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„Savings sind gut, die Schaffung von Wettbewerbsvorteilen ist besser“

Friedhelm Felten, Chief Procurement Officer, Merck Group
„Savings sind gut, die Schaffung von Wettbewerbsvorteilen ist besser“

Merck hat in den letzten Jahren ein umfangreiches Transformationsprogramm durchlaufen, um die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu verbessern. Friedhelm Felten, Chief Procurement Officer bei Merck, erklärt im Interview mit Beschaffung aktuell, wie er mit seiner Organisation zum Unternehmenserfolg beiträgt und weshalb sich die Position des Einkaufs in den letzten Jahren stark verändert hat.

Beschaffung aktuell: Der Merck-Einkauf wurde in den letzten Jahren durch die Entwicklungen Ihres Unternehmens stärker in die Verantwortung genommen. Was für Entwicklungen waren das genau und welche Auswirkungen hatten diese auf den Einkauf?

Friedhelm Felten: Merck hat in den letzten Jahren ein weltweites Transformationsprogramm namens „Fit für 2018“ durchlaufen, das in der ersten Phase zum Ziel hatte, das Unternehmen langfristig wettbewerbsfähiger und kosteneffizienter zu machen. In der zweiten Phase, in der wir uns nun befinden, geht es darum, dass Merck wachsen soll – organisch und durch weitere Zukäufe.
Der Zweck einer Procurement-Organisation geht mittlerweile weit über den Begriff an sich hinaus. Häufig fließen rund 50 Prozent oder mehr der finanziellen Unternehmensressourcen wieder nach außen ab an die Lieferanten. Das führt zu einer Grundsatzfrage: Soll dieser Abfluss professionell gemanagt werden oder nicht? Viele Unternehmen geben heute darauf keine klare Antwort. Bei Merck war die Antwort ein klares „Ja“ zum professionellen Spendmanagement. Daher mussten wir eine Organisationsstruktur aufbauen, die das auch umsetzen kann.
Wir sind ein globales Unternehmen mit einem Einkaufsvolumen von rund 4,5 Milliarden Euro und brauchten nunmehr auch eine globale Organisationsstruktur. Deshalb haben wir uns für eine klassische Matrix mit Kategorien und Regionen entschieden, wobei das Category Management die treibende Größe ist.
Beschaffung aktuell: Verschiedene Studien der letzten Jahre sind zu dem Ergebnis gekommen, dass der Einkauf in der Chemie- und Pharmaindustrie nur eine untergeordnete Rolle spielt. Woran liegt das nach Ihrer Meinung, und sehen Sie ein generelles Umdenken in der Branche?
Felten: In der Pharmaindustrie sah man in der Vergangenheit kaum die Notwendigkeit, den Einkauf zu optimieren. Bei Merck kam hinzu, dass hier ein Drittel der Ausgaben direkte und zwei Drittel indirekte Materialkosten sind anders als in klassischen Industrieunternehmen, die bis zu 60 Prozent direkte Materialkosten haben. Aber der wesentliche Punkt ist, dass man sich in der Vergangenheit den Luxus erlauben konnte, nicht so genau auf die Kosten zu schauen.
Inzwischen hat der Einkauf in vielen Chemie- und Pharmaunternehmen eine deutlich stärkere Position eingenommen. Und wir haben nun einen entscheidenden Vorteil: Wir können die Fehler der Vergangenheit vermeiden. Branchenübergreifend hat der Einkauf in den letzten zehn Jahren eine erhebliche Entwicklung durchgemacht, insbesondere in den rohstoffintensiven Industrien. Dabei wurden natürlich auch Fehler gemacht: Der Einkauf wurde dort eindimensional über Savings getrieben, hat jetzt aber Schwierigkeiten, sich noch weiterzuentwickeln. Das hat unsere Branche jetzt vor Augen und ist deshalb in der Lage, diese Fehler zu vermeiden. Beispiel Savings: Bei Merck haben wir diese für uns anders definiert, als es die klassischen Industrien getan haben. Wir haben uns für eine konsequentere, striktere Variante entschieden und auch die Wertedefinition verbreitert.
Beschaffung aktuell: Welchen Beitrag kann denn der Einkauf zur Wertschöpfung eines Unternehmens noch leisten?
Felten: Bei weitem mehr als nur Savings.
Ein sehr wichtiger Beitrag zur Wertschöpfung eines Unternehmens sind Innovationen. Auch wenn noch niemand die perfekte Lösung dafür gefunden hat, ist eines sicher: Der Innovationswille treibt auch die Intensität des Austauschs mit den Lieferanten an. Das gilt nicht flächendeckend für alle, aber mit speziellen Lieferanten muss man enger arbeiten. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass jedes Unternehmen zunächst einmal darauf vertrauen muss, aus eigener Kraft etwas auf die Beine zu stellen, denn das ist ja sein Alleinstellungsmerkmal. Viel wichtiger als auf die Innovationskraft unserer Lieferanten zu setzen ist es sicherlich, die Kräfte im Unternehmen selbst zu stärken. Mit seinem Beitrag stellt der Einkauf sicher, dass die Kräfte, die im Unternehmen vorhanden sind, richtig gebündelt werden.
Ein weiterer Punkt ist das Thema Risikomanagement – ein Klassiker, der aber zunehmend an Bedeutung gewinnt. Das gilt insbesondere in unserer Industrie, weil wir sehr häufig Single-Source-Situationen haben. Das liegt an den Besonderheiten der Produktentwicklung im Pharmabereich, wo alles genau registriert und geprüft wird, und zwar nicht nur das fertige Produkt, sondern jeder einzelne Hersteller der gesamten Wertschöpfungskette. Das macht einen Lieferantenwechsel schwierig. Wir müssen mit sehr viel mehr Vorlaufzeit rechnen und genau planen. Merck ist nicht nur ein Pharmaunternehmen, sondern auch ein Hersteller von Spezialchemikalien – in beiden Bereichen sind wir aber kein Massenproduzent. Das hat auf der einen Seite den Vorteil guter Margen, andererseits aber auch den Nachteil, dass wir hinsichtlich unserer Lieferanten eingeschränkt sind und deshalb auch mit viel Weitsicht agieren müssen. Wir müssen bei Verhandlungen sehr genau arbeiten, weil wir während eines laufenden Vertrags nur beschränkt Möglichkeiten zur Nachverhandlung haben.
Die Funktion des Einkaufs hat in den letzten Jahren eine positive Entwicklung durchlaufen, aber sie ist auch noch ein wenig gefangen in den Werkzeugen, die sie bisher genutzt hat. Das betrifft Themen wie Kommunikation, aber auch Business Partnering.
Beides ist für uns sehr wichtig und zugleich eine große Herausforderung, denn die Frage ist doch, wie eine Procurement-Organisation Business Partnering betreiben kann, ohne ihre originäre Stärke der Marktorientierung zu verlieren oder zu schwächen.
Wir sind aktuell dabei, einen entsprechenden Prozess auf die Beine zu stellen, indem wir die Strategien der einzelnen Sparten jeweils in eine Procurement-Strategie übersetzen. Soweit es um Produkte geht, die alle Sparten einkaufen, halten wir das auch vonseiten des Einkaufs zusammen. Dabei erlauben wir uns die notwendige Flexibilität oder steuern sie sogar proaktiv auf der nachgelagerten Ebene. Das war früher nicht so, da war es mit dem gleichen Ansatz für alle getan.
Damit sind wir beim Thema Transparenz. Viele Finanzorganisationen agieren häufig auf Basis von Ex-post-Daten. Die Organisation, die noch zur Vorsicht mahnen kann, bevor es zu spät ist, ist der Einkauf. Mit dieser Transparenz kann man den Führungsteams der einzelnen Geschäftsbereiche sehr helfen. Die entscheidenden Informationen bekommen sie vom Einkauf, und das ist ein echter Mehrwert.
Wenn man als Unternehmen über diese Transparenz verfügt, hat man einen enormen Wettbewerbsvorteil im Markt und auch eine bessere Position in der internen Diskussion. Das macht das Ganze sowohl komplex als auch interessant. Dieser Wissensvorsprung fließt letztlich in die finalen Unternehmensentscheidungen ein. Eine große Verantwortung für jeden einzelnen Mitarbeiter in meiner Organisation.
Beschaffung aktuell: Trennen Sie innerhalb der Organisation nach operativem und strategischem Einkauf?
Felten: Nein, eine strikte Trennung gibt es heute bei uns nicht mehr. Jeder, der strategisch agiert, muss auch operativ arbeiten und damit seine Nähe zu den Märkten bewahren. Ich denke, es ist eine Illusion zu glauben, von einer Zentrale aus weltweit alles strategisch zu steuern, um es dann lokal abzuarbeiten.
Unsere Einkaufsmitarbeiter arbeiten innerhalb der Matrix in virtuellen Teams. Dabei hat der Category Manager ein kleines Team, mit dem er strategisch arbeitet. Weltweit sind ihm Mitarbeiter zugeordnet, die funktional an ihn berichten und mit denen er die Strategie operativ umsetzt.
Beschaffung aktuell: Was tun Sie ganz konkret, um Kosten zu sparen?
Felten: Wir gehen viel stärker als früher in Richtung Dual Source, und wir sind viel früher an den entscheidenden Punkten in der Produktentwicklung dabei. Auch das Thema Outsourcing hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Und natürlich sind wir ständig im Abgleich mit dem Wettbewerb. Wir arbeiten in der Forschung und Entwicklung an neuen Modellen mit, was beispielsweise die Abwicklung klinischer Studien betrifft, und übersetzen diese Ideen in Verträge, die es erlauben, eine nachhaltige Kostenentwicklung zu sehen. Eines unserer Schlüsselthemen ist die Agilität der Supply Chain, bedingt durch neue Regularien insbesondere in den Wachstumsmärkten. Um die Folgen dieser Regularien abzufedern, brauchen wir Produktionspartner und Outsourcing-Partner, die genau diese Agilität mitbringen. Und mit solchen Partnern arbeiten wir.
Beschaffung aktuell: Welche Rolle spielt das Thema Nachhaltigkeit bei Merck?
Felten: Eine sehr große. Wir haben eine Agenda zur Unternehmensverantwortung und sind Mitglied der Initiative „Together for Sustainability“. Das ist ein Zusammenschluss von Chemieunternehmen in Deutschland und darüber hinaus, die einen Standard entwickelt haben, der es uns erlaubt, gegenseitig die Audits anderer Unternehmen anzuerkennen. Wir unterstützen einige Projekte der Weltgesundheitsorganisation, unter anderem engagieren wir uns für die Bekämpfung der Wurmkrankheit Bilharziose in Afrika. Durch dieses Engagement wird der dafür benötigte Rohstoff für die Tabletten in den nächsten Jahren zu einem unserer größten Posten bei den direkten Materialkosten. Auch beim Lieferantenmanagement spielt das natürlich eine Rolle. Wir führen unsere eigenen Audits durch, bei denen unsere Leute vor Ort beim Lieferanten die Einhaltung unserer Standards überprüfen.
Beschaffung aktuell: Wo sehen Sie für den Einkauf die größten Herausforderungen in den nächsten Jahren?
Felten: Das allgemeine Wachstum ist gering, und es kommen immer neue Akteure auf den Markt. Man muss kein Mathematiker sein, um zu erkennen, dass es da einen Verdrängungswettbewerb geben wird. Dies hat Folgen für uns: Das, was der Einkauf in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren ausgemacht hat, nämlich die Preise immer weiter zu drücken, darf nicht mehr der alleinige Mehrwert sein.
Das heißt aber nicht automatisch, dass es das Ende der Procurement-Organisation ist, wie wir sie kennen. Die Diskussion, wie sie heute geführt wird, ist auch ein Ergebnis der Positionierung von Procurement in den letzten 15 Jahren. Wir haben unsere Existenz über Savings verargumentiert und müssen uns nun die Frage nach zusätzlichem Mehrwert gefallen lassen. Dabei gab es diesen Mehrwert früher schon, wir haben es nur nicht kommuniziert. Für die Frage, wie wichtig eine Procurement-Organisation für ein Unternehmen ist, sind Savings und Volumina sekundär. Wichtig ist, wie viel Prozent der Ressourcen, die ein Unternehmen generiert, wieder nach außen fließen. Bei uns sind das etwa 50 Prozent. Das heißt, knapp die Hälfte der Ressourcen, die Merck erwirtschaftet, gehen an die Lieferanten. Und wenn man diese Frage stellt, kommt man zu einer ganz anderen Bewertung und Ausrichtung. Diesen Dreh muss die Industrie hinbekommen, denn sonst kommt sie nicht aus der Sackgasse heraus, in die sie sich hineinmanövriert hat.
Beschaffung aktuell: Herr Felten, vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Ulrike Dautzenberg.

Der Mann

Friedhelm Felten hat seit April 2011 die Leitung der Funktion Corporate Procurement und damit die Verantwortung für die weltweiten Beschaffungs-Aktivitäten der Merck-Gruppe inne. Er berichtet direkt an den in der Geschäftsführung für die Konzernfunktion Group Procurement zuständigen Kai Beckmann.
Corporate Procurement ist über eine Matrixorganisation weltweit für den Einkauf von Produktionsmaterialien wie Pharmarohstoffe oder chemische Materialien zuständig sowie für die Beschaffung von technischen Komponenten wie Produktions- und Laborausrüstung oder auch Services wie Pharma F&E. Die rund 500 Mitarbeiter der weltweiten Matrixorganisation betreuen ein Einkaufsvolumen von jährlich rund 4,5 Milliarden Euro.
Der 48-jährige Felten kam im Juli 2009 zu Merck als Einkaufsleiter für den Bereich Services. Zuvor hatte er bereits mehrjährige Leitungsfunktionen im Einkaufsbereich sowie in anderen Funktionen in international agierenden Unternehmen inne. Dazu zählten unter anderem DHL Global Forwarding in Singapur, DHL Logistics in London oder die BASF AG in Ludwigshafen sowie verschiedene BASF-Landesgesellschaften in Asien. Seine Karriere begann der Ökonom und Betriebswirt als Assistent des CFO der BASF Magnetics GmbH in Mannheim.

Das Unternehmen

Die Merck KGaA ist ein deutsches Unternehmen der Chemie- und Pharmaindustrie mit Sitz in Darmstadt. Die Anfänge von Merck gehen bis in das Jahr 1668 zurück. Merck ist damit das älteste pharmazeutisch-chemische Unternehmen der Welt.
Für das Unternehmen sind rund 38 000 Mitarbeiter tätig, davon 10 900 in Deutschland und allein im Darmstädter Stammwerk etwa 8900.
Während in den vergangenen Jahren weltweit sehr viele Chemie- und Pharmaunternehmen sich auf ein Geschäftsfeld fokussiert haben – beispielsweise haben sich Degussa, BASF, DuPont und Altana von ihren Pharmaaktivitäten getrennt, während umgekehrt beispielsweise Roche, Boehringer Ingelheim und die Hoechst AG ihre Chemieaktivitäten verkauften – setzt die Merck KGaA weiterhin auf beide Standbeine, Pharma und Chemie.
Der Unternehmensbereich Pharma gliedert sich aktuell in zwei Sparten: Merck Serono und Consumer Health.
  • Merck Serono ist die größte Sparte von Merck. Sie vertreibt Biopharmazeutika und engagiert sich in Therapiegebieten mit hohem Spezialisierungsgrad wie neurodegenerative Erkrankungen, Onkologie, Immuno-Onkologie, Fruchtbarkeit, Endokrinologie sowie Biosimilars.
  • Die Sparte Consumer Health bietet Produkte für die Selbstmedikation.
Im Unternehmensbereich Chemie hat Merck zwei Sparten: Merck Millipore und Performance Materials.
  • Merck Millipore bietet Lösungen, die dazu beitragen, die Life-Science-Forschung effizienter und wirtschaftlicher zu machen. Mit mehr als 60 000 Produkten ist dieser geschäftsbereich einer der drei führenden Lieferanten von Arbeitsinstrumenten für die Life-Science-Industrie.
  • Performance Materials bietet Kunden aus den Branchen rund um Unterhaltungselektronik, Beleuchtung, Drucktechnik, Kunststoffanwendungen und Kosmetik innovative Materialien, Technologien und Hightech-Chemikalien. Zu den Produkten gehören Flüssigkristalle für LCD-Displays, neue Beleuchtungstechnologien, funktionelle Füllstoffe und Effektpigmente.
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