Startseite » Strategischer Einkauf »

„Wir brauchen Impulsgeber, keine Besserwisser“

Digitalisierung im Einkauf
„Wir brauchen Impulsgeber, keine Besserwisser“

Das Hypethema „4.0“ schürt Unsicherheit in den Unternehmen. Informationsüberfluss sensibilisiere zwar für technologischen und technischen Fortschritt, vernachlässige aber die sozialen Komponenten, mahnt Walter Braun. Im Interview redet der Psychologe Klartext: Fehlende Orientierung führe zu blindem Loslegen und Hauruckentscheidungen. Auch Zaudern sei hinderlich. Braun sagt, wie Unternehmen und Einkauf lernen, mit Komplexität und unberechenbaren Größen umzugehen.

Beschaffung aktuell: Was stört Sie an der derzeitigen Informationsflut in Sachen „4.0“?

Walter Braun: Es werden zu viele Bedrohungsszenarien aufgebaut nach dem Strickmuster: „Wenn du nicht schnell darauf reagierst, wirst du zu den Verlierern gehören.“ Angst ist ein schlechter Anlass, über Änderungen nachzudenken. Damit gibt man Regiemöglichkeiten aus der Hand, mit denen sich Menschen auf Neues, Unerwartetes und Besorgniserregendes besser einstellen können. Die Informationsflut sensibilisiert zwar für technologischen und technischen Fortschritt, vernachlässigt aber die soziale Komponente. Was machen neue Arbeitsformen mit Menschen? Welche langfristigen Auswirkungen haben sie auf Persönlichkeit und Personalentwicklung?
Beschaffung aktuell: Also sind zu viele Mahner und Besserwisser unterwegs, etwa Berater und Journalisten?
Braun: Auf jeden Fall zu viele Interessensvertreter in eigener Sache. Die einen wollen Geschäfte machen, die anderen Auflage. Die kaum berechenbare Wirtschaftswelt benötigt Impulsgeber, keine Besserwisser. Es gilt, Traditionen aufzubrechen. Das unterstützen Wirtschaftspsychologen besser als klassische Berater, die ja ein anderes Geschäftsmodell haben und vorrangig auf Kennzahlen und Abarbeiten von Checklisten setzen.
Beschaffung aktuell: Was ist denn wirklich neu und besorgniserregend?
Braun: Die Transformation von Geschäftsprozessen ist zweifellos komplex. Das war aber schon immer so, etwa in den Anfangszeiten der Robotik. Neu sind nun die Faktoren Schnelligkeit und Intensität notwendiger Veränderungen. Für eine Vielzahl der Beziehungen auf Beschaffungs- und Absatzmärkten, aber auch für Ansprüche von Mitarbeitern wird es keine Blaupausen mehr geben. Unternehmen müssen den Umgang mit vielen unberechenbaren Größen lernen. Sie fühlen sich mit dieser Komplexität alleine gelassen. Stolpersteine legen auch Schreihälse in den Weg, die lauthals „Disruption“ fordern. Das verunsichert. Reaktionen reichen von blindem Loslegen und Hauruckentscheidungen bis Zaudern und Erstarren. Man bleibt lieber auf ausgetretenen, vermeintlich sicheren Pfaden.
Beschaffung aktuell: Worauf kommt es wirklich an?
Braun: Auf pragmatische und nicht-theoretische Hilfen und Wege. Wir müssen über Denken, Wahrnehmen und Fühlen im Kontext mit dynamischen Veränderungen der Wirtschaft reden. Erst nach hinreichender Orientierung lassen sich praktische Handlungen in den betrieblichen Wandel einbringen.
Beschaffung aktuell: Wie geht man mit dem Gegensatz Disruption versus Erfahrung und Gewohnheit um?
Braun: Das Neue hat es immer schwer, sich gegen Gewohntes durchzusetzen. Disruption bedeutet grundlegend Neues, das keinen Stein auf dem anderen lässt. Man muss der Disruption das Bedrohliche nehmen, indem man es in übersichtliche handhabbare Einzelheiten zergliedert. Panikmache und Ideologien wie „Alles-ist-machbar“ oder „Nicht bei uns!“ müssen raus. Rein muss Bereitschaft zum Experimentieren und Misslingen.
Beschaffung aktuell: Müssen Leader ihre Rolle neu verstehen lernen?
Braun: Sollte das alte Rollenbild „Command und Control“ vorherrschen, muss es dringend in Richtung eines Orientierungshelfers revidiert werden. Dieser sollte Impulse vermitteln, aber auch das Potenzial seiner Mitarbeiter wecken. Seine Rolle besteht dann darin, die Selbstführungsfähigkeit seiner Leute maximal zur Entfaltung zu bringen und sich einzureihen ins Team. Helden einer allwissenden Führung sind fehl am Platz.
Beschaffung aktuell: Wissen Geschäftsleitung und HR, welche Rolle ihnen zukommt?
Braun: Ich glaube schon, sie sind aber gegebenenfalls Opfer ihrer etablierten Systeme. Einmal eingeführte Systeme neigen zur Immunität. Es ist zu wenig, Mitarbeiter in der Fähigkeit im Umgang mit Komplexität zu schulen oder ihnen Selbstführung zu vermitteln. Wenn nicht gleichzeitig passende Handlungsspielräume vorliegen, sinkt der Wirkungsgrad dieser Maßnahmen signifikant.
Beschaffung aktuell: Wie sehen Strategien und Trainingskonzepte für den Umgang mit Komplexität aus?
Braun: Beides wird stiefmütterlich behandelt. Meist wird reduziert auf Kreativitätsseminare, reine Methodenvermittlung oder Balanced-Scorecard-Ansätze. Ein Trainingskonzept muss auch menschliche Denkmechanismen und Denkfehler einbeziehen. Teilnehmer sollten Situationen bezüglich Komplexität beurteilen können und lernen, vernetzt zu handeln.
Beschaffung aktuell: Helfen Trockenübungen?
Braun: Ja. Dabei werden verschiedene Aspekte einer Situation aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, in Einzelteile zerlegt, miteinander verknüpft etc. und als Szenario etabliert. Für jeden dieser Schritte durchdenkt man verschiedene Verhaltensweisen und Alternativen. Man spielt sie immer wieder durch und legt so neuronale Spuren. Das bringt Vertrautheit und Sicherheit in der Echtsituation. Eine schwierige Preisverhandlung von der Begrüßung bis zur Verabschiedung lässt sich so im Kopfkino vorbereiten.
Beschaffung aktuell: Manche Unternehmen rühmen sich ihrer Start-up-Zirkel. Ist das oft nur ein Feigenblatt?
Braun: Wird das stille Kämmerlein hermetisch abgeriegelt, ist das allenfalls ein Feigenblatt für eine vermeintlich innovative Umgebung. Notwendig wird sein, Existenz und Arbeitsergebnisse der Disruptionsteams unternehmensweit publik zu machen und den Transfer mit den Linienverantwortlichen zu diskutieren. Diese Zirkel fungieren so als Impulsgeber im Rahmen von Zukunftswerkstätten, World Cafés oder anderen interaktiven Gruppenarbeitsformen und nicht als krawattenlose Anarchisten.
Beschaffung aktuell: Wann sind Unternehmen komplexitätsrobust?
Braun: Wenn Leistungsträger mit der Organigramm-Mentalität gebrochen und agile kollaborative Formen der Zusammenarbeit gefunden haben, dann ist ein Unternehmen schon ziemlich wetterfest. Dazu braucht es eine Kultur, die nicht nach der besten Lösung sucht, sondern nach Optionen.
Beschaffung aktuell: Und wie lässt sich 4.0-Komplexität beherrschbar machen?
Braun: Unaufgeregt, aber die Entwicklung proaktiv aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtend. Komplexität ist nicht komplett beherrschbar. Mein Rat: Stellen Sie die richtigen Fragen. Was passiert, wenn wir an dieser oder jener Stelle zögern? Und was, wenn wir lospreschen? Welche Ressourcen brauchen wir, um in Zukunft marktgerecht zu agieren? Auf Grundüberlegungen müssen unmittelbare Konsequenzen folgen. Kennzahlenvergleiche und Benchmarking sind keine hinreichenden Lösungen. Salz in die Suppe bringen erst Zirkel, die proaktiv klären, wie sich Digitalisierung aus strategischer Sicht als Vehikel für effizientere Einkaufsprozesse und Gestaltung neuer Geschäftsprozesse einsetzen lässt. Sparringspartner können dabei sehr belebend wirken. Erst zu warten, wann und wie Wettbewerber reagieren oder bis bedeutende Auftraggeber mich quasi über Nacht in neue Prozesse zwingen, ist fahrlässig. Der Mittelstand kann übrigens schnell und innovativ sein, wenn er das Thema verstanden hat.
Beschaffung aktuell: Wie muss sich Einkauf im Transformationsumfeld positionieren?
Braun: Konjunktur haben momentan Technik, Stichwort Industrie 4.0, und Marketing. Selbst HR ordnet sich in der Regel unter. Damit Einkauf nicht wieder zum Besteller wird, sollte er sich in die Debatte bereits bei Unternehmensentwicklung und Geschäftsfeldplanung einschalten und sich in Innovationsteams als Ideenlieferer hervortun. Der Autobau macht das seit vielen Jahren vor.
Beschaffung aktuell: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Braun.
Das Interview führte Sabine Ursel für die Beschaffung aktuell. Die Journalistin und Kommunikationsexpertin ist seit vielen Jahren in der Community Einkauf/Vertrieb aktiv.

Walter Braun

Der Mann

Der Diplom-Psychologe ist mit seinem Beratungsbüro System-Management in den Bereichen Unternehmens- und Mitarbeiterentwicklung, Prozessoptimierung und Schulung engagiert. Zunehmend nachgefragt: das Thema „Komplexe Projekte managen“.
Brauns Steckenpferd ist Selbstführung („die Basis für beruflichen und privaten Erfolg“). Als Mental Coach hat er auch Leistungssportler unterstützt. www.system-management.de
Unsere Whitepaper-Empfehlung
Aktuelles Heft
Titelbild Beschaffung aktuell 3
Ausgabe
3.2024
PRINT
ABO

Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de