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Ansätze zur Begegnung steigender Versorgungsrisiken

Hedged Sourcing mittels additiver Fertigung
Ansätze zur Begegnung steigender Versorgungsrisiken

Durch den Zusammenbruch globaler Lieferketten wurden sonst gut verfügbare Güter zu versorgungskritischen Engpässen. Dabei zeigte sich, dass additive Fertigung diese Engpässe abmildern kann. Die Forscher der BW-Uni in München untersuchten, wie die Nutzung additiver Bezugsquellen das Beschaffungsrisiko von Sachgütern verändern kann. Erfahren Sie mehr über die Untersuchung und deren Ergebnis, wie man das Verfügbarkeitsrisiko minimiert.

Die Frequenz und Intensität von Lieferkettendisruptionen sind stetig angestiegen. Dies ist einerseits auf eine erhöhte Dynamik und Komplexität in den Lieferketten zurückzuführen, andererseits auf die hohe Verwundbarkeit von im Zeitablauf immer ausdifferenzierteren, komplexeren und global weiter verteilten Lieferketten mit langen Lieferzeiten bei geringem Eigenfertigungsanteil.

Dies konnte in jüngster Vergangenheit an mehreren Beispielen beobachtet werden. Nachdem eines der größten Containerschiffe der Welt im viel befahrenen Suezkanal stecken blieb und diesen für mehrere Tage blockierte, standen Frachtschiffe Schlange oder umfuhren den gesamten afrikanischen Kontinent. Die Corona-Pandemie hat in Teilen der Welt und besonders in China, wo eine „No Covid Strategie“ durchgesetzt wird, zu enormen Lieferausfällen durch temporäre Schließung von Unternehmen, Fabriken und Logistikzentren geführt. Die geopolitischen Spannungen in europäischer Nachbarschaft führen zu einem Rückzug von Unternehmen aus dem russischen Markt und einer Neuausrichtung der Lieferkette. Zudem prognostiziert die World Meteorological Organization infolge des Klimawandels regelmäßigere und intensivere Disruptionen aufgrund ansteigender Extremwetterereignisse.

Potenziale additiver Fertigung

Versorgungssicherheit rückt damit immer stärker in den Fokus des Beschaffungsmanagements, das Engpassmanagement wird zum zentralen Faktor. Logistikdienstleister haben dies bereits erkannt, so bietet beispielsweise die DB Schenker AG nun ein digitales Warenlager an, das physische Bestände durch „digitale Bestände“ mit neuen, additiven Fertigungstechnologien substituiert. Hierbei wird zunächst geprüft, ob sich ein Bauteil (auch) mittels additiver Fertigung herstellen lässt (technische Machbarkeitsprüfung). Im Anschluss werden nur noch digitale Konstruktionsdaten „eingelagert“, Engpass- bzw. Fehlteile werden kurzfristig in lokalen Hubs mittels additiver Fertigung bereitgestellt. So können trotz Lieferengpässen im klassischen Lieferweg dringend benötigte Bedarfe rechtzeitig geliefert werden. Dieses Geschäftsmodell verdeutlicht das Potenzial additiver Fertigung (AM) für (funktionale) Bedarfe mit hohem Versorgungsrisiko als Risikobewältigungsstrategie der traditionellen Lieferkette (TM).

Konzeption eines Portfoliomodells

Dies führt zu einer Verschiebung der Versorgungsrisiken, wie die durchgeführte Delphi-Studie mit 30 Experten im Bereich AM und Beschaffung aufweist (s. Abb. 1).

Die Stückkosten der additiven Fertigung (AM) sind im Vergleich zu dem auf Effizienzpotenzialen ausgerichteten Lieferweg TM zwar teurer, besitzen jedoch aufgrund von geografischer Dezentralisierung und verminderter Vorlaufzeit eine erhöhte Reaktionsfähigkeit als Bezugsquelle – sie werden deshalb diese nicht grundsätzlich substituieren, sondern – zur Vermeidung von Lieferausfällen und den damit verbundenen Fehlmengenkosten – ergänzen.

Abbildung 2 (linke Seite) verdeutlicht, dass insbesondere geringe Bedarfsmengen mit hohem Versorgungsrisiko sehr viel stärker über eine Lieferkette AM substituiert werden sollten. Hingegen eignet sich für mittlere bis hohe Bedarfsmengen bei gleichzeitig hoher Risikoposition eine Absicherungsstrategie der Lieferkette TM mittels AM („Hedging“). Dieser Fall soll nachfolgend betrachtet werden.

Wirkung des Hedgingansatzes

Beide Lieferkettenstrategien besitzen gegenläufige Risikopositionen. AM besitzt eine kurze Vorlaufzeit, lange Zykluszeiten und daraus resultierend hohe Stückkosten. Außerdem wird ausschließlich Rohmaterial (i. d. R. Pulver) benötigt, um mit nur einer Universalmaschine ohne Werkzeuge eine Vielzahl unterschiedlicher Bedarfe herzustellen. Da verschiedene Bauteile in demselben Bauprozess gleichzeitig hergestellt werden können, treten Verbundeffekte auf. Hinzu kommt, dass durch die ausschließlich digitale Lagerhaltung die Kosten physischer Lagerhaltung minimiert werden, zumal sich Bedarfe anhand der digitalen Daten einfach modifizieren lassen. Eine dezentrale Fertigung erlaubt eine lokale Versorgungsstrategie in Endkundennähe. AM erlaubt zudem eine vereinfachte Eigenfertigung, wie es bspw. im Rahmen des Maker Movement praktiziert wird. Hierbei konstruieren und fertigen Endkunden Eigenbedarfe mithilfe AM.

Im Gegensatz dazu sind traditionelle Versorgungswege durch lange Vorlaufzeiten, kurze Zykluszeiten und deutlich geringere Stückkosten gekennzeichnet, welche zumeist auf Spezialmaschinen und spezifische Werkzeuge mit hohen Skaleneffekten zurückzuführen sind. Dies bedarf der physischen Lagerhaltung von Vor- und Halbmaterialien, welche im Global Sourcing bezogen werden.

In Analogie zum finanziellen Risikomanagement kann eine Risikobetrachtung der beiden Lieferkettenalternativen stattfinden. Das Zielbild einer wirtschaftlichen Beschaffung stellt die Verfügbarkeit zu den günstigsten Bedingungen dar, deren Abweichung als Versorgungsrisiko deklariert ist. Dabei bedient man sich der aus Finanzanlagen bekannten Portfoliotechnik (vgl. Abb. 2, rechte Seite). Finanzanlagen, die nicht vollständig korreliert sind, können so kombiniert werden, dass das Gesamtrisiko durch den Diversifikationseffekt minimiert wird. Je negativer die beiden Anlagealternativen korrelieren, desto geringer ist die Risikoposition des Portfolios. Wenn eine Korrelation von p = –1 erreicht wird, kann das unsystematische Risiko (für welches beide Bezugsquellen nicht gleichermaßen sensitiv sind) theoretisch vollständig eliminiert werden, was zu einem ein risikofreies Portfolio, das keine Streuung vom Erwartungswert aufweist und als deterministisch angesehen werden kann. Der Aufbau einer gegnerischen Position, die so negativ wie möglich mit der aktuellen Risikoposition korreliert wird als Hedging bezeichnet.

Und dies lässt sich analog auf ein „Lieferkettenportfolio“ übertragen: Die Gegensätzlichkeit der Lieferketten AM und TM, die somit ein Lieferketten-Hedging in Form einer Absicherung TM mittels Lieferkette AM erlaubt. Die hierbei erforderlichen Initiierungskosten (TK) für den Aufbau der zweiten Bezugsquelle können bei der Lieferkette AM aufgrund von verminderter Faktorspezifität (digitale Speicherung des Fertigungswissens als CAD-Daten, fehlende Werkzeuge, generalistische Bediener, …) reduziert werden.

Die Wirkung des Hedgings TM mit AM konnte im Rahmen eventbasierter Lieferkettensimulationen des Zentrums für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr (dtec.bw) nachgewiesen werden.

Praktische Anwendung bei Lieferkettendisruptionen

Im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie konnte die Nutzung AM als Instrument der Risikobewältigung in der Beschaffung von Engpassartikeln beobachtet werden. Hierzu wurden multiple Fälle aus Deutschland, Großbritannien und Italien analysiert, bei denen funktionale Bedarfe wie Beatmungsventile und persönliche Schutzausrüstung wie Face Shields beobachtet werden.

Das prominenteste Beispiel stellt das italienische Krankenhaus aus der Region Brescia dar. Dieses benötigte Ventile für die Beatmung von Patienten, die von einem globalen Lieferanten aus Großbritannien bezogen wurden. Aufgrund der angestiegenen Nachfrage sowie globaler Transporteinschränkungen und Grenzschließungen konnten diese über die Lieferkette TM nicht mehr bezogen werden.

Als die Ventile auszugehen drohten, initiierte das Krankenhaus eine lokale Bezugsquelle für Ventile mittels eines lokalen AM-Dienstleisters. Hierzu wurden die noch vorhandenen Ventile digital eingescannt und innerhalb von 24 Stunden Prototypen gefertigt, wobei aufgrund der Notfallsituation Risiken der Verletzung digitaler Eigentumsrechte sowie Produkthaftung eingegangen wurden. Nach kurzer Zeit konnte die Produktion auf etwa 100 funktionsfähige Ventile pro Tag erhöht werden, wobei sich die durchschnittlichen Stückkosten AM auf etwa zwei Euro pro Ventil beliefen. Die proaktiv initiierte lokale Bezugsquelle blieb zwei Wochen aktiv, da nach dieser Zeit der Lieferant TM wieder lieferbereit war.

Anhand der multiplen Fallstudie wurde ein Reaktionsplan mittels AM auf eine Lieferkettendisruption TM entwickelt. Abbildung 3 (oben) zeigt zunächst den Verfügbarkeitseinbruch TM ohne einen Hedgingansatz. Durch ein Hedging mittels Lieferkette AM kann dieser Verfügbarkeitseinbruch nach kurzer Reaktionsdauer zur Aktivierung der Bezugsquelle AM reduziert werden. Hierbei konnte ein sequenzielles Vorgehen in einer Lieferkettendisruption zur Erreichung eines wirtschaftlichen Optimums aus Verfügbarkeit pro Gesamtkosten je Disruptionsphase abgeleitet werden (siehe Abb. 3, unten). Zunächst erlaubt eine interne Bezugsquelle AM die schnellste Reaktionszeit, wodurch akute Bedarfe gedeckt werden können. Mit zunehmender Disruptionsdauer kann eine Skalierung mittels externen AM-Bezugsquellen erreicht werden. Mit Wiederherstellung der Bezugsquelle TM muss schließlich die Versorgung TM AM abgestimmt werden, wobei der Anteil AM schrittweise heruntergefahren wird, um die in Aufbau befindliche Bezugsquelle AM abzusichern.

Fazit und Ausblick. Die anhaltende Dynamik globaler Lieferketten bedarf bereits in der Planungsphase ein hohes Maß an Antizipation möglicher Ereignisse. Hierbei erlaubt ein Hedging der Lieferkette TM mittels AM, das Flexibilitätspotenzial einer zusätzlichen reaktionsfähigen Lieferkette zu einem späteren Zeitpunkt abzurufen, womit eine erhöhte Anpassungsfähigkeit des Versorgungssystems gegenüber Disruptionen erreicht wird.


Förderung

Dieser Artikel wurde durch dtec.bw – Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr gefördert. Die Erkenntnisse entstammen dem Projekt LogSimSanDstBw, das das Ziel hat eine simulationsbasierte Analysefähigkeit für Versorgungsketten der Bundeswehr bereitzustellen.


Die Autoren:

Matthias M. Meyer

M.Eng., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr (dtec.bw) und Doktorand am Arbeitsgebiet Beschaffung der Universität der Bundeswehr München mit dem Forschungsschwerpunkt Additive Fertigung und Supply Risk Management.


PD Dr. Andreas H. Glas

ist Leiter des Forschungszentrums für Defense Acquisition & Supply Management (DASM) im Arbeitsgebiet Beschaffung der Universität der Bundeswehr München.


Prof. Dr. Michael Eßig

ist Professor und Direktor des Arbeitsgebiets Beschaffung der Universität der Bundeswehr München.


 

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