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Interview mit Michael Henke vom Fraunhofer IML über die Virtualisierung der Wertschöpfung

Interview mit Michael Henke
„Digitale Netzwerke und Plattformen sind die Zukunft“

Das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML entwickelt mit der Silicon Economy eine offene Plattform zur vollständigen Virtualisierung von Wertschöpfungs-Prozessen für den B2B-Bereich. Im Gespräch mit Beschaffung aktuell erläutert Institutsleiter Prof. Dr. Michael Henke, wie Unternehmen daran teilhaben können und wie sich die Rolle des Einkaufs im Zuge der Digitalisierung verändern wird.

Das Interview führte Ulrike Dautzenberg, freie Mitarbeiterin von Beschaffung aktuell.
Der Termin fand vor Beginn der Corona-Krise statt.

Beschaffung aktuell: Herr Prof. Henke, Sie haben gesagt, ohne digitales Procurement und ohne Optimierung der Lieferkette werde die vierte industrielle Revolution in Deutschland nicht stattfinden. Nur der Einkauf könne als zentrale Schnittstelle zu internen und externen Partnern in der Wertschöpfungskette der Industrie 4.0 den Weg ebnen. Wie weit sind die Unternehmen hierzulande denn inzwischen?

Prof. Dr. Michael Henke: Ja, das habe ich gesagt und ich glaube auch nach wie vor daran, dass der Einkauf eine gute Chance hat, sich im Kontext der 4. Industriellen Revolution als einer der relevanten Treiber zu positionieren. Allerdings sehen sich nach wie vor eher weniger als mehr Unternehmen als Vorreiter; die anderen stehen in der zweiten Reihe und warten noch ab. Insofern glaube ich, dass der Einkauf diese Rolle in vielen Fällen noch nicht bekommen hat.

Beschaffung aktuell: Woran liegt das?

Henke: Ich glaube, das hat verschiedene Gründe. Zum einen mag es daran liegen, dass die anderen internen Stakeholder im Unternehmen dem Einkauf keine ausreichend hohe Kompetenz im Hinblick auf die digitale Transformation zugestehen. Ein weiterer Grund ist vermutlich, dass die Einkaufsorganisation selbst noch nicht so weit ist, um die digitale Transformation voranzutreiben. Das hängt maßgeblich auch damit zusammen, wie der Einkauf incentiviert wird. Solange man dem Einkauf die „Savings-Droge“ verabreicht und die Einkäufer diese auch gerne einnehmen, wird man hier nur schwer das erreichen, was wir in der Wissenschaft als „Ambidexterity“ bezeichnen – einerseits günstig einzukaufen, ohne auf der anderen Seite auf Innovationen zu verzichten. Aber digitale Transformation bedeutet, mit innovativen Ansätzen zu arbeiten, und das ist in der Grundstruktur der Incentivierung der Einkaufsaktivitäten in vielen Unternehmen noch nicht ausreichend angelegt.

Ich glaube allerdings, dass wir sukzessive in die richtige Richtung gehen. Die Frage ist doch, was genau heißt digitale Transformation und wo fängt man an? Ein Stück weit überholen uns ja die technologischen Sprünge und Entwicklungen, die wir machen.

Vor fünf Jahren steckte beispielsweise die Blockchain-Technologie noch in den Kinderschuhen, wurde dann stark gehypt und hochgelobt, inzwischen liegt der Fokus auf Künstlicher Intelligenz und spätestens nächstes Jahr werden wir über Quantencomputer sprechen. Da stellt sich natürlich die Frage, wie der Einkauf mit diesen Entwicklungen sinnvoll umgeht und was davon er wirklich einsetzen muss, um die digitale Transformation zu erreichen.

Meiner Meinung nach ist die Verknüpfung all dieser Technologien der Schlüssel zum Erfolg. Was nicht heißen soll, dass wir diese immer und überall auch vollumfänglich einsetzen. Aber wir müssen die Technologien und ihre Möglichkeiten gänzlich verstehen, um sie dann fallspezifisch gezielt und in Verknüpfung mit bestehenden und neuen Technologien einzusetzen. Wir haben heute schon Beispiele für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, wo sie zur Vertragsanalyse in Unternehmen eingesetzt wird. Es tut sich also etwas. Ich wünschte mir allerdings, es würde sich noch deutlich mehr tun.

Beschaffung aktuell: Welche Rolle spielen die Kosten bei der Digitalisierung des Einkaufs?

Henke: Der Einkauf befindet sich nach wie vor im Spannungsfeld zwischen Kostenoptimierung und der Notwendigkeit, dem Unternehmen Wertbeiträge, gerade über Innovationen zugänglich zu machen. Vereinfacht ausgedrückt ist es doch nach wie vor oft noch so, dass Lieferanten, die Standardprodukte anbieten, im Einstandspreis günstiger sind als Lieferanten, die den letzten Schrei oder die neuesten Innovationen in ihre Vorprodukte oder Dienstleistungen integrieren können. Wenn der Einkauf immer noch als Hauptincentive und auch als Hauptzielgröße Savings hat, dann steht das im Widerspruch zu der richtigen Balance zwischen Kosten und Innovationen. Solange man die Boni allein oder maßgeblich an den Savings festmacht, wird jeder Einkäufer tendenziell demjenigen Lieferanten den Vorzug geben, der die günstigeren Preise anbietet, weil er so die Kosten reduzieren kann. Aber dann hat man eben in der Regel nicht den Lieferanten mit der größeren Innovationskraft.

Natürlich geht es nicht nur um die Einstandspreise – wenn wir zum Beispiel über einen Total-Cost-of-Ownership-Ansatz sprechen, dann ist nicht nur die Innovationskraft der Lieferanten zu berücksichtigen, sondern es müssen noch weitere Zielgrößen in die Balance gebracht werden. So muss der Einkauf gerade heute verstärkt versuchen, bei aller Kostenorientierung auf Sustainability zu achten, also innovative Lieferanten, die gleichzeitig nachhaltig sind. Das ist ein Spagat, aber es gibt durchaus Ansätze, um das zu erreichen. Sie funktionieren aber erst, wenn der Einkauf sich von seinem Savings-Paradigma löst.

Das mag viel verlangt sein, gerade wenn jetzt wieder wirtschaftlich angespanntere Zeiten auf uns zukommen, in denen Unternehmen noch stärker auf die Kosten schauen. Hier besteht die Gefahr, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, bei denen es dann wieder in erster Linie um Kostensenkung geht.

Warum schauen wir uns stattdessen nicht mal ein Incentivierungssystem an, bei dem der Einkauf auch in die strategischen Prozesse des Unternehmens früh eingebunden wird und incentivieren den Einkauf nicht nach der Größe des Deltas zwischen angebotenem und am Ende eingekauftem Preis, sondern drehen das Ganze um? Warum sagen wir nicht, wenn gut geplant wird, dann sollte doch das Delta möglichst gering sein und diejenigen, die die geplanten Ziele am besten erreichen, werden höher incentiviert. So ein System würde sicherlich helfen, die digitale Transformation zu pushen und auch die Nachhaltigkeit im Einkauf zu unterstützen.

Beschaffung aktuell: Hat das Auswirkungen auf die Fähigkeiten, die Einkäufer mitbringen müssen?

Henke: Ja, natürlich. Das Anforderungsprofil eines Einkäufers wird sich in den nächsten Jahren enorm verändern und weiterentwickeln. Notwendig sind sowohl die entsprechenden technologischen Kenntnisse als auch das Verständnis für die Prozesse und die Integration der neuen Technologien in die Unternehmensorganisation. Schon in naher Zukunft wird der Einkauf bei seinen Verhandlungen von Künstlicher Intelligenz und von Machine Learning Gebrauch machen und sich davon unterstützen lassen. Irgendwann verhandelt er vielleicht gar nicht mehr selber, weil eine Künstliche Intelligenz das aufgrund der enormen Datenmenge, über die sie verfügen kann, einfach besser und schneller macht.

Dieses Beispiel zeigt, dass sich die Aus- und Weiterbildung von Einkäufern verändern muss. Wenn Verhandlungen in Zukunft von Maschinen übernommen werden, insbesondere im operativen Einkauf, dann kann und wird der Fokus viel mehr auf den strategischen Aktivitäten und auch auf neuen Technologien liegen.

Beschaffung aktuell: Der Einkäufer der Zukunft ist also eher ein IT-Experte als ein Betriebswirt?

Henke: Der Einkäufer muss sich auch zukünftig hervorragend mit kaufmännischen Fragestellungen auskennen. Es wird aber auch im Einkauf immer mehr auf Informatiker ankommen, insbesondere auf Menschen, die sich mit Datenanalyse auskennen.

Beispielsweise werden die Informationen aus den Verträgen zwischen einkaufendem Unternehmen und Lieferanten momentan noch nicht ausreichend genutzt. Man schaut sich einen Vertrag vielleicht noch einmal an, um die Konditionen abzugleichen oder wenn es um Pönalen geht – das war es dann aber auch. Dabei ließen sich diese Verträge nutzen, um daraus Daten zu generieren. Deren Analyse wiederum würde es gegebenenfalls ermöglichen, zusammen mit den Lieferanten neue Geschäftsmodelle für das eigene Unternehmen zu entwickeln. Es gibt Unternehmen, die – auch mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz – schon erste Schritte gehen. Das bedeutet aber auch, dass die Einkäufer mehr und mehr zu Data Analysts werden.

Wenn der Einkauf aus diesen Möglichkeiten etwas macht, sich bei der digitalen Transformation aktiv einbringt und strategisch die relevanten Schritte geht, dann wird er sich in einem Entwicklungsprozess, in dem er oft schon eine strategische Funktion innehat, positiv weiterentwickeln. Wenn er das nicht tut, dann wird er im strategischen Bereich irgendwann abgelöst.

Ich glaube nicht, dass es die Aufgaben, die heute der strategische Einkauf übernimmt, in Zukunft nicht mehr geben wird, aber das übernehmen dann andere im Unternehmen. Der operative Einkauf kann früher oder später von Systemen und Computern abgelöst werden, der strategische Teil dagegen wird weiterhin gebraucht und vielfach von Menschen ausgeführt – und wenn die Einkäufer diesen Teil in ihre Verantwortung behalten wollen, müssen sie sich weiterentwickeln.

Beschaffung aktuell: Noch einmal zum Stichwort Savings: Lassen sich mit Hilfe der Digitalisierung Einsparungen erreichen?

Henke: Wenn wir bei unserer Vereinfachung von eben bleiben, dann sind innovative Lieferanten oft teurer als nicht innovative. Die neuen Technologien führen aber zu Effizienzsteigerungen, was wiederum die Kosten senkt. Wenn beispielsweise -der Abrechnungsprozess entlang der gesamten Wertschöpfungskette zukünftig automatisiert abläuft, dann würde das allein schon ein enormes Einsparpotenzial bedeuten, das höhere Einstandspreise für entsprechende technologische Lösungen überkompensieren kann. Die digitalen Technologien können also insgesamt zu Kosten- und Effizienzeffekten in den Unternehmen führen.

Ein anderes Beispiel ist der 3-D-Drucker. Wenn ich zunehmend mit 3-D-Druck arbeite, dann sind das natürlich zunächst einmal enorme Investitionskosten. Aber irgendwann führt es dazu, dass man bestimmte Produkte nicht mehr auf Lager legen muss und so eine positive Auswirkung auf die Kosten für das Bestandsmanagement und auf die Kapitalbindung hat.

Beschaffung aktuell: Was raten Sie Unternehmen, die ihren Einkauf digitalisieren möchten?

Henke: Ich rate Ihnen, damit anzufangen. Viele Unternehmen haben immer noch eine eher abwartende Haltung, und das halte ich für falsch. Die Blockchain-Technologie beispielsweise hat für den Einkauf viel Potenzial, einfach dadurch, dass man darüber eine hohe Transparenz entlang der gesamten Lieferkette erreicht – inklusive aller Zahlen. Das ist vielleicht nicht immer erwünscht, wird aber über kurz oder lang passieren.

Die Frage, ob man dafür tatsächlich eine Blockchain braucht oder ob es nicht auch eine Datenbank tut, ist natürlich nicht unberechtigt, wenn es um eine vergleichsweise überschaubare Anzahl von Lieferanten geht, die auch zentral gemanagt werden kann. Eine hohe Anzahl von Lieferanten in weit verzweigten Wertschöpfungsnetzwerken kann aber irgendwann nicht mehr zentral über eine Datenbanklösung gesteuert werden. Wenn wir gleichzeitig davon ausgehen, dass sich die Rechnerkapazitäten, die man benötigt, immer schneller und exponentiell entwickeln und dass es immer mehr vernetzte, intelligente Devices gibt, dann braucht man einen dezentralen Datenspeicher, dem man trotzdem vertrauen kann, wie die Blockchain. Nicht heute, aber schrittweise morgen und ganz sicher übermorgen.

Beschaffung aktuell: Wie relevant sind digitale Netzwerke und Plattformen?

Henke: Das ist aus meiner Sicht die Zukunft. Natürlich sehen wir auch heute schon, dass Einkaufsaktivitäten über solche Plattformen abgewickelt werden. Als Analogie kann man hier das private Einkaufsverhalten heranziehen. Wir beschaffen unsere täglichen Bedarfsgüter meistens noch lokal im Supermarkt, aber insbesondere Konsumgüter werden inzwischen am liebsten online gekauft. Auch der B2B-Bereich wird hier zunehmend relevant.

Die Frage ist, ob ein deutsches Unternehmen mit einem hohen Anspruch an Datensouveränität sich auf so eine Partnerschaft einlässt oder nicht lieber einen eigenen Ansatz entwickelt. Bei Fraunhofer entwickeln wir seit mehr als anderthalb Jahren die Vision der Silicon Economy – ein Ansatz für den B2B-Bereich, um international wettbewerbsfähig zu sein. Wir wollen damit eine vollständige Virtualisierung von Wertschöpfungsprozessen erreichen, diskriminierungs- und barrierefrei durch Open Source. Entlang der IT-Architektur, die dahinter liegt, findet ein Datenveredelungsprozess statt. Mit den cyberphysischen Systemen im IoT-Bereich werden Daten erzeugt, gesammelt, im sicheren Datenraum ausgetauscht und auf Blockchains revisionssicher gebucht und gehandelt. So können wir auch Verträge automatisch überprüfen und daran Zahlungs- und Abrechnungsprozesse anknüpfen. Damit können wir unsere Anwendungsdomänen Logistik und Supply Chain Management orchestrieren und optimieren.

Im Unterschied zum Silicon Valley konzentrieren wir uns explizit auf B2B und legen den Fokus auf die die Anforderungen deutscher und europäischer Unternehmen. Um im Wettbewerb mit den anderen großen Anbietern aus den USA oder China bestehen zu können, brauchen wir einen europäischen Ansatz. Im B2C- und C2C-Bereich werden wir das nicht mehr erreichen, da sind uns die anderen Länder schon viel zu weit voraus.

Wir brauchen eine Open-Source-Lösung, an der alle interessierten Unternehmen, insbesondere die kleinen und mittleren, kostenlos teilhaben können. Dabei versuchen wir, das Internet der Dinge mit einer Blockchain für das Supply Chain Management, die Logistik und den Einkauf zu verbinden – im besten Sinne der aus meiner Sicht dringend notwendigen Technologie-Integration. Derzeit bauen wir die entsprechende Infrastruktur auf, die Technologien dafür halten wir bereits in Händen. Hierauf kann man Cloud-Lösungen, mobile Apps und Plattformen aufbauen, die dann auch für den Einkauf interessant sind – alles Open Source und offen für alle Unternehmen, die sich daran beteiligen möchten – und die dann auf Basis dieser Lösungen neue unternehmensspezifische Geschäftsmodelle entwickeln können.

Beschaffung aktuell: Unternehmen, die im „echten Leben“ Wettbewerber sind, arbeiten dann auf einer Plattform zusammen?

Henke: Genau das ist der Punkt. Der Ansatz dieser sogenannten „Coopetition“ ist ja schon recht alt, er ist aber heute aktueller denn je, weil wir in so einer Silicon Economy auch Wettbewerber zusammenschalten müssen. Natürlich bleiben Unternehmen im Wettbewerb, über ihre eigenen Geschäftsmodelle – wir wollen ja nicht die Gleichschaltung aller Unternehmen in allen Wertschöpfungsprozessen und in allen Netzwerken der Welt. Aber die Basisinfrastruktur, die wir aufbauen wollen und die notwendig ist, um Künstliche Intelligenz im B2B-Bereich einsetzen zu können, die kann in Deutschland und in Europa nur entstehen, wenn wir gemeinsame Sache machen.

Beschaffung aktuell: Sie haben immer wieder betont, dass Management und Unternehmenskultur bei der Digitalisierung eine zentrale Rolle spielen. Wie wichtig ist die Vernetzung der einzelnen Unternehmensbereiche untereinander, wenn man seinen Einkauf erfolgreich digitalisieren möchte?

Henke: Der Einkauf kann für sich allein relativ wenig bewegen. Das Gute an der Diskussion um Industrie 4.0 und digitale Transformation ist doch, dass die Unternehmen viel stärker in Prozessen denken müssen als früher. So ein digitaler Transformationsprozess kann nicht in einzelnen Abteilungen funktionieren, sondern nur abteilungsübergreifend und unternehmensweit. Der Einkauf kann nur erfolgreich arbeiten, wenn er in Prozessen denkt. Allein schon durch die Tatsache, dass er ja nicht für sich selber Dinge beschafft, sondern für seine internen Kunden. Diese Prozessdenkweise ist ganz entscheidend für die digitale Transformation.

„In China werden ganze Städte mit Künstlicher Intelligenz fit gemacht. Da wird – etwas überspitzt formuliert – pro Stadt mehr investiert als in ganz Deutschland.“
— Prof. Dr. Michael Henke

Beschaffung aktuell: Welches sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen, die auf Unternehmen in den nächsten Jahren zukommen werden? Welche Chancen und Risiken sehen Sie?

Henke: Ich glaube, dass wir all die Dinge, über die wir gesprochen haben, ganz schnell umsetzen müssen. Darin sehe ich tatsächlich eine große Herausforderung.

In Deutschland sind wir es gewohnt, bürokratische Prozesse einzuhalten. In anderen Regionen der Welt ist das nicht so ausgeprägt. Diese historisch gewachsenen Rahmenbedingungen sorgen dafür, dass wir relativ langsam sind. Das kann man allgemein sagen, es lässt sich aber auch für den Einkauf feststellen. Warum wird denn in einzelnen Unternehmen immer noch darüber diskutiert, warum der Einkauf nicht mit am Vorstandstisch sitzt? Diese fehlende „Wir-machen-das“-Mentalität ist sowohl für den Einkauf als auch für die Unternehmen insgesamt eine große Herausforderung – oder ein Risiko, je nachdem, wie man es betrachtet.

Als Ende 2018 beim Digitalgipfel der Bundesregierung bekannt wurde, dass drei Milliarden Euro in Forschungsprojekte zur Künstlichen Intelligenz investiert werden sollen, war die Freude groß. Die Mittel sind noch immer nicht alle vollumfassend allokiert. Auf der anderen Seite werden beispielsweise in China ganze Städte mit Künstlicher Intelligenz fit gemacht und da wird – etwas überspitzt formuliert – pro Stadt mehr investiert als in ganz Deutschland. Wir haben in Deutschland eine hohe Technologiekompetenz, aber in der Umsetzung ist China uns um Längen voraus. Da sie dort auch eine hohe Geschwindigkeit bei der Know-how-Generierung an den Tag legen, besteht die Gefahr, dass die Technologien in Asien schneller weiterentwickelt werden und wir hier in Deutschland zur verlängerten Werkbank werden.

Noch haben wir die Chance zu gestalten, wir sind diejenigen, die das Heft des Handelns in der Hand haben. Aber es gibt keinen Grund, auch nur einen halben Tag länger zu warten. Das Spielfeld, auf dem wir unterwegs sind, ist doch großartig, wir müssen nur aufpassen, dass aus dem Spielfeld – um meinen Kollegen Michael ten Hompel zu zitieren – für die deutschen Unternehmen kein Schlachtfeld wird. Aber, noch einmal: Die Chancen sind größer als jemals zuvor, wir müssen sie nur nutzen und zwar schnell.

Nachtrag zum Interview: Wie geht es weiter?

„Wir bereiten uns aktuell darauf vor, Supply Chains in Zukunft resilienter aufzustellen. Dazu müssen die bis zum Exzess auf Effizienz getrimmten Supply Chains überdacht werden – Relokalisierung ist nur eines von vielen Stichwörtern, das uns zukünftig beschäftigen wird.“

Beschaffung aktuell: Wir haben das Interview geführt, als das Coronavirus noch keine dominierende Rolle spielte. Jetzt (Anfang April 2020) sind wir mitten im Krisenmodus. Deswegen meine Frage im Nachgang: Gib es Projekt von Seiten des Fraunhofer oder der Hochschule, die sich mit dem Ende der Quarantäne beschäftigen und Unternehmen dabei helfen können, wieder anzulaufen?“

Henke: Wir bereiten uns natürlich vor, um beim Fast-Ramp-Up der Wirtschaft dabei zu sein. Neben der epidemologischen Bewältigung der Corona-Krise ist für die Wirtschaft natürlich eine management-logische Bewältigung genauso wichtig. Und hier sind Logistik und Supply Chain Management von höchster Systemrelevanz. Wir bereiten uns aktuell schon darauf vor, Supply Chains in Zukunft resilienter aufzustellen. Dazu müssen die bis zum Exzess auf Effizienz getrimmten Supply Chains überdacht werden – Relokalisierung ist nur eines von vielen Stichwörtern, das uns zukünftig beschäftigen wird und muss. An einer resilienten Wertschöpfung müssen sich aber nicht nur Produktion, Logistik und Supply Chain Management, sondern natürlich auch der Einkauf beteiligen.

 

Zur Person: Prof. Dr. Michael Henke

Prof. Dr. Michael Henke hat den Lehrstuhl für Unternehmenslogistik (LFO) der Fakultät Maschinenbau an der TU Dortmund inne und ist Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML. Außerdem fungiert er als Adjunct Professor for Supply Chain Management an der School of Business and Management an der Lappeenranta University of Technology in Finnland.

Seine Forschungsschwerpunkte liegen vor allem in den Bereichen Management der Industrie 4.0 und Plattformökonomie mit besonderem Fokus auf Blockchain und Smart Contracts, Financial Supply Chain Management und Supply Chain Risk Management, aber auch Einkauf, Logistik und Supply Chain Management.

Henke begann seine Karriere mit einem Studium zum Diplom-Ingenieur für Brauwesen- und Getränketechnologie an der TU München. Im Anschluss promovierte und habilitierte er an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der TU München. Während und nach der Habilitation arbeitete er für die Supply Management Group SMG in St. Gallen. Von 2007 bis 2013 forschte und lehrte Michael Henke als Professor an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht.

 

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