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Die Kehrseite des digitalisierten Lebens: Diagnose cyberkrank

Buchrezension
Die Kehrseite des digitalisierten Lebens: Diagnose cyberkrank

Die Kehrseite des digitalisierten Lebens: Diagnose cyberkrank
Manfred Spitzer: CYBERKRANK! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert. Droemer Knaur, München 2015, 448 Seiten, 22,99 €
Die Digitalisierung unseres Alltags schreitet immer weiter voran. Daraus erwachsen uns zweifellos viele Vorteile; die Auswirkungen können jedoch auch fatal sein, wenn wir nicht souverän mit den digitalen Technologien umgehen. Dies fordert der bekannte, streitbare Gehirnforscher Manfred Spitzer seit zehn Jahren schon fast gebetsmühlenartig. Das vorliegende, in jedem Falle nachdenklich stimmende Buch macht da keine Ausnahme.

Spitzers Diagnose: Wir werden cyberkrank, wenn wir den digitalen Medien die Kontrolle aller Lebensbereiche überantworten, stundenlang Online-Games spielen und in sozialen Netzwerken unterwegs sind. Stress, Empathieverlust, Depressionen sowie Schlaf- und Aufmerksamkeitsstörungen sind die Folgen. Kinder werden in ihrer Motorik und Wahrnehmungsfähigkeit geschädigt.

Manfred Spitzer, der die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen leitet, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Einfluss der Medien auf unsere Gesundheit. Er hat zu diesem Thema mehrere viel beachtete Bücher verfasst. Sein Mantra lautet: „Wir dürfen weder die Köpfe noch die Gesundheit unserer Kinder den Cyberspace-Konzernen überlassen, die mit unseren ihnen kostenlos überlassenen Daten immer größere Reichtümer anhäufen.“
Die Bedrohung unserer Gesundheit
Der Ulmer Experte thematisiert nicht nur die Bedrohung unserer Gesundheit und die Suchtgefahren, die von den digitalen Medien ausgehen, sondern auch den Überwachungswahn der Geheimdienste. „Big Brother is watching you“ ist für ihn keine Utopie. Smartphones ermöglichen es, Bewegungsprofile von Personen zu erstellen. Nicht nur öffentliche Stellen sammeln Daten, sondern in besonderem Ausmaß auch private Unternehmen. Der Autor erläutert, warum die Menschen freiwillig auf ihre Privatsphäre verzichten und die Datensammler mit Details aus ihrem Privatleben anfüttern.
Der Autor geht ausführlich auf den digitalen Über-Konsum und dessen Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit sowie die daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgewirkungen ein. Sein Schlüsselbegriff lautet Cyberstress. Dieser wird ausgelöst durch „Smartphone-Stress“, „Cybermobbing“, „Cyberstalking“ und „Cyberangst“. Hinzu kommt das seines Erachtens nicht menschenadäquate Multitasking, d. h. die Erledigung von mehreren Dingen gleichzeitig. Die ständige Nutzung von Smartphones in Gesprächen, bei Veranstaltungen und im Büro führt zwangsläufig zur Unaufmerksamkeit und kann bei entsprechender Überdosierung krank machen.
Digitale Medien können depressiv machen
Digitale Medien können depressiv und einsam machen. Nachweislich leiden Jugendliche – so Spitzer – unter zunehmendem Empathieverlust, je mehr Zeit sie vor dem Bildschirm verbringen. Cyberstress ist eine neue Zivilisationskrankheit. Spitzer leugnet nicht, dass die ausgewogene (auch altersbezogene) Nutzung der Digitaltechnik durchaus positive Effekte hat: Er verurteilt jedoch die Auswüchse der Techniknutzung. Es sei wie in der Medizin: „Die Dosis macht das Gift.“
Bei Kleinkindern gelten hinsichtlich der Dosis andere Maßstäbe als bei Jugendlichen und Erwachsenen. „Setzt man Kinder … vor den Bildschirm, bleiben sie in ihrer Sprachentwicklung zurück.“ Dagegen wirke sich das glücklicherweise immer noch praktizierte dialogische Lesen analoger Bücher positiv auf die Sprachentwicklung aus. Spitzer beschreibt, wie sich das Gehirn in den ersten Lebensjahren entwickelt und welche negativen Auswirkungen der frühe Umgang mit digitalen Medien haben kann.
Nach Spitzers Beobachtungen verbessern die digitalen Medien an unseren Schulen weder das Lernen noch die Schulleistungen. Tastaturschreiben wirke sich negativ auf die Lesefähigkeit aus. Digitale Informationstechnik lenke ab und schade der Konzentration und Aufmerksamkeit. Die intensive Nutzung digitaler Medien bewirke zudem eine Verkürzung der Schlafdauer und eine Verminderung der Schlafqualität.
Fazit: Manfred Spitzer greift ein wichtiges gesellschaftliches Problem an. Er beschreibt schonungslos die Auswirkungen eines unkontrollierten und überdosierten Umgangs mit den digitalen Medien. Im etwas zu knapp geratenen letzten Kapitel „Was tun?“ skizziert er leider nur recht allgemein gehaltene Gegenmaßnahmen. Hierzu gehören u.a. Aufklärung über Fehlverhalten, Einschränkung der Nutzung, Selbstkontrolle, Verbote, Alternativen aufzeigen und Erlebnisse in der realen Welt schmackhaft machen. Alles sicher richtig. Aber eine überzeugende, praktikable Therapie für den souveränen Umgang mit der neuen Krankheit Cyberstress und Cybersucht ist dies nicht. Wir stehen offenbar dieser Krankheit immer noch recht hilflos gegenüber. Letztlich sind gesellschaftliche Umkehrprozesse erforderlich, die wohl über viele Jahre laufen müssen.

Prof. Dr. Robert Fieten,
fachlicher Berater der Beschaffung aktuell, Köln
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