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Ressortegoismus ist schädlicher Luxus

Zusammenarbeit zwischen Einkauf und Disposition
Ressortegoismus ist schädlicher Luxus

Die Fähigkeit, kurze und zuverlässige Lieferzeiten bei hoher und gleichmäßiger Auslastung ohne umfangreiche Puffer in den Beständen und Durchlaufzeiten sicherzustellen, wird durch operative und strategische Entscheidungen bestimmt: Auf der operativen Planungsebene hat der Disponent die Aufgabe, durch geschickte Festlegung der Losgrößen und Auftragsecktermine die genannten Ziele zu erreichen.

Prof. Dr. Melzer Ridinger

Teil 11:Neugestaltung der Rolle und Aufgaben der Logistik im betrieblichen Planungs- und Koordinationsprozess
Er arbeitet dabei innerhalb strategischer Rahmenbedingungen, die seine Fähigkeit, die ihm gesetzten Ziele zu erreichen, erheblich beeinflussen.
lBedingungen auf dem Beschaffungsmarkt:
Die Termin- und Mengenzuverlässigkeit des Lieferanten, seine Qualitätszuverlässigkeit und Kapazitätsengpässe, die Anzahl und Standorte der Lieferanten sowie die entstehenden fixen Bestellkosten.bestimmen im wesentlichen die wirtschaftliche Bestellmenge, die Flexibilität, unerwarteten Materialbedarf zu befriedigen und die Notwendigkeit von Sicherheitsbeständen und Sicherheitszeiten.
lBedingungen auf dem Absatzmarkt:
Die Prognosegenauigkeit des Kundenbedarfs und Anforderungen des Kunden an den Lieferservice bestimmen die Ungewißheit des Primärbedarfs zum Zeitpunkt der Auftragsfreigabe des ersten direkt ausgelösten Betriebsauftrags bzw. Bestellauftrags. Nervöse Systemreaktionen und die Gefahr zu spät erkannter Kapazitätsungleichgewichte und Materialengpässe machen Puffer in den Beständen, Durchlaufzeiten und Kapazitätspuffer erforderlich.
lBedingungen in der eigenen Fertigung:
Wesentliche Verursacher von Puffern sind Kapazitätsengpässe, hohe Rüstkosten bzw. lange Rüstzeiten und Qualitätsprobleme.
Funktionale Organisations- und Denkstrukturen
Ein weiterer Bestimmungsfaktor von Puffer in den Beständen und Durchlaufzeiten ist die Aufbauorganisation. In funktionalen Organisationsstrukturen wird die Gestaltung und Steuerung des Materialflusses in der Regel dreigeteilt: ein Bereich Beschaffung verantwortet den Materialfluß vom Beschaffungsmarkt bis zur ersten Fertigungsstufe, der Bereich Fertigung den Materialfluß innerhalb des Unternehmens bis zum fertigen Erzeugnis, der Bereich Vertrieb den Warenfluß zum Kunden.
Die logistischen Entscheidungen werden jeweils isoliert voneinander getroffen, wobei die Entscheidungen der übrigen Bereiche – je nach interner Machtposition – als Datum oder als beeinflußbar angesehen werden. So betrachtet der Einkauf die Höhe und Ungewißheit des Materialbedarfs als gegeben. Die dem Vertrieb zugeordnete Warenverteilung und Enderzeugnislagerung betrachtet die Kapazitätsausstattung, die Qualitäts- und Terminzuverlässigkeit sowie die Durchlaufzeiten als gegeben. Auch die Wirkungen eigener Entscheidungen auf nachfolgende Stufen des Materialflusses werden in der Entscheidung nicht berücksichtigt, häufig nicht einmal registriert.
Die schädliche Wirkung der dadurch erzeugten Ressortegoismen soll an einigen in der Praxis häufig vorkommenden Beispielen aufgezeigt werden:
1. Mitarbeiter und Abteilungen werden in funktionalen Organisationsstrukturen ausschließlich an ihrer Lieferfähigkeit gegenüber dem Abnehmer in der Versorgungskette und an den von ihnen direkt beeinflußten Kosten, d.h. den Einstandskosten (Einkauf), den Herstellkosten (Fertigung) bzw. an den Deckungsbeiträgen oder Umsätzen (Vertrieb) gemessen.
Aus der Verantwortung für Fehlteile ergibt sich für alle Beteiligten in der Versorgungskette das Bestreben, sich Sicherheitsbestände bzw. Sicherheitszeiten zuzulegen: Der Einkauf bestellt zu früh, um Terminüberschreitungen der Zulieferanten aufzufangen. Die Materialdisposition bestellt beim Einkauf das Material zu früh und zu viel aus gleichen Gründen, wie dies der Einkauf bei Zulieferanten tut. Die Produktion bemißt die Durchlaufzeiten zwischen den Fertigungsstellen komfortabel, um Störungen im Produktionsablauf auszugleichen. Die Versorgungskette wird so zu einer Kette kummulierter Sicherheitsbestände und kummulierter Sicherheitszeiten zur Abpufferung von Unzulänglichkeiten aufgebläht.
  • 2. Zur Senkung der Herstellkosten ist die Fertigung bemüht, in großen Losen zu produzieren; ihre Fähigkeit und Bereitschaft kurzfristigen Kundenbedarf zu befriedigen, ist gering, da die entstehenden Kosten durch zusätzliches Rüsten und Kapazitätsverlust die Herstellkosten belasten; die langen Belegungszeiten großer Lose gefährden jedoch die Lieferfähigkeit bei anderen Erzeugnissen.
  • 3. Die Fertigung besteht auf langen Plandurchlaufzeiten, um eine maximale Kapazitätsauslastung durch optimale Maschinenbelegung zu erreichen. Lange Plandurchlaufzeiten erzwingen eine Fertigung, die mindestens einige Fertigungsstufen auf Basis von Prognosen anstößt. Die dadurch verursachte Ungewißheit des tatsächlichen Bedarfs muß durch Sicherheitsbestände aufgefangen werden.
Die Erkenntnis, daß Ressortegoismen und funktionales Denken und Handeln zu kumulierten Sicherheitsbeständen und Sicherheitszeiten in der Materialflußkette, zu unausgelasteten Kapazitäten trotz auftretender Engpässe und zu Einbußen beim Lieferservice führen, hat viele Unternehmen veranlaßt, einen Bereich Logistik oder integrierte Materialwirtschaft zu definieren, der als Querschnittfunktion die Aufgabe hat, den Materialfluß ganzheitlich zu gestalten und zu steuern. Eine solche Reorganisation ist sinnvoll aber nicht ausreichend: Eine eindeutige Zuweisung von Verantwortung und Kompetenz gelingt nur auf der operativen Entscheidungsebene; die wesentlichen strategischen Logistikentscheidungen werden noch immer von Bereichen getroffen, die primär nicht logistisch denken und handeln (wollen):
–vom Vertrieb und Marketing (Lieferservice, Erzeugnisvarianten, Absatzmärkte und- kanäle)
–von der Konstruktion und Produktentwicklung (Gleichteile, Produktaufbau, Wertzuwachskurve),
–von der Fertigung (Kapazität, Plandurchlaufzeiten, Arbeitsvorgänge, Organisationstyp der Fertigung) und
–vom Einkauf (Umfang der Kooperation mit Zulieferern, Anzahl der Lieferanten).
Auch wenn auf der operativen Entscheidungsebene klare Kompetenzregelungen existieren, ist der Disponent sehr stark abhängig von der Kooperationsbereitschaft der übrigen Funktionen. Diese Abhängigkeit wird besonders deutlich bei Engpässen und Störungen; der Disponent kann jeweils nur zusammen mit den Kollegen aus Vertrieb und Fertigung Maßnahmen realisieren, die die entstehenden Fehlmengenkosten minimieren. Problematisch ist häufig auch die Zusammenarbeit zwischen dem die Absatzprognosen erstellenden Vertrieb und Logistik bei lagerorientierter Fertigung. Unter Umständen versucht der Vertrieb, Bestandsziele dadurch durchzusetzen, daß er überhöhte Prognosen liefert.
In der Diskussion um die richtige Aufbauorganisation für die Logistik konzentriert man sich auf die offizielle Zuweisung von Kompetenz- und Verantwortung. Dabei droht die Gefahr, daß die Frage der offiziellen Abstimmungsprozesse und Zuständigkeiten überbewertet wird.
Notwendig ist zugleich, die Rolle aller Mitarbeiter kritisch zu durchleuchten, die Entscheidungen treffen, die von logistischer Relevanz sind. Dabei wird deutlich, daß eine umfassende Gestaltung des Materialflusses nur mit Mitarbeitern möglich ist, die die Fähigkeit und Bereitschaft haben, die Tragweite ihrter Entscheidungen für die Logistik zu erkennen und zu berücksichtigen.
Die Produktionsplanung hatte in der Vergangenheit allzuoft die Rolle einer passiven Informationsverarbeitung. Bedingt auch durch die konzeptionellen Merkmale der PPS-Systeme bilden die Kundenbedarfe den Ausgangspunkt der Produktionsplanung. Die Materialbedarfs- und Kapazitätsplanung reagieren nur auf die Vorgaben der hierarchisch vorgelagerten Primärbedarfsplanung. Die Planungsergebnisse einer Fertigungsstufe dienen der im Materialfluß nachfolgenden Planungsstufe als Datum.
Bei Material- und Kapazitätsverfügbarkeitsengpässen muß die Planungsrichtung geändert werden: die erkannten Restriktionen sollten bei einer erneuten Betrachtunng der im Materialfluß nachfolgenden Stufen berücksichtigt werden, damit nicht Material und/oder Kapazität für Aufträge reserviert wird, die nicht weiterverarbeitet werden (planungsbedingte Bestände und Lieferschwierigkeiten).
Versorgungsstörungen bei fremdbezogenem Material erfordern kurzfristige Umstellungen des Produktionsprogramms, Losreduzierung, priorisierte Bearbeitung von Verzugsaufträgen und gefährden die Lieferfähigkeit des betroffenen Enderzeugnisses. Damit einher gehen kostenungünstige Auftragsreihenfolgen und Lose sowie Kapazitätsverlust. Der Disponent sollte dem Einkauf kritische Materialien nennen, für die priorisiert Strategien zur Versorgungssicherung mittels Lieferanten- und Kontraktpolitik entwickelt werden sollten und für die ein effizientes Engpaßmanagement wirtschaftlich sinnvoll ist.
Die Logistik muß sich – um den modenen Anforderungen genügen zu können – von der passiven Dienstleistungsfunktion zu einer aktiven Koordinationsfunktion entwickeln, die auch die Gestaltung der logistischen Rahmenbedingungen auf dem Beschaffungsmarkt, der eigenen Fertigung und auf dem Absatzmarkt als ihre Aufgabe betrachtet.
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