schöner Nebeneffekt: Die Gruppe erzielte die neue Übersichtlichkeit der Zukunft im Konsens. Ein im Management eher seltener Zustand, wenn es um die Zukunft geht. Jedoch ein Zustand, der die Schnelligkeit und Agilität des Einkaufs drastisch erhöht. Ist die Zukunft auf wenige Szenarien eingegrenzt, können darauf die Warengruppenstrategien aufgebaut werden. Im Gegensatz zur Bauchentscheidung dann wissenschaftlich fundiert, eben szenariobasiert. Das ist der nächste Schritt.
Drittens. Fahrplan für die Warengruppe. Der Warengruppenmanager stellt für jedes Szenario einen Fahrplan auf. Der Plan ist die Antwort auf die Frage: Was mache ich, wenn …? Der Plan ist auch der Grund, warum manche Einkäufer schneller und zukunftsfähiger sind als andere: Sobald sich im Markt eine neue Dominanz der Stahlbarone oder ein Wirbelsturm abzeichnen, hat der szenariokompetente Einkäufer längst schon proaktiv seinen Fahrplan aktiviert, während die Schlafmütze reaktiv und hektisch wird. Wer ganz clever ist – und es gibt schon einige ganz Clevere im Einkauf – der entwickelt nicht vier Fahrpläne für vier Szenarien, sondern fragt sich: Gibt es einen Masterplan für alle vier? Oder für mindestens drei, zwei? Das ist pro-aktive Bearbeitung der Zukunft. Das ist nichts, was ein Einkäufer erst lernen müsste: Er macht es längst schon. Vor jedem Urlaub, wenn er die Koffer packt: Was mache ich, wenn es auf Fuerteventura im Juli überraschend kalt wird? Pulli einpacken! Der Clou der szenariobasierten Warengruppen-Strategieplanung liegt darin, dass sie diese von jedem Einkäufer praktizierte intuitive Szenarioplanung so auf den Einkauf überträgt, dass die Koffersimulation auch bei der Warengruppen-Strategieplanung funktioniert. Das Einzige, was danach noch fehlt, ist quasi ein AWACS: ein Frühwarnsystem. Dieses meldet zum Beispiel: Hoppla, gestern sprachen noch alle Signale für Szenario 3, heute Morgen sieht es eher nach Szenario 2 aus. Woran erkennt der Einkäufer das? An geeigneten Frühwarnindikatoren. Zum Beispiel: Wenn die Quote der Fusionen und Übernahmen in der Stahlbranche einen bestimmten vorher festgelegten Wert übersteigt, klingelt der Einkäufer den CPO aus dem Bett und sagt ihm: „Eben hat der M & A-Wert die kritische Schwelle überschritten! Wir sind jetzt nicht mehr in einem erstarrten Markt (Szenario 3), sondern in der Dominanz der Stahlbarone (Szenario 1).“
Und der CPO wird dem Einkäufer dankbar dafür sein, weil er weiß: Während andere noch schlafen und sich wundern, woher die erneute Preiswelle beim Stahl kommt und wohin einige Lieferanten verschwunden sind, haben wir bereits die Zeichen der Zeit erkannt und die Nase vorn.
Viertens. Handbuch! Natürlich ist die szenariobasierte Warengruppen-Strategieplanung nicht so simpel wie eine Tabellenkalkulation. Aber mit einem ordentlichen Handbuch relativ zügig einzuführen und zu praktizieren. So ein Handbuch regelt:
  • Die Verantwortlichkeit: Wer ist für die Szenarioplanung zuständig? Wie sieht das Team aus? Natürlich funktionsübergreifend und mit Beteiligung unter anderem der Stäbe für Innovation und Risk Management.
  • Die Prozesse: Wie werden die Szenarien erstellt (zum Beispiel mit obigen vier Schritten) und umgesetzt?
  • Die Erfolgsfaktoren: Woran messen wir die Qualität der Szenarien?
  • Die Zeiten: Wann und in welchen Abständen wollen wir unsere Szenarien aktualisieren? Und wie? Schlimmer als kein Szenario ist nämlich ein veraltetes, auf das man sich fälschlicherweise verlässt.
  • Das Reporting: Wer muss wann und wie unterrichtet werden?
  • Die Ablage: Wie und wo wird was so abgelegt, dass jeder Interessierte darauf zurückgreifen kann?
Und wieder von vorne. Einen fundierten Blick in die Zukunft werfen zu können, begeistert Manager und Einkäufer. Vor allem, weil Einkäufer immer ein wenig um die interne Anerkennung kämpfen müssen. Der Einkauf gilt intern als „zu operativ“: „Was macht ihr schon, außer Bestellformulare ausfüllen?“
Wenn der Einkauf dann plötzlich ein wissenschaftlich fundiertes, hochmodernes Instrument aus der angestammten Domäne der strategischen Unternehmensführung aus dem Hut zaubert, hebt dies das interne Standing des Einkaufs ganz erheblich, manchmal bis an die Neidgrenze. Auch deshalb finden Praktiker schnell Gefallen an der Szenariotechnik und kommen rasch zur Erkenntnis: Einmal ist keinmal. So schnell wie die Welt sich dreht, müssen auch Szenarien aktualisiert und eventuell neue entworfen werden. Unternehmen, die dafür Kunden- und Expertenbefragungen durchführen, aktualisieren ihre Szenarien im Jahresrhythmus. Die Überprüfung der zentralen KPIs wird natürlich fortlaufend vorgenommen. Aber weil das so viel interne Anerkennung, eine fast traumwandlerische Sicherheit in unsicheren Zeiten und eine krisenfeste Warengruppenstrategie ermöglicht, machen Einkäufer das gerne.
Unsere Whitepaper-Empfehlung
Aktuelles Heft
Titelbild Beschaffung aktuell 4
Ausgabe
4.2024
PRINT
ABO

Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de