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Voller Durchblick für virtuelle Beifahrer

Digitalisierung im Transportmanagement
Voller Durchblick für virtuelle Beifahrer

Wo Konzepte rund um Industrie 4.0 die Debatten beherrschen, darf das Leitmotiv der zunehmenden Digitalisierung nicht fehlen. Dabei besteht nicht einmal Konsens darüber, was eigentlich darunter genau verstanden und wirklich neu sein soll. Sicher ist, dass Logistik und Supply Chain Management gegenüber einzelnen Industriesektoren bisher eher hinterherhinken. Damit sich das schnell ändert, stand das Thema ganz oben auf der Agenda des 33. Deutschen Logistik-Kongresses.

Bisher ist es eher eine häufig kolportierte Verheißung: Die Digitalisierung von Prozessen soll künftig nicht nur für mehr Transparenz und Flexibilität in den Wertschöpfungsketten, besser beherrschbare Risiken in den Lieferketten sowie eine verbesserte Planbarkeit sorgen. Vielmehr soll die damit einhergehende umfassende Vernetzung und Kollaboration entlang der Wertschöpfungskette auch Potenziale zur Kostensenkung heben und das Tor zu ganz neuen lukrativen Geschäftsmodellen öffnen. Klar ist, den „digitalen Zugang zu Kunden hat nur, wer die Spielregeln des digitalen Marktes versteht“, so Prof. Raimund Klinkner, Vorstandsvorsitzender der Bundesvereinigung Logistik (BVL), die dieses Thema auch in den Mittelpunkt des Deutschen Logistik-Kongresses stellte. Günther Oettinger, EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft, brachte es in seiner Gastrede auf den Punkt: Wem Grundkenntnisse über digitale Chancen, Applikationen, Datenschutz und -sicherheit sowie Social Media fehlten, werde in nicht allzu ferner Zukunft „disruptiv entsorgt“.

Oft fehlt noch die notwendige Basis
Bisher deutet wenig darauf hin, dass sich an der unterschiedlichen Herangehensweise der Unternehmen an die Themen Industrie 4.0 und Digitalisierung in naher Zukunft etwas grundlegend verändert. Liegt der Fokus der Industrie bisher vor allem auf der Technologie, so steht in der Logistik die Wertschöpfung im Mittelpunkt. „Hier wird ganz konkret gefragt, was bringt mir das“, so die Erfahrung von Bernhard Müller, Sick AG. Daher überrascht es nicht, dass „gerade der Mittelstand bisher eher zögerlich in der Umsetzung“ von Digitalisierungskonzepten ist, so Dr. Christian Jacobi, agiplan GmbH. Deutlich zu erkennen sei aber, dass in Unternehmen, die hier vorangehen, das Thema Digitalisierung „Chefsache“ ist und die Bereitschaft, in Produktion und Logistik neu zu denken, vorhanden ist.
Dabei fehlt es in der Logistik vieler Unternehmen bisher bereits an der nötigen Basis für den Einsatz digitaler Technologien, etwa einem einheitlichen Transportmanagementsystem. Denn die eigentliche Schlussfolgerung nach den konkreten Möglichkeiten der Umsetzung entsprechender Projekte lässt sich kaum für komplette Supply Chains ziehen. Auch hier gilt: Eine komplexe Problematik wird am Ende einfacher lösbar, wenn sie in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt wird. Dieser Aufgabe widmete sich eine entsprechende Fachsequenz, die „Digitales Transportmanagement“ am Beispiel von Unternehmen aus dem B2B- und B2C-Bereich.
Dabei zeigte sich, dass selbst für eines der weltweit führenden Industrieunternehmen wie die Robert Bosch GmbH die künftigen Potenziale der Digitalisierung nicht wirklich abzuschätzen sind. Grundsätzlich erscheinen die Potenziale „riesig“, so Beate Teller, Vice President Process Management Transport, soweit es darum gehe, „neue Produkte und neue Kombinationen aus Produkten, Dienstleistungen und Software zu schaffen, aber auch neue Arten der Zusammenarbeit. Aber was wirklich daraus entstehen wird – da stehen wir noch ganz am Anfang“. Die physische Basis der Supply Chain werde sich „auf Sicht nicht groß ändern“, auch wenn das eine oder andere intelligente Transportmittel dazu komme. Neu in der Supply Chain werde vielmehr sein, durch entsprechenden Software-Einsatz „die Steuerung deutlich effizienter zu machen“. Die Herausforderung für die Unternehmen sieht Teller eher darin, das intern, aber vor allem auch extern anfallende Datenvolumen zu nutzen. Bosch selbst verwendet heute das EPCIS-Format, das erlaubt, neben der reinen ID-Identifikation von Objekten weitere Dimensionen hinsichtlich Ort, Zeit und Zustand von Objekten abgreifen zu können. Damit ist klar, ob ein Objekt beispielsweise bereits verpackt oder verkauft ist oder ein Qualitätsproblem existiert. Die eigentlichen Chancen ergeben sich aber erst aus der Kombination von objektbezogenen und objektunabhängigen Daten. Ein Beispiel wäre hier eine sturmbedingt verspätete Schiffsfracht, die ein rechtzeitiges Umsteuern oder Umplanen erlaubt.
Die Reaktionszeit verkürzt sich
Für das Transportmanagement bedeutet das, das verfügbare Datenmaterial zu nutzen, um Prozesse zu automatisieren und zu optimieren. So können Datenströme z. B. jährlich analysiert werden, um ein optimales Netzwerk-Design zu schaffen. In monatlicher Folge können Routen optimiert sowie im täglichen Blick auf die Daten die Auslastung auf ein Maximum gebracht werden. Die elektronische Rechnungstellung ist ein logischer Schritt. Auch das Thema Resilienz spielt eine Rolle: Fällt ein Lieferant aus, kann per Knopfdruck geprüft werden, welche Routen bedient und welche Gewerke beliefert wurden. Die Reaktionszeit verkürzt sich damit.
Bei Bosch kommt mit intelligenter Sensorik („TraQ“ – Tracking and Quality) eine weitere Dimension hinzu: So ist zu erkennen, ob es dem Produkt in der Kette „gut“ geht, es können Temperaturen und Feuchtedaten ermittelt oder auch Bewegungen und Beschleunigungen in der Transportkette festgestellt werden. Liegen diese Informationen in Echtzeit vor, ergeben sich umgehende Reaktionsmöglichkeiten, die zu einer entsprechenden Entlastung im Wareneingang führen: „Unsere Kunden und wir machen damit eine neue Erfahrung und wir erleben eine neue Dimension der Information“, erklärte Teller. Gerade in Krisensituationen könne deutlich schneller reagiert werden, wenn die ganze Kette vom ersten Lieferanten bis zum letzten Kunden digitalisiert auf einer gemeinsamen Plattform abgebildet ist. Zudem könne durch die Datenintegration ein entsprechendes Frühwarnsystem implementiert werden, wenn sich bestimmte Parameter verschieben. Mit solcherlei Technologie zielt Bosch jedoch nicht allein auf die Logistik als Erfolgsfaktor, sondern auch auf zukünftige neue Geschäftsmodelle.
Derzeit sieht Teller den Konzern noch in einer Phase der Bündelung von Transportmanagementaufgaben. Dafür wurden seit 2014 Transportmanagement-Center zunächst für die Landfracht eingerichtet, von denen derzeit vier operativ tätig sind. Dort wurden von Beginn an neue Prozesse aufgesetzt und die Mitarbeiter entsprechend geschult. Die Bereiche See- und Luftfracht sollen jetzt folgen.
Echtzeitkollaboration und Vernetzung
Dass Themen wie Industrie 4.0 nicht nur Visionen bleiben dürfen, sondern nicht zuletzt auch Verlader auf deren ganz konkrete Realisierung angewiesen sein werden, betonte mit Kurt Münk ein logistisches Urgestein: Der Leiter Frachtmanagement bei der Knauf Gips KG kann bereits auf über vier Jahrzehnte im Bereich Transport bzw. Transportmanagement zurückblicken. Er präsentierte ein sehr anschauliches Beispiel mit starkem Praxisbezug zum Thema Echtzeitkollaboration, Digitalisierung und Vernetzung zwischen Verladern und dem Transportmarkt. Als einer der weltweit führenden Baustoffhersteller ist Knauf mit heute mehr als 26 000 Mitarbeitern in 80 Ländern und weltweit 220 Standorten und Produktionsstätten in hohem Maß auf eine funktionierende Transportkette angewiesen. Aber allein die Leistungskennzahlen für den deutschen Markt mit 38 vernetzten Fabriken, für den Münk in der Logistik verantwortlich zeichnet, ist mit 550 Transporten und 8 000 Tonnen pro Tag, Inland ausgehend, hoch komplex. Hinzu kommen im Inbound Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, Inland und Import/EU. Diese Aufgaben bewältigen derzeit 211 Dienstleister (160 Schwerlast-Dienstleister, 20 Silo-Lkw-Dienstleister, 15 Container-Stellfahrzeug-Dienstleister, zehn KEP-Dienstleister sowie jeweils zwei Stückgut-, Schienen-, und Wasserweg-Dienstleister).
Global betrachtet ist die Logistik bei Knauf bisher eher dezentral aufgestellt. Dies gilt allerdings weniger für das IT-System. Hier will das Unternehmen spätestens in zwei Jahren mit einem weltweit einheitlichen SAP-System arbeiten. Daran sollen dann nur noch die Systeme zusätzlich angeschlossen sein, die zukunftsträchtig sind.
Die Rahmenverträge mit den gut 150 Schwerlast-Dienstleistern, die in der Regel mit 40-Tonnen-Lkw fahren, sind heute weitgehend standardisiert. Damit können 95 Prozent des Geschäfts – und damit auch die, die hoch komplex sind – standardisiert abgewickelt werden. Der Dienstleister wird generell im Gutschrift-Verfahren bedient, er muss nur in geringem Maß Sprit oder Maut vorfinanzieren.
Status quo ist unplanbar
Das Manko: Über lange Jahre fehlte es an der Vernetzung mit den Dienstleistern. „Wir wussten, dass wir da deutlich besser werden mussten“, blickt Münk zurück. „Aber das haben wir inzwischen geschafft.“ Am eigenen Beispiel mahnte der Knauf-Logistiker eindringlich, „jedem Dienstleister muss klar sein, dass Industrie 4.0 in einigen Jahren nur mit Logistik 4.0 funktionieren wird. Wer das verpasst, wird zu den Verlierern gehören, genauso wie diejenigen Logistiker, die in den kommenden Jahren digitale Inseln aufbauen und damit die Vernetzung der Verlader und Dienstleister behindern“.
Im Blick auf den Status quo auf den deutschen Fernstraßen bezeichnete Münk Transporte hierzulande als „heute völlig unplanbar“. Damit sei die Wertschöpfungskette „massiv gestört“. Immer weniger Kunden seien bereit, die Situation einfach hinzunehmen und verlangen früher Informationen über den Transportablauf. Doch während in den Metropolregionen bei voll digitalisierter Abwicklung eine Zustellung im B2C-Geschäft in konkreten Zeitfenstern fast schon zum Standard gehört, hinkt der B2B-Bereich hier deutlich hinterher.
Im Fall Knauf wickelt das Unternehmen seine Transportprozesse bereits seit dem Jahr 2001 über eine Transporeon-Plattform ab. Dabei war es vorrangig, die eher trivialen Abläufe wie in der Transportvergabe elektronisch abzuwickeln. Zentral war, die Daten aus dem eigenen ERP-System über die Plattform direkt in das System des Dienstleisters zu übermitteln und eine Doppelerfassung zu vermeiden. Heute nutzt der Baustoffhersteller mit sehr hoher Geschwindigkeit die Transportvergabe-Tools, ein Avisierungs-Tool sowie ein Zeitfenster-Managementsystem.
Mobile Order Management
Mit einem Mobile Order Management (MOM) System wurde seit 2013 auch Transparenz über die Lücken im Transportprozess geschaffen: „Wir sind jetzt ein virtueller Beifahrer, der live den Lkw verfolgen kann“. Die Funktionsweise des MOM ist relativ einfach: Nach der elektronischen Transportvergabe gelangt der Transportauftrag aus dem SAP-System des Verladers über die Transporeon-Plattform zum Spediteur. Die Daten werden übernommen, eine weitere Erfassung entfällt. Die Weitergabe dieses Auftrags erfolgt wieder über die Plattform auf das Tablet oder Smartphone des Fahrers, der eine entsprechende Nachricht erhält. Mit der Bestätigung durch den Fahrer aktiviert er den Workflow von MOM. Der Workflow ist immer individuell auf die Bedarfe des Verladers einzustellen. Zudem ist MOM mehrsprachig verfügbar. In dem Moment, wenn der Fahrer den Auftrag übernimmt, wird im Zeitfenster-Managementsystem des Verladers eine ETA-Meldung über die voraussichtliche Ankunftszeit erzeugt. Mit dieser Information kann der Kommissionierungsprozess gestartet werden, um die Ware bereitzustellen, oder auch im Falle von Verspätungen der Auftrag zunächst zurückgestellt werden. Mit dem Empfang eines abschließenden Lieferbelegs mit allen Statusmeldungen über Stausituationen etc. und einer digitalen Unterschrift des Empfängers kann dann ein kompletter Transportprozess ohne ein Blatt Papier innerhalb weniger Sekunden zum Abschluss gebracht werden. Im operativen Geschäft wandern auch Reklamationen automatisch an die richtige Stelle, nämlich das Qualitätsmanagement.
Der vorerst finale Schritt bei Knauf ist bereits terminiert: Ab 1. Februar 2018 muss jeder Transportunternehmer, der für Knauf fährt, mit diesem MOM unterwegs sein. Dann wird der Baustoffhersteller nur noch den digitalen Lieferbeleg akzeptieren. Auch eine stärkere Vernetzung mit den Händlern ist in Planung. Damit zeigt das Familienunternehmen den Weg auf, den die Digitalisierung in der Logistik mit hoher Wahrscheinlichkeit beschreiten wird: Ohne Selbstzweck zu sein, wird sie dort Platz greifen, wo steigende Produktivität, effizientere Prozesse und zählbarer Kundennutzen auf der Habenseite stehen.

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Axel de Schmidt, Experte für Logistik und Supply Chain Management, Beschaffung aktuell, München
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