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Warum Pseudo-Wissenschaftler und manche Journalisten mehr schaden als nutzen

„Distinguished Scholar Award“ für Prof. Dr. Lutz Kaufmann
Warum Pseudo-Wissenschaftler und manche Journalisten mehr schaden als nutzen

Prof. Dr. Lutz Kaufmann von der WHU – Otto Beisheim School of Management ist als erster Wissenschaftler einer kontinentaleuropäischen Institution von der Academy of Management für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden. Wir haben den 56-Jährigen nach seinem MBA-Kurs „Negotiations for Managers & Entrepreneurs“ in Vallendar getroffen und über den Preis sowie Wert von Forschung gesprochen. Kaufmann hat Klartext geredet – auch über Journalisten.

Beschaffung aktuell: Sie haben im August den „Distinguished Scholar Award“ erhalten. Damit würdigt die altehrwürdige Academy of Management mit Sitz New York das Lebenswerk der Preisträger in den verschiedenen Fachkategorien der Managementforschung. Kommt das dem Oscar für den besten Filmemacher gleich?

Lutz Kaufmann: Ja! Für mich fühlt sich das genauso an. Mehr kann ich in meiner Karriere kaum erreichen. Die Academy of Management wurde 1936 gegründet und hat weltweit rund 20.000 Wissenschaftler als Mitglieder. Das ist der mit Abstand renommierteste derartige Verband.

Bemerkenswert ist auch, dass der Preis zum ersten Mal an einen Wissenschaftler einer kontinentaleuropäischen Institution vergeben wurde. Warum erst jetzt?

Kaufmann: Gute Frage, das sollte besser die Jury beantworten (lacht). Sagen wir so: Seit mehr als 25 Jahren bewege ich mich in der internationalen Wissenschaftscommunity und habe viel für die Disziplin Supply Management getan. Dafür gab es bereits einige internationale Preise für Forschungsarbeiten. Und meine Doktoranden haben etwa 20 weltweite Preise für Dissertationen gewonnen, das ist bei 40 Doktoranden über 20 Jahre hinweg eine hohe Quote. Ein Aspekt, wenn auch ein weniger bedeutender, ist mein Engagement als European Editor des Journal of Supply Chain Management, das im Beschaffungs- und Logistikbereich weltweit führende wissenschaftliche Journal.

Die Arbeit mit Ihren Doktoranden bedeutet Ihnen offenbar sehr viel?

Kaufmann: Oh ja! Es ist auch klasse zu sehen, wie meine Doktoranden dann in Praxis und Wissenschaft Karriere machen.

Können Sie Beispiele nennen?

Kaufmann: Peter Körte ist inzwischen Chief Technology & Strategy Officer von Siemens, Sebastian Kreft hat die Handelsplattform metalshub gegründet, Thomas Germer war CPO bei großen Versicherern und ist nun beim ADAC. Jiachun Lu lehrt derzeit als Junior-Professorin an der WHU.

Sie haben in Gießen studiert, dort 1993 promoviert und 2001 habilitiert. Und nun der Preis. Kann man eine solche Karriere in der Wissenschaft planen?

Kaufmann: Nein! Keiner dieser Schritte war zu erwarten. Ich war der Erste in der Familie, der Abitur gemacht hat. Ich bin nur mit meiner Mutter aufgewachsen; aus finanziellen Gründen war ein Studium nicht selbstverständlich. Nach dem Studium wollte ich in die USA und habe dort dank eines Fulbright-Stipendiums einen MBA machen können. Nach der Promotion wollte ich von der Uni zunächst nichts mehr sehen und bin länger in die unternehmerische Praxis gegangen. Alles also nicht gradlinig nach heutigen Standards. Aber mit den entsprechenden Werten und festem Willen kann das jeder schaffen.

Wie haben sich die Themenstellungen der internationalen Supply-Chain-Forschung über die Jahre hinweg verändert?

Kaufmann: Vereinfacht gesagt: Vor zehn Jahren lag der Fokus überall vorrangig auf Global Sourcing und Organisationsthemen, heute sind es Risk, Sustainability und AI. Man schaut im Prinzip aber auch immer noch auf ähnliche Themen, wendet aber neuere Untersuchungsmethoden an. Beispielsweise wurden früher nur Korrelationen gerechnet, heute stehen auch Konfigurationen, komplexe Zusammenspiele verschiedener Faktoren, im Vordergrund. Und als Empiriker betrachten wir auch psychologische Aspekte, wenn wir uns mit Führungskräften befassen. Das ist in meinem Bereich wesentlich. Im April 2020 haben Sie ja in der Beschaffung aktuell über unsere Erkenntnisse hinsichtlich dunkler Persönlichkeitsmerkmale von Einkäufern berichtet.

Ja, diese Story hat großes Echo gefunden. Ich verstehe aber nicht, warum erst jetzt der Verhaltensaspekt in der Beschaffung so systematisch untersucht wird. Einkauf ist keine neue Disziplin und Verhandlung ist Alltag.

Kaufmann: Das stimmt. Aber erst mit der weltweiten Globalisierung und zunehmend verzweigten Lieferketten ist die Bedeutsamkeit der Schnittstellenfunktion eines professionellen Einkaufs sehr deutlich hervorgetreten und damit auch für Wissenschaftler interessanter geworden. In der Lehre geht es mir nicht darum, E-Procurement zu erklären. Mir ist wichtig, den angehenden Führungskräften, Gründern, Beratern oder Investmentbankern Wertschätzung für den Einkauf zu vermitteln. Sie alle sollen später in der Lage sein, den Einkauf aus strategischer Perspektive heraus zu röntgen. Dazu gehört es zum Beispiel für einen MBA auch zu wissen, welche Skillsets für bestimmte Aufgaben im Einkauf benötigt werden und wie man das Spend to Sales Ratio berechnet, bewertet und beeinflusst.

Schlagen sich Studierende noch mit unhandlichen Lehrbüchern herum?

Kaufmann: Nein, zumindest nicht an der WHU. Lehrbücher sind für mich schon lange eine starre, überkommene Einheit, die immer der Aktualität hinterher läuft. Hart ausgedrückt: Wer heute noch Lehrbücher schreibt, hat meist in der Forschung nicht viel zu sagen. Ich stelle ein aktuelles Reading-Package zusammen. Klar sind da Klassiker wie Kraljic aus dem Havard Business Review dabei. Aber wichtig zu lesen und zu verfolgen sind vor allem aktuelle Berichte, etwa wie Toyota den Chip-Mangel angeht. Bei uns ist alles ausschließlich auf Englisch.

Die WHU ist durch weltweite Vernetzung und unzählige Projekte mit Unternehmen nah an den Praktikern. Verstehen die Praktiker überall den Wert von Forschung?

Kaufmann: Nein, das tun sie nicht, das ist auch schwer für diejenigen, die bisher noch keinen Bezug zur betriebswirtschaftlichen Forschung hatten. Dabei gibt es eine ganze Reihe Kollegen in Deutschland und in der Schweiz, die spannende Projekte bearbeiten und bieten. Ich meine aber, dass es eher Journalisten sind, die den Wert von Forschung nicht kennen oder ihn bewusst untergraben.

Interessant … wie meinen Sie das?

Kaufmann: Ich spreche hier nicht nur für mich, sondern für viele Kollegen, die zum einen mangelndes Bewusstsein für Qualitätsjournalismus beklagen und andererseits den beängstigenden Abbau von Qualität in bestimmten Medien. Ich finde es enttäuschend, dass viele Journalisten bestimmte Professoren für manche Industrien zu Päpsten hochjubeln, die in der Forschung noch kein einziges Tor geschossen haben, um es platt auszudrücken. Ergebnis sind professorale Sprechpüppchen mit kommerziellen Eigeninteressen. Klar werden bei der Recherche auch aus meiner Sicht seriöse Wissenschaftler befragt. Aber wenn deren Aussagen dann wieder stark verkürzt wiedergegeben und ins Narrativ des Journalisten gepresst werden, wird es gefährlich. Raus kommen Sprüche wie aus Glückskeksen, auf dem Niveau von „Bier macht keine Rotweinflecken“. Und wer als Professor dieses fremde Narrativ bereitwillig munter bedient, wird halt gerne immer aufs Neue gefragt und gezeigt. Das Problem: Zuhörer und Zuschauer sind ja auch unsere angesprochenen Praktiker … So wird man dem von Ihnen angesprochenen Wert der Forschung und was sie auch für die Praxis leistet, nicht mal annähernd gerecht.

Wissenschaft ist die eine Seite. Einkauf schafft es generell nicht über Fachmedien hinaus in Wirtschaftsmagazine oder den Wirtschaftsteil der Tageszeitungen, es sei denn, es geht um vermeintliche Lieferantenverfehlung, Preisdrückerei, Korruption oder arge Verknappungen, die Unternehmen in Handlungsnot bringen. Negativmeldungen also.

Kaufmann: Ja, und auch das wirft ein Licht auf den Journalismus. Eigentlich sollte Lesern, Zuhörern und Zuschauern ja auch der Mörtel zwischen den Steinen erklärt werden. Das passiert aber nicht, weil es nicht spannend genug klingt und weniger Klicks bringt. Dann kommt auch noch der pseudo-wissenschaftliche Auto-Papst und schiebt die Verantwortung für die Chip-Krise auf Einkäuferversagen. Da geht es dem Einkauf wie der Wissenschaft: Beide Disziplinen bringen vieles voran, das allerdings weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit.

Die Pandemie wäre eigentlich eine gute Chance gewesen, den Einkauf selbst neu auch in den großen Medien und auch bei der seinerzeit verzweifelten Bundesregierung zu positionieren.

Kaufmann: Aber es nützt nichts, das zu beklagen. An der WHU denken wir eh immer nach vorne und in nicht ganz üblichen Kategorien. Unsere Absolventen wissen wie gesagt um den Wert des Einkaufs, und viele haben früh mit Geschäftsideen Erfolgsgeschichte geschrieben, bei denen auch Einkauf eine große Rolle spielt. Aktuelles Beispiel: Das Berliner Tech-Start-up Enpal ist jetzt im Oktober nach einer kürzlich erweiterten Finanzierungsrunde schon das 13. Einhorn, das von Absolventen der WHU gegründet wurde.

Sie denken nicht in üblichen Kategorien – das betrifft auch das andere Verständnis von „Lehrstuhl“.

Kaufmann: An der WHU denken wir in Programmen, die von Abschlüssen bestimmt werden. Unsere „Produkte“ sind also Bachelor, MBA, Global Online MBA, Master, Doctoral Degree etc. … Einkaufsthemen sind in allen Programmen der WHU – von Bachelor bis MBA – verankert.

Neben Einkauf lehren Sie auch Verhandlungen. Wie ist das organisiert?

Kaufmann: Ich führe dann zum Beispiel für den Fulltime MBA den Negotiations-Kurs und im Global-Online-MBA Programm einen Sourcing-Kurs gemeinsam mit Prof. Dr. Felix Reimann durch. Ein Negotiations-Kurs im Bachelor sieht logischerweise anders aus als im MBA – aber immer müssen die Teilnehmenden in Rollenspielen die Perspektive eines Einkäufers einnehmen und dann beim nächsten Mal die des Lieferanten.

Mit Psycho-Spielchen und Preisdrückerei?

Kaufmann: Nein. Herkömmliche „Kneipenschlägerei“ war noch nie unsere Spielwiese. Aber auch das sogenannte Harvard-Konzept ist so alt wie der Golf II (lacht). Wir nutzen neue Forschungserkenntnisse. Bei uns geht es um Timing, Bildung von Konstellationen und um Intelligenz in ganz speziellen Situationen.

Für Beschaffung aktuell führte Sabine Ursel das Interview.


Lutz Kaufmann und die WHU

Im Forschungsfeld der empirischen SCM-Forschung zählt die WHU seit Jahren weltweit zu den Top 10-Forschungsinstitutionen. Forschungsschwerpunkte des 56-jährigen Prof. Dr. Lutz Kaufmann sind B2B-Verhandlungen und Beschaffungsmanagement. An der WHU lehrt und forscht er seit 2001. In dieser Zeit war er für je fünf Jahre Associate Fellow an der Oxford University und Aufsichtsrat bei einem Zulieferer. Er wurde mit zahlreichen internationalen Forschungspreisen und an der WHU mit einer zweistelligen Zahl an Best Teacher Awards ausgezeichnet. 2021 erhielt Kaufmann den „Distinguished Scholar Award“ der New Yorker Academy of Management für seine eigenen Forschungsarbeiten zu Geschäftsverhandlungen und Einkaufsmanagement sowie für seine Leistungen für Nachwuchswissenschaftler. Unter anderem wurde er 2010 auch für das von ihm konzipierte und geleitete, beste maßgeschneiderte Executive-Programm in Europa (von WHU und Oxford für MAN) ausgezeichnet.

Weitere Infos:

www.whu.edu

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