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Risikomanagement: Digitaler Zwilling in der Lieferkette

Risikomanagement
Digitaler Zwilling in der Lieferkette gehört auf den Radar der Einkäufer

11. September – auf den Tag genau 17 Jahre nach den Terroranschlägen in den USA kamen in Wiesbaden zum 6. BME-Forum „Risikomanagement“ rund 50 Teilnehmer zusammen. Alle waren sich einig: Bandbreite der Risiken und Gefährdungspotenziale nehmen weiter zu. Ein Fokus: Lieferanteninsolvenzen. Und: Es gibt nicht „die eine“ technische Lösung, die alle Einflussfaktoren abzudecken vermag.

Risikomanagement kostet Geld. Vor allem, wenn man sich über händisch-rudimentäre, fehleranfällige Excel-Sheets hinaus professionell aufstellt. Aber: Der Aufwand relativiert sich schnell angesichts drastischer wirtschaftlicher Auswirkungen von Schäden. Die Naturkatastrophe ist nur ein Beispiel. Der Alltag von Supply Chainern ist beständig von kleinen Katastrophen geprägt. Im Automotive-Sektor stehen mehrfach in der Woche die Bänder still trotz Automatisierung und Digitalisierung. Ein Hauptrisiko: Lieferanteninsolvenzen.

Schmiert ein wichtiger Supplier plötzlich ab, kann das zur Unterbrechung der Lieferkette zum Kunden führen. Was das kostet, lässt sich berechnen. Auswirkungen auf Umsatz, Deckungsbeitrag, Image: Einkäufer und Supply Chainer müssen alle erdenklichen internen und externen Szenarien frühzeitig erkennen und bewerten. Bei BMW sind zehn Experten im Risiko- und Krisenmanagement bestrebt, die gesamte Risk-Palette im Auge und Auswirkungen in Grenzen zu halten. Gut 50 Lieferanteninsolvenzen verzeichnet man hier im Jahr, die meisten sind nicht vorstandsrelevant. Ein kleiner Mittelständler hingegen ist von Einschlägen, etwa Lieferantenausfall, schnell massiv betroffen. Relevanz und Brisanz sind auch angesichts zunehmender Regularien hoch. Dennoch sind viele Unternehmenschefs allzu nachlässig.

Dringend: Awareness schaffen

„So manches Unternehmen, das noch keinen gravierenden Krisenfall zu bewältigen hatte, neigt dazu, die Bedeutung von proaktivem Risikomanagement zu unterschätzen“, betonte Forumsleiter Jan-Henner Theißen in Wiesbaden. Der Gründer von targetP hat zuvor beim Landmaschinenmulti AGCO bis 2017 als Director Strategy und Methods ein komplexes Risikomanagementsystem aufgebaut. „Agieren in globalen Netzwerken und auf volatilen Märkten erfordert höchstmögliche Transparenz über eigene Prozesse, aber auch Businesspartner, die sich über gesetzliche Anforderungen hinaus systematisch absichern“, so Theißen. Kleine Unternehmen benötigten nicht zwingend einen Berater, sollten aber im Unternehmen Awareness schaffen und sich nach adäquaten Tools umsehen. Theißens Rat: „In kleinen Schritten Erfahrung gewinnen.“ Salvatore Saporito vom Dienstleister Lexisnexis riet, sich zunächst alle Bedrohungsszenarien bewusst zu machen: „Einkäufer sollten in der Lage sein, im ersten Schritt selbst zu analysieren, was sie absichern müssen. Die Arbeit können wir ihnen nicht abnehmen. Erst im zweiten Schritt macht es Sinn, potenzielle Anbieter nach dem individuellen Nutzwert einzelner Funktionalitäten zu befragen.“

Ableitung von Maßnahmen

Es gibt derzeit keine technische Lösung, die alles erschlägt – darin waren sich die Referenten aus der Unternehmenspraxis einig. „Und die wird es in absehbarer Zeit trotz künstlicher Intelligenz und Big-Data-Technologie nicht geben“, befand Moderator Theißen. Anforderungen und Ausprägungen seien bei jedem Unternehmen anders und abhängig von Versorgungsauftrag, Märkten, Volatilitäten, Netzwerken und Geschäftsmodellen. Das BME-Forum zeigte: Fortschrittliche Unternehmen koppeln Funktionalitäten verschiedener Anbieter und verbinden diese dann mit eigenen Software-Features, um individuell je nach Bedarf steuern zu können. Wichtig: Transparenz, Übersichtlichkeit, laufende Fortschreibung, Abbildung von Trends, Alerts – hinterlegt mit exakten Ableitungen von Maßnahmen, Prozessschritten und Personenzuweisung. Im Schadensfall zählt jede Minute.

Balluff (Sensoren) hat eine SAP-basierte integrierte 3D-Risikomanagementmethodik entwickelt. Diese setzt im Produktentstehungsprozess an und bezieht das Lieferantenmanagement mit Vertragsgestaltung ein. Dabei werden durch Risikokategorien (gering, mittel, hoch) und Kriterien (Umwelt- und Standortbedingungen, Länderrisiko) das Lieferantenausfallrisiko und die Auswirkungen auf den Gewinn bewertet. Bei hoher Auswirkung sind Risikostrategien zu definieren. Bei Balluff weiß man zudem, dass Bonitätsauskünfte via Datenbanken zumeist nicht aktuell sind. Es sind also weitere Quellen zusammenzuführen, die möglichst zeitnah auf Schwierigkeiten im Umfeld wichtiger Lieferanten in aller Welt hindeuten. Der Mittelständler beobachtet unter der Perspektive „Eintrittswahrscheinlichkeit“ den Rating-Trend eines Lieferanten, dessen Eigenkapitalquote (über 30 % ideal), Invest (über 10 %) und F&E-Einsatz (über 6 %). Bei der Betrachtung des Materialrisikos wird gefragt: Was geht wo ein und wie hoch ist der Anteil am Endprodukt? Vorbeugende Vertragsgestaltung sieht Sonderkündigungs- und Eigentumsvorbehaltsrechte, Berichtspflicht und Compliance- bzw. CSR-Regelungen, Versicherungen sowie Regelungen in Sachen Konsignationslager und Werkzeugaussonderungsrechte bei Insolvenz vor.

Logistikexperte Prof. Dr. André Krischke von der Hochschule für angewandte Wissenschaften München betonte die Bedeutung von Geo-Location und Geo-Analytics als Teil des Supply Chain Risk Managements (SCRM). Gemeint sind der räumliche Aspekt und die Risikoverteilung. Dabei sei zu betrachten, welche Rolle Puffer, Pooling und Bullwhip-Effekt in komplexen Netzwerken mit 100.000 Lieferbeziehungen, weltweiten Hubs, Kaskaden von Unterlieferanten, diversen Brücken und Co-Locations spielten. „Skalenfreie Versorgung macht verletzbar“, warnte Krischke. ERP-Systeme berücksichtigten nicht die Stabilität oder Flexibilität zur Eindämmung von Störungskaskaden. Und: „Netzwerkdesign und Parametrisierung erfolgen auf taktischer Ebene, sind aber meist nicht mit der operativen Planung und dem SCRM verbunden.“ Es gelte, aus einer rein deskriptiven Geo-Visualisierung historischer Daten eine prädiktive Geo-Analytic zur Entscheidungsunterstützung zu entwickeln. Über einen Geo-Event-Server ließen sich kontinuierlich Analysen durchführen, um Bewegungsmuster in Echtzeit zu erkennen.

Digitaler Zwilling: Auf dem Radar behalten

Einen Risk-Prozess beschrieb Krischke so: Im Bereich „Descriptive“ werde eine Situation beschrieben, im Bereich „Diagnosis“ bewertet. Schwerer werde es im „Predictive“: Beim Maßnahmenmanagement gebe es Lücken. Räumliche Dimension müsse als Start für Data-Science-Projekte ansetzen. „SAP-Hana wird dieses Instrument demnächst ausbauen“, so Krischke. Seine These: „Es wird nicht ausreichen, physische Supply Chains in Echtzeit zu visualisieren und zu analysieren. Durch Simulation im Bereich ‚Prescriptiv‘ und Optimierung des ‚Virtuellen Zwillings‘ müssen proaktive und reaktive Strategien vor der Implementierungsphase getestet werden.“ Zur Erklärung: „Der digitale Zwilling revolutioniert in der Industrie bereits Abläufe entlang der Wertschöpfungskette“, heißt es bei Siemens. Danach ermöglicht dieser „als virtuelles Abbild des Produkts, der Produktion oder der Performance eine Verknüpfung der Prozessschritte.“ Theißen gab den Teilnehmern mit auf den Weg: „Den digitalen Zwilling als Bestandteil der Lieferkette sollten Sie auf dem Radar haben. Spätestens in ein bis zwei Jahren ist er auch im Einkauf da.“


Sabine Ursel,

freie Journalistin in Wiesbaden

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