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Den Einkauf völlig umgekrempelt

André Schommer, Chief Procurement Officer, Dürr Systems
Den Einkauf völlig umgekrempelt

André Schommer hat den Einkauf des Lackier- und Anlagenspezialisten Dürr Systems modernisiert und neu aufgestellt. Vom OEM kommend, brachte Schommer die Kundensicht in den Einkauf und baute eine Matrixorganisation auf. Welche Ziele der neue CPO für den Dürr-Einkauf verfolgt und wie er die Transformation vorantreibt, schildert er im Interview mit Beschaffung aktuell.

Das Gespräch führte Annette Mühlberger.

Herr Schommer, Glückwunsch zur neu geschaffenen Position eines CPO von Dürr Systems! Ihr Einstieg bei Dürr im März 2020 war nicht eben einfach. Sie starteten in der Division Lackieranlagen ja quasi gleichzeitig mit der Pandemie.

André Schommer: Das stimmt. Im März 2020 erlebten wir zwei Wochen Business as usual und seitdem ist Krise. Für uns waren die Grenzschließungen das erste Fiasko, weil wir ja die Monteure aus ganz Europa auf unsere Baustellen bringen mussten. Also mutierte der Einkauf sehr schnell zum Spezialisten in Grenzfragen. Die Organisation hat die Situation damals sehr schnell angenommen und das hat mir gezeigt: Wir haben ein hoch motiviertes, ausgesprochen flexibles Team, das in der Lage ist, auch ohne Blaupause neue Herausforderungen bravourös zu meistern.

Sie haben sich trotzdem entschieden, den Dürr-Einkauf umzukrempeln. Warum?

Schommer: Das hat mehrere Gründe. Zunächst habe ich von meinen früheren Tätigkeiten beim OEM den Kundenblick auf den Einkauf eines Tier-1 ins Unternehmen gebracht. Das heißt, ich wusste durch meine Tätigkeit unter anderem im Daimler-Einkauf sehr genau, wie Automobilhersteller die Leistungsfähigkeit ihrer Lieferanten bewerten. Ich hatte also die Audit-Brille auf und ich kannte die OEM-Anforderungen an die Lieferantenbasis als Innovationstreiber, wozu nach heutigem Verständnis ein leistungsfähiger, moderner Einkauf gehört. Versteht sich der Einkauf als Bestellorganisation oder als aktiver Part der Wertschöpfung? Das war die Frage, mit der ich an meine Aufgabe von Anfang an herangegangen bin.

Und wie lautete Ihre Antwort?

Schommer: Auf dem Weg dorthin gab es zwei Trigger. Grundsätzlich versuche ich bei einer neuen Herausforderung stets sehr schnell die Essenz der Aufgabe zu erkennen, das Wichtige vom weniger Wichtigen zu trennen und die richtigen Leute zu mobilisieren. Und ich war bestrebt, vom Management sehr schnell das Signal zu erhalten: Sind wir für das Unternehmen mit diesem Ansatz auf dem richtigen Weg? Hierfür habe ich ein 100 Tage Programm entwickelt mit einer Reifegradbewertung des Einkaufs. Was wir dabei erkannt haben, war: Wir hatten großen Nachholbedarf sowohl in der crossdivisionalen Zusammenarbeit der drei Geschäftsbereiche von Dürr Systems als auch bei den für den Wertbeitrag entscheidenden Hebeln im Einkauf, nämlich Prozesse, Strategie und Methodik. Aus dieser Bestandsaufnahme entstand die Initiative, die wir mittlerweile auf alle Divisionen von Dürr Systems ausgerollt haben. Zuvor war der Einkauf nicht nur mit einem vor allem operativen Fokus unterwegs, sondern auch rein divisional und das galt es zu verändern.

Das hört sich nach einem großen Rundumschlag an. Wie sind Sie vorgegangen?

Schommer: Wir haben bewusst nicht mit einem Big Bang begonnen, sondern mit einem methodischen Schulterschluss. Hierfür haben wir im Einkauf zunächst ein Center of Excellence für spieltheoretische Vergabemethoden geschaffen. Die spieltheoretisch gestützten Vergaben (am Anfang haben wir das ganz simpel über unsere Mobiltelefone gesteuert, heute haben wir hierfür ein Tool), wurden crossdivisional aufgesetzt – mit sehr schnellen Erfolgen auf den Beschaffungsmärkten und über alle Warengruppen hinweg. Dadurch hat das divisionale Management das Potenzial der Zusammenarbeit und der Methodik für die Beschaffung sehr schnell erkannt. Auch die Schmerzpunkte wurden offengelegt. Mal war das Engineering der Flaschenhals, mal der Einkauf. Das war ein Wachrütteln, ja ein Wachküssen. Alle haben gesehen: Wir haben sehr viel mehr gemeinsam, als wir dachten und wir erreichen über eine enge Zusammenarbeit und die richtigen Methoden im Einkauf sehr viel mehr, als wenn wir nur möglichst schnell und effektiv unsere Bestellungen abarbeiten. Aus dieser Erkenntnis entstand die High-Performance-Procurement-Initiative, mit der wir vor einem Jahr, im April 2021 gestartet sind.

Wie sieht die Einkaufswelt bei Dürr Systems im April 2022 aus?

Schommer: Wir arbeiten seit einem Monat in einer Matrixorganisation. Zu den Zentralbereichen gehört der Projekteinkauf, mit klarem Fokus auf Projektmanagement und der Vertretung der Einkaufsinteressen im Projektteam sowie das Procurement Engineering Management als Schnittstelle zur Technik. Ebenfalls zentral organisiert ist das crossdivisionale Warengruppenmanagement sowie der Bereich Procurement Excellence für Methoden und Prozesse. Parallel laufen die Stränge des divisionalen Einkaufs mit seinen operativen Verantwortlichkeiten. Wir haben uns einige Organisationsmodelle angeschaut und uns sehr bewusst für diesen Mittelweg aus dezentralem und zentralem Einkauf entschieden.

Warum ist die Matrix für Dürr optimal?

Schommer: Zum einen, weil wir wissen, dass das P2P-Business in den Divisionen sehr gut aufgehoben ist. Das funktioniert, da wollen wir nicht eingreifen. Wir setzen zentral die Standards, harmonisieren und digitalisieren die Bestellprozesse. Aber die operative Verantwortung bleibt in den Divisionen, die nah dran sind am Business. Gleichzeitig macht es Sinn, strategisch in der Beschaffung für die gesamte Dürr Systems zu agieren und mit den Lieferanten übergreifend zu verhandeln. Hierfür schaffen wir die notwendige Transparenz, harmonisieren unsere Warengruppenlogik, die Lieferantenbewertung, das Onboarding, die Rahmenverträge und konsolidieren die Lieferantenbasis. Und wir können die aktuell knappen Kapazitäten bei den Lieferanten für die gesamte Gruppe ganz anders steuern und verteilen anstatt uns gegenseitig die Kapazitäten „wegzukaufen“.

Welches Zielbild verfolgen Sie für den Einkauf?

Schommer: Der Einkauf war bei Dürr Systems viele Jahre eher Mittel zum Zweck im Rahmen der Projektabwicklung. Dabei macht das Einkaufsvolumen zwei Drittel unseres Umsatzes aus. Dieses Bewusstsein bestimmt unsere Vision „Driving the Value Chain“, passend zum Förderbusiness, die Vision eines Einkaufs als Wert- und Innovationstreiber. Um dieses Zielbild zu erreichen, genügt es nicht, sich einfach nur neu aufzustellen. Dafür müssen wir unsere Ablauforganisation verändern und unseren methodischen Werkzeugkasten erweitern. Ziel ist eine Balance in der globalen Beschaffung, eine Ausgewogenheit zwischen regionalen und globalen Strategien. Hierfür rollen wir ein gruppenweites SRM-System aus, das uns systemseitig unterstützt.

Wo liegen aus Ihrer Sicht die größten Potenziale?

Schommer: Zum einen liegen große Hebel in den Vergabemethoden, in der Vertragsgestaltung, der Harmonisierung der Zahlungsbedingungen, im globalen Warengruppenmanagement, in der konsequenten Bündelung und dem Multisourcing. Zum anderen aber auch in der engen Zusammenarbeit mit der Fachseite. Im Maschinenbau, in den Divisionen, in denen wir anders als im Anlagengeschäft Lastenhefte entwickeln, bringen wir Einkauf und Technik näher und früher zusammen. Es gilt Spezifikationen aus der Entwicklung nicht mehr ungefragt zu übernehmen, sondern die Kollegen und Kolleginnen der Technik aus dem Einkauf heraus in Bezug auf kostenoptimierte Fertigungsverfahren, Lokalisierung oder Fertigungsumfänge mit unserem Einkaufs-Know-how zu beraten und zu begleiten. Dazu gehört das Scouting neuer Lieferanten genauso wie Beschaffungsmarktanalysen, die Ermittlung optimaler Losgrößen oder die Reduktion von Komplexität in der Lieferkette. Aus dem Procurement Engineering begleiten wir den Produktentstehungsprozess deutlich enger als das bislang der Fall war.

Wie sieht es mit Tools und Systemen aus?

Schommer: Auch hier haben wir eine Roadmap entwickelt, arbeiten im operativen Einkauf für den Übergang mit RPA-Applikationen und durchforsten mittels Processmining unsere Abläufe. Für das avisierte SRM-System starten wir 2022 einen Piloten und wollen den Vernetzungsgrad innerhalb der Dürr-Gruppe erhöhen. Die neu geschaffene Einheit Procurement Excellence setzt dabei die Standards und betreut die Implementierung. Automatisiert werden soll auch die operative Beschaffung in den Divisionen.

Das bedeutet: Es bleibt kaum ein Stein auf dem anderen. Wie haben Sie Ihr Team, Ihre Business-Partner überzeugt?

Schommer: In der Konzernwelt, aus der ich kam, wurden Veränderungen oft per Vorstandsdekret initiiert. Im Übrigen auch nicht immer erfolgreich. Der Mittelstand funktioniert anders. Für die Umsetzung bei Dürr ist die Frage wichtig, warum machen wir das, was ist das Ziel? Wir sind hocheffizient im Design und im Aufbau von Lackieranlagen. Aber in Bezug auf die Beschaffungsprozesse war bei den Businesspartnern die Erkenntnis entscheidend, dass tiefgreifender Handlungsbedarf besteht. Dass mit der Veränderung, wie wir einkaufen und zusammenarbeiten große Potenziale auf der Ergebnisseite verbunden sind. Diese Erkenntnis war der entscheidende Schritt, natürlich auch, um im Vorfeld die Unterstützung des Vorstands zu gewinnen. Den Besorgnissen der Divisionen, dass man den Zugriff auf den Einkauf, auf die Kostenseite verliert, sind wir mit einem Steering-Committee begegnet, in dem wir auf Führungsebene zusammenkommen. Dazu kommen zahlreiche crossdivisionale und crossfunktionale Arbeitspakete, die das gegenseitige Verständnis und Vertrauen befördern. Wichtig ist nicht nur alle zu informieren, sondern alle zu involvieren. Schließlich hat der Einkauf bei Dürr seinen ihm jahrelang zugewiesenen Platz verlassen. Insofern war das durchaus eine Art Kulturclash. Wichtiger Erfolgsfaktor und mir persönliches Anliegen ist die wertschätzende und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Arbeitnehmervertretung. Von der Umstrukturierung sind am Standort circa 80 Einkäuferinnen und Einkäufer direkt betroffen. Den Sorgen, Ängsten sowie dem berechtigten Informationsbedarf zu begegnen ist ein großes Anliegen des Betriebsrates. Stand heute kann ich sagen wir haben das gemeinsam sehr gut gemeistert.

Welche Spielräume hat Dürr in den angespannten Beschaffungsmärkten?

Schommer: Wir verfolgen bereits Multisourcing-Strategien. Aber Re-Sourcing braucht Zeit. Durch neue Automobilwerke, die wir mit unseren Anlagen und Applikationstechnik ausstatten, etwa in der Türkei, konnten wir zum Beispiel neue Lieferanten aufbauen und etablieren, die unser Lieferantennetzwerk erweitern. Die Preisentwicklung müssen wir im Auge behalten und durch Preisgleitklauseln in unseren Verträgen abfedern. Wir arbeiten zunehmend mit Rahmenverträgen, um mehr Stabilität und Verlässlichkeit in unsere Lieferbeziehungen zu bringen. Im Bereich Rohmaterialien und Halbzeuge gibt es verschiedene Initiativen und eine Tool-Unterstützung, die uns erlaubt, sehr granular den Einfluss zum Beispiel der Stahlpreisentwicklung auf unsere Produkte fortzuschreiben. Im Anlagenbau liegen zwischen der Angebotsabgabe und der Auftragsvergabe und damit dem Start der Beschaffung zwischen neun und zwölf Monate. Durch Modelle und Szenarien bilden wir die volatile Preisentwicklung für diesen langen Zeitraum verlässlicher ab.

Neben der Lieferkrise sind das neue Lieferkettengesetz und die Anforderungen an eine nachhaltige Beschaffung Themen, die den Einkauf 2022 beschäftigen. Wie sieht es bei Dürr aus?

Schommer: Im vergangenen Jahr haben wir mit unserem Sustainability Council in Bezug auf diese Themen sehr gut Fahrt aufgenommen und wir haben unsere Lieferketten analysiert. Wir haben untersucht, wo wir stehen und definiert, auf was wir mindestens hinauswollen. Mit Blick auf das Lieferkettengesetz sehen wir uns deshalb im Einkauf gut vorbereitet. Es gibt eine durchgängige Governance-Struktur, wir haben Risikoklassen zugeteilt und führen Lieferantenbewertungen mit Fokus auf Nachhaltigkeitskriterien durch. Wir planen Lieferantenschulungen zu Arbeitsbedingungen und Sozialstandards, schaffen Anreizsysteme für bessere Nachhaltigkeit und führen für Vergaben ein Bonus/Malus-System für nachhaltige Kriterien ein. Wir bieten schon heute eine CO2-neutrale Lackieranlage und haben uns im Einkauf auf die Reduktion der Scope-3-Emissionen um 15 Prozent bis 2030 verständigt. Dies wird nur gelingen in der Zusammenarbeit mit unseren Lieferanten.

Alles in allem ein toughes Programm. Was wünschen Sie sich, Herr Schommer?

Schommer: Wir brauchen weitere fähige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Wir suchen Warengruppenmanager und Managerinnen, Projekteinkäufer und Einkäuferinnen sowie Fachleute für Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Ich kann nur so viel sagen: Wir sind zukunftsfähig aufgestellt und bieten spannende Aufgaben und Karrierepfade.

Ist der Konzernmensch Schommer im Mittelstand angekommen?

Schommer: Auf jeden Fall. Dürr ist ein modernes, dynamisches Unternehmen, global präsent, mit einer Agenda für Digitalisierung und Wachstum, und ist weiterhin dem Unternehmergeist eines Heinz Dürr verbunden. Was bedeutet: Werte wie Verlässlichkeit, Qualitätsbewusstsein und Nachhaltigkeit gehören in 125 Jahren Firmengeschichte zu unserer DNA. Ich schätze auch die kurzen Entscheidungswege und die hohe Entscheidungsgeschwindigkeit sehr – bis hin zum CEO.


André Schommer

Der Maschinenbauingenieur und MBA startete seine Karriere in den USA beim Karosserieentwickler EDAG. 2003 erfolgte der Wechsel zur Daimler AG unter anderem in China und Russland sowie zurück in Deutschland als Head of Supplier Evaluation & Best Cost Country Sourcing der Lkw-Sparte. Für Dürr Systems ist André Schommer seit März 2020 tätig, zunächst als Vice President im Einkauf der Division für Lackieranlagen und jüngst in der Funktion des Chief Procurement Officer der Dürr Systems AG.


Dürr Systems

Die Dürr Systems AG hat ihren Sitz in Bietigheim-Bissingen im Headquarter des Dürr-Konzerns. Das Unternehmen plant und realisiert schlüsselfertige Lackier- und Endmontageanlagen sowie Maschinen- und Robotertechnik für die Automobilindustrie. Hinzu kommen Systeme zur Abluftreinigung und Lackiertechnik.

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