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Digitalisierung der Prozesse in Kliniken und Pflegeeinrichtungen

Interview mit Dr. Marcell Vollmer, CEO der Prospitalia-Gruppe
Digitalisierung der Prozesse in Kliniken und Pflegeeinrichtungen

Seit Januar 2022 verantwortet Dr. Marcell Vollmer als CEO die Geschicke der Prospitalia-Gruppe, einem Einkaufsdienstleister für Kliniken, Klinikapotheken und Pflegeeinrichtungen. Der Top-Manager soll das Unternehmen zu einem wesentlichen Baustein für die Digitalisierung der deutschen Krankenhauslandschaft weiterentwickeln.

Beschaffung aktuell: Wir beide haben über viele Jahre hinweg eine Reihe von Gesprächen geführt – bei SAP, Celonis und Boston Consulting. Immer ging es um die Steuerung von Supply Chains. Nun haben Sie die Gesamtverantwortung für eine Unternehmensgruppe übernommen. Das ist ein durchaus bemerkenswerter Karriereschritt.

Marcell Vollmer: Dinge bewegen sich. Ich hätte das vor ein paar Monaten auch noch nicht gedacht. Ich bin davon überzeugt: Man muss zum richtigen Zeitpunkt bereit sein für neue Herausforderungen. Wer mich kennt, weiß, dass ich die Dinge mit ganzem Herzen und voller Kraft tue. Ich habe hier die sensationelle Möglichkeit, als CEO alle Bereiche zusammenzubringen, die ich vorher in unterschiedlichen Rollen bearbeitet habe – also etwa die Transformation des Einkaufs, die Umsetzung von Procure-to-Pay- und Post-Merger-Projekten.

Die Gesundheitsbranche ist neu für Sie. Das war der Bereich Procurement auch, als Sie, aus dem Finanzbereich bei SAP kommend, dort im Jahr 2011 zum CPO berufen wurden. Was wird jetzt konkret von Ihnen erwartet?

Vollmer: Ich habe immer Herausforderungen angetragen bekommen, für die es keine konkreten Job-Beschreibungen gab. Es gilt für mich jetzt, die unterschiedlichen Unternehmen unserer Gruppe über unsere eigene IT-Landschaft hinweg besser zu vernetzen. Wir wollen aus den bestehenden einzelnen Paketen wie Procurement, digitale und analytische Lösungen sowie Beratung ein integriertes Angebot für unsere Kunden schaffen.

Wie weit ist die Digitalisierung in den Kliniken vorangeschritten?

Vollmer: Die ist, wie in anderen Branchen und Unternehmen auch, sehr unterschiedlich ausgeprägt. Das Mindset in den Einrichtungen spielt auch hier eine große Rolle. Es gibt rund 1900 Krankenhäuser in Deutschland. Über 600 davon sind bereits Prospitalia-Kunden. Die unterstützen wir mit Einkauf, Verbrauchs- und Erlösmanagement, Daten- und Informationstransfer, Analytik und Beratung – alles auf digitaler Basis. Wir sind davon überzeugt, dass die Digitalisierung in den Krankenhäusern in den kommenden Jahren einen massiven Schub machen wird – und wir wollen an verschiedenen Stellschrauben drehen, bis hin zur Künstlichen Intelligenz und Machine Learning, um die Krankenhäuser auf ihrem Weg zu unterstützen. Unser Ziel ist es, Prospitalia zu einem Baustein für die Digitalisierung der deutschen Krankenhauslandschaft zu machen. Dazu kombinieren wir umfangreiche Erfahrung im Einkaufswesen mit Akquisitionen im Bereich der digitalen und Beratungsdienstleistungen. Es gibt aber noch viele andere Bereiche, wo Digitalisierung für Mehrwert sorgen könnte, etwa Telemedizin oder Informationstransfer zum Patienten. Man könnte viele längst bekannte Daten nutzen und sie auch den Patienten verfügbar machen, alles selbstverständlich unter Datenschutzgesichtspunkten. Hier gibt es noch viel zu diskutieren und endlich auch entsprechend anzupacken.

Was bietet die Prospitalia-Gruppe den Einrichtungen derzeit?

Vollmer: Wir schaffen die nötige Transparenz für mehr Effizienz und Effektivität. Etabliert ist mit dem Prospitalia-Marktplatz eine Plattform, über die alles beschafft werden kann, was ein Krankenhaus an Artikeln benötigt – von Herzkathetern, Hüftprothesen und Kniegelenken über medizinische Verbrauchsmaterialien wie Spritzen, Kanülen und Tupfern bis zu kapitalintensiven Produkten wie MRT-Geräten. Mit Wawibox in Heidelberg besetzen wir seit 2020 das Thema Digitalisierung der Warenwirtschaft in Zahnarztpraxen und Dentallaboren. Von Implantaten bis Verbrauchsmaterialien lässt sich über diese Plattform alles digital bestellen. Mit Procare Management bieten wir eine Plattform für Lebensmittel. Zielgruppe sind die Verantwortlichen für Kantinen in Kliniken, Seniorenheimen und in anderen Branchen. Wir kaufen zu den möglichst besten Konditionen via Plattform ein, berechnen die jeweiligen Speisepläne und können sagen, was an Mengen gebraucht wird bzw. was noch als Bestand lagerseitig vorrätig ist. Ins System fließen auch Angaben zu Allergien, Kalorienwerten, Nachhaltigkeitsfaktoren und andere Besonderheiten ein. Mit unserer analytischen Lösung für OP-Säle lässt sich ein komplexer Prozess überwachen und steuern, etwa wann Patienten ankommen, wann die Arbeit der Anästhesisten und Chirurgen beginnt, welche Materialien zu welchem Zeitpunkt aus dem Lager der Einrichtung just in time anzuliefern sind und was durch uns nachzubeschaffen ist.

Ich habe gehört, dass Sie persönlich auch schon im OP-Saal dabei waren?

Vollmer: Ich habe mir in Kiel am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein vor Ort angeschaut, wie das Fallwagenkonzept umgesetzt und entsprechend für eine OP vorbereitet wird. Dann wird gescannt, was im individuellen Fall zusätzlich benötigt wird. Unsere Lösung erfasst zudem Daten und Informationen in Sachen Warenlager und Abrechnungssystem mit den Krankenkassen. Wir visualisieren den gesamten Prozess von der Aufnahme des Patienten bis zu seiner Entlassung, natürlich unter Datenschutzgesichtspunkten. Aus all diesen Erkenntnissen heraus ergeben sich dann für uns zuweilen auch Beratungsaufgaben zur Optimierung, Steuerung, Restrukturierung oder auch den Einsatz von Interim-Managern.

Was will die Prospitalia-Gruppe mit Ihrer Hilfe in Zukunft anstoßen?

Vollmer: Wir überlegen generell: Wie lassen sich alle Einkaufsdaten mit anderen analytischen Informationen intelligent verbinden? Wir wollen die gesamte Erfahrungswelt der Patienten verbessern. Dazu gehört auch, dass medizinisches Personal wesentliche Informationen nur einmal einzugeben braucht. Derzeit geschieht das noch an diversen Orten, was unproduktiv und nervig für alle Beteiligten ist. Medienbrüche und damit einhergehende Datensilos sind ja der Grund für Intransparenz und Verschwendung wertvoller Zeit. Entscheidender ist aber die Frage, ob alle meine Gesundheitsdaten bei allen Ärzten dezentral lagern oder ob man sie zentral steuern und pflegen kann.

Sie analysieren auch Verbräuche. Welche Erkenntnisse haben Sie?

Vollmer: Ja, die können wir selbstverständlich benchmarken. Ein Beispiel sind Anker, die bei Schulteroperationen gesetzt werden. Die kosten einzeln etwa 230 Euro. Wir wissen aus Erfahrung, dass manche Ärzte viele Anker setzen oder immer die teuersten Produkte verwenden, obwohl preiswertere und weniger Anker bei gleicher Qualität verwendet werden könnten. Die Anzahl ist dabei natürlich immer in Relation zur jeweiligen Verletzung und der Operationsmethode zu setzen. Wir zeigen durch unsere analytischen Lösungen Tendenzen auf und generieren über die reinen Einkaufskosten hinaus Muster zu den Operationen selbst. Daraus können Kliniken, Praxen und einzelne Ärzte Schlüsse ziehen und gegebenenfalls ihre Behandlungsmethoden anpassen. Darüber hinaus können wir mit unseren medizinischen Doktoren die Fachärzte auch praktisch beraten.

Sie verhandeln mit den Lieferanten Ihrer Plattformen Preise. Was geht über Bündelung hinaus?

Vollmer: Wir schließen Verträge mit einem oder mehreren Lieferanten, zum Beispiel für Kanülen. Wir suchen den Supplier aus, verhandeln alle Preise und Rabatte komplett. Das entlastet den Einkauf auf unserer Kunden- bzw. Klinikseite. In manchen Fällen werden uns bestimmte Lieferanten auch mal vorgegeben. Das Angebot bilden wir via Plattform über Kataloge ähnlich wie bei Amazon ab. Die Basiskonditionen sind für alle Kunden meist gleich, Differenzierungen gibt es bei den abgenommenen Volumina. Das Krankenhaus weiß, was es vorher für einzelne Warenkörbe via Ausschreibung bezahlt hat. Unser Vorteil ist, dass wir für über 600 Kunden – das sind kommunale, konfessionelle, privatwirtschaftliche Krankenhäuser und Unikliniken – Updates bei Standards wie eclass einpflegen, Lieferantenmanagement betreiben, Preise weiterverhandeln, Bündelungseffekte und Transparenz schaffen. Wir stellen auch sicher, dass die Daten ins ERP-System laufen und die Anbindung an die Lieferanten klappt. Unsere analytischen Lösungen sind Zusatzservices.

Wie sieht Ihr Risikomanagement-System aus?

Vollmer: Der Health-Sektor ist seit Langem streng reguliert. Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz ist also keine große Hürde. Risiken sind in unserem Bereich Lieferverzögerungen. Wir beobachten den Markt sehr genau und brauchen dazu auch Echtzeitdaten der Lieferanten. Wir haben eine Cockpit-Lösung, die Verknappungen sofort via Dashboard anzeigt. Darüber wird auch informiert, ob Operationen zum geplanten Zeitpunkt durchgeführt werden können. Diese digitale Lösung haben wir selbst entwickelt. Bestehende Tools von Dienstleistern, auch die bekannten, sind nicht auf unsere ganz speziellen Bedürfnisse bzw. Anforderungen zugeschnitten.

Spielen für Prospitalia die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine eine Rolle bei der Versorgung?

Vollmer: Wir haben aus diesem Teil Osteuropas keine Lieferanten, die kritische Materialien und Produkte liefern. Allerdings wirken sich die gestiegenen Energiekosten durch den Krieg in der Ukraine auf alle Unternehmen und Preise aus.

Das Interview führte Sabine Ursel, Journalistin.


Dr. Marcell Vollmer

ist seit Januar 2022 CEO der Prospitalia-Gruppe; zuvor war er Partner & Director bei der Boston Consulting Group. Davor war er Chief Innovation Officer bei Celonis. 2005 begann er bei SAP, 2011 wurde er hier zum SAP CPO und später zum COO sowie Chief Digital Officer ernannt. Vollmer studierte an der Uni Hamburg (Abschluss Diplom-Kaufmann BWL). Seine Dissertation schrieb er parallel zu seiner Tätigkeit als Manager Integration Projects and Sales Processes bei DHL Express in Brüssel (2005).

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