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Chinas Kampf um die Standards

China baut seine Stellung als Normungsweltmacht aus
Der Kampf um die Standards

„Wer die Norm macht, hat den Markt“ wusste schon Werner von Siemens im 19. Jahrhundert. „Internationale Standards zu setzen ist entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit der EU“ bestätigt die EU-Kommission Anfang 2022 – und sieht eben diese Wettbewerbsfähigkeit bedroht.

Das Deutsche Institut für Normung DIN schätzt den gesamtwirtschaftlichen Nutzen der Normung für Deutschland auf rund 17 Mrd. Euro im Jahr. Eine aktuelle DIN-Studie belegt, dass 84 % der in Deutschland produzierenden Unternehmen im globalen Wettbewerb von dem internationalen Normenwerk profitieren. Normenkonformität gilt beispielsweise als geldwertes Qualitätssiegel. Auf der anderen Seite erschweren bestehende Normen den Marktzugang für neue Unternehmen, zumal dieser Zugang durch Patente bzw. marktbeherrschende Standards nicht nur schwierig, sondern auch teuer werden kann. So unterliegt beispielsweise mehr als die Hälfte der international gehandelten Informations- und Kommunikationstechnologie patentierten Standards. Wer sich nicht normgebend durchsetzen konnte, muss in Folge Lizenzgebühren an die Marktführer zahlen. Welche langfristigen Folgen das haben kann, zeigt das historische Beispiel „Standard-Software“. Seit sich Anfang der 80er-Jahre Microsoft im Kampf gegen die damals übermächtige IBM durchsetzen konnte, haben sich die Machtverhältnisse fundamental geändert.

Normen sind mächtiger als Sanktionen

Während Sanktionen und Exportkontrollen, Investitionsscreenings und Schutzzölle in aller Öffentlichkeit diskutiert werden, wirkten Normen und Standards bislang eher im Hintergrund. Inzwischen gelten aber auch sie als Politikum, denn der europäische Vorsprung schmilzt. Dafür gibt es mehrere Gründe. So definiert die Industrie in Europa ihre Normen innerhalb eines vorgegebenen regulatorischen Rahmens überwiegend selbst. Das ist zwar demokratisch und eröffnet eine breite und transparente Stakeholder-Beteiligung, kostet aber Zeit. Und Zeit ist im Angesicht immer kürzerer Innovationszyklen ein erfolgskritischer Parameter.

Chinesische Ingenieure und Entscheider legen nationale Normen dagegen Top-down fest, sprich staatsgetrieben und damit von oben verordnet. Peking geht dabei gründlich vor. So bilden die asiatischen Universitäten nicht nur Forscher und Entwickler aus, sondern gezielt auch eine wachsende Anzahl normbewusster Spezialisten, welche leitende Funktionen in den internationalen Normungsorganisationen anstreben und zunehmend auch besetzen. In Deutschland finden zu diesem Thema dagegen nur vereinzelte Vorlesungen an der TU Berlin statt.

Von 31 auf 64 Komitees

Zwischen 2010 und 2020 hat sich die Anzahl der von Chinesen geleiteten Komitees bei der Internationalen Organisation für Normung (ISO) mehr als verdoppelt; Tendenz steigend. Gleichzeitig wachsen die chinesischen Normungsanträge Jahr für Jahr um ungefähr 20 Prozent.

Dabei setzt das Land der Mitte eigene Schwerpunkte in allen zukunftsorientierten Bereichen: zum Beispiel in puncto künstliche Intelligenz und autonomes Fahren, im Internet der Dinge sowie im Umfeld von Industrie 4.0 und dem Funkstandard 5G. Laut einer Studie der TU Berlin und dem Start-up Iplytics für das BMWi aus dem Jahr 2020 zur globalen Patentsituation für 5G-Technologie ist dieses Feld inzwischen bereits mit Zehntausenden Patenten belegt, die von allen Marktteilnehmern berücksichtigt, bzw. lizenziert werden müssen. Zu den wichtigsten Besitzern solcher Schutzrechte zählen laut der Studie Huawei und Tencent aus China, Mediatek aus Taiwan sowie Samsung und LG aus Südkorea. Aus Europa sitzen nur Ericsson und Nokia maßgeblich mit in diesem Normungsboot.

Aus der Norm wird Marktmacht

Ihren neu gewonnenen Einfluss kann die kommunistische Staatsführung in zukünftigen Markterfolg ummünzen. Dazu dient unter anderem die Initiative der neuen Seidenstraße „Belt and Road“. Auf diesem Weg sollen über Handelskorridore in Richtung Asien, Afrika, auf dem Balkan und in Europa nicht nur Infrastruktur und Produkte, sondern auch Standards exportiert und verankert werden. Aus europäischer Sicht besonders umstritten sind dabei das neue chinesische Internetprotokoll „New IP“. Dieses Protokoll unterstützt eine staatliche Kontrolle des Internets inklusive Massenüberwachung. Parallel dazu treiben chinesische Firmen auch die Standardisierung der Gesichtserkennung voran.

Die Vorbilder haben das Nachsehen

„Im Prinzip macht Peking heute nichts anderes als das, was wir in den 70er-Jahren getan haben, als wir unser Normenwerk nach China exportierten“, meint Christoph Winterhalter, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für Normung (DIN) in einem Interview mit der Welt. „Wenn wir feststellen, dass ein neues Thema zu Schlüsseltechnologien wie Industrie 4.0, Blockchain oder Quantencomputern relevant wird, dann haben sich zum gleichen Zeitpunkt höchstwahrscheinlich bereits mehrere Teams an chinesischen Unis darangesetzt, einen kompletten Normungsvorschlag zu formulieren“, fährt Winterhalter fort und mahnt eine Aufwertung der Normung in der Industrie und Politik an.

Ins gleiche Horn stößt auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI): „Verliert Europa hier an Einfluss, droht ein Rückgang der Nachfrage nach deutschen und europäischen Techniken und damit verbunden der Verlust von Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit“, so die Einschätzung des BDI. Und nicht nur die Asiaten, auch die USA investieren in eindrucksvollen Größenordnungen öffentliche Gelder, um ihren Führungsanspruch in der Standardisierung international zu sichern.

Europa hält inzwischen dagegen

Das Problem ist erkannt, erste Schritte sind eingeleitet: Europa hat im Februar 2022 eine eigene Normungsstrategie veröffentlicht. Die EU setzt dabei nach wie vor auf das Know-how der Industrie bei der Erarbeitung und Durchsetzung von Normen.

Die EU-Kommission plant, zeitnah Normungsaufträge in strategisch wichtigen Bereichen in Auftrag zu geben. Zu diesen Bereichen zählen zuerst einmal die Impfstoff- und Medizinproduktion, das Recycling kritischer Rohstoffe sowie die Produktion von grünem Wasserstoff. Die Finanzierung dieser Arbeiten ist allerdings noch nicht abschließend gesichert. Erschwert werden diese Vorhaben darüber hinaus durch den omnipräsenten Fachkräftemangel, der sich hierzulande auch in der Normung bemerkbar macht. Ein Problem, das in China keine Rolle spielt.

Heterogene Normungslandschaft

Dabei bewegt sich die EU nicht im luftleeren Raum: Auf internationaler Ebene werden Normen von zahlreichen unterschiedlichen Organisationen definiert. Dazu zählen beispielsweise die Internationale Organisation für Normung (ISO), die Internationale Elektrotechnische Kommission (IEC) sowie die Internationale Fernmeldeunion (ITU). Dazu kommen weitere Normensetzer wie der internationale Berufsverband „Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE)“ oder auch das weltweit agierende 3rd Generation Partnership Project (3GPP). Die Vielzahl der Stakeholder, Institute und Unternehmen mit unterschiedlich besetzten Gremien und Prozessen sind eine Herausforderung für ein konzertiertes Vorgehen.

Europäische Normen werden von den Organisationen CEN und CENELEC (Elektrotechnik) sowie ETSI (Telekommunikation) erarbeitet. Deutsche Interessen werden vom Deutschen Institut für Normung DIN vertreten, welches auch Experten in europäische und internationale Gremien entsendet. Auf diesem Weg schaffen es nach wie vor deutsche DIN-Normen, zur europäischen EN-Norm bzw. zum internationalen ISO oder IEC-Standard zu werden.


Michael Grupp

Journalist, Stuttgart

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