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Erwarte das Unerwartete

Resilienz-Benchmarking im Einkauf
Erwarte das Unerwartete

Erwarte das Unerwartete
Nach der Krise ist vor der Krise. Bei der Auswahl von Lieferanten müssen auch die mit dem Lieferanten einhergehenden Risiken und deren potentielle Schäden beachtet werden. Bild: photoschmidt/stock.adobe.com
Das Forschungsprojekt „Procurement Intelligence“ der Uni St. Gallen realisiert einen Machine Learning gestützten Ansatz im strategischen Einkauf, mit dem sich Gesamtkosten und Risiken minimieren lassen und gleichzeitig die Resilienz der Lieferkette erhöht wird.

Jahrelang wurden Lieferketten auf reduzierte Kosten, gesteigerte Effizienz und schnellere Lieferungen getrimmt. Gleichzeitig ist die Umwelt der Lieferketten durch die VUCA-Welt geprägt, die für Volatilität (V), Unsicherheit (U), Komplexität (C) und Mehrdeutigkeit (A) steht. Das Ganze führt zu einem unbeherrschten Cocktail, wie die Welt in den vergangenen Jahren schmerzhaft spürte.

60 Prozent aller Lieferketten sind nicht ausreichend auf die Bewältigung von Disruptionen ausgerichtet, zeigt eine Studie des Herchenbach Supply Chain Institutes. Doch wie bereiten Unternehmen ihre Lieferkette richtig auf Disruptionen vor?

Zwei Hauptkonzepte haben sich durchgesetzt: Supply Chain Risikomanagement und Supply Chain Resilienzmanagement. Während das Risikomanagement darauf abzielt, identifizierte Risiken der Lieferkette zu adressieren, abzuschwächen und im besten Fall auch zu eliminieren, versucht das Resilienzmanagement, die Lieferkette grundsätzlich durch den Aufbau von Fähigkeiten und Praktiken zu stärken, also robuster zu machen. Dabei werden auch unidentifizierbare Risiken angesprochen, die EinkäuferInnen und EntscheidungsträgerInnen unbekannt sind.

Resiliente Lieferketten sind widerstandsfähig gegen Disruptionen, das heißt, dass sich ihre Waren-, Informations- und Geldflüsse kaum unterbrechen lassen. Falls es doch einmal zu einer Störung kommen sollte, haben resiliente Lieferketten die Eigenschaft, sich schnell zu erholen und wieder die Leistung auf Niveau des Ausgangszustands zu erbringen. Bestenfalls kann sogar eine Leistungssteigerung erzielt werden, welche durch die Unterbrechung getriggert wurde.

Resilienzlücken als Bewertungsgrundlage

Um Unternehmen auf eine möglicherweise unzureichende Resilienz ihrer Lieferketten aufmerksam zu machen, wurde im Rahmen des Schweizer Innosuisse-Projekts „Procurement Intelligence“ durch das Institut für Supply Chain Management der Universität St.Gallen (ISCMHSG) und die Soltar AG eine Metrik entwickelt, mit der sich die Resilienz bewerten lässt. Dabei werden anhand eines Soll-Ist-Abgleichs verschiedener Praktiken für mehrere Lieferanten „Resilienzlücken“ ermittelt, die in Abhängigkeit des Aufwands der Implementierung in Scores umgerechnet werden. Mit diesen Scores kann ein Vergleich von Lieferanten für ein Projekt stattfinden, der über eine reine Betrachtung der Total Cost of Ownership (TCO) und Risiken hinausreicht.

Doch noch eine weitere Anwendungsmöglichkeit ergibt sich: Die entwickelte Resilienzmetrik bildet die Grundlage für ein Benchmarking der vergangenen, aktuellen und zukünftigen Robustheit innerhalb der vorgeschlagenen Beschaffungsstrategie. Die Auswirkungen eines Lieferanten auf die Resilienz der Lieferkette können vor und nach der Investition in Fähigkeiten und Praktiken bewertet werden. So kann etwa verglichen und evaluiert werden, ob die Unternehmen ihre Resilienz durch gezielte Maßnahmen verbessern konnten. Betrachtet man die Einschätzung von Einkäufern, so zeigen sich deutliche Lücken zwischen den erwarteten und den tatsächlich umgesetzten Resilienzpraktiken. Die Auswertung der Ergebnisse des Forschungsprojekts deuten darauf hin, dass in 63 Prozent aller Fälle die Erwartungen nicht erfüllt werden, sodass eine Lücke zwischen „Soll“ und „Ist“ herrscht.

Nach der Disruption ist vor der Disruption

Besonders große Lücken und damit Potential zur Verbesserung bieten drei Praktiken:

1. Lieferantentrainings- und Entwicklungsprogramme (vor der Disruption)

Die Zusammenarbeit mit kritischen oder strategischen Lieferanten ist eine der vielversprechendsten Praktiken, um eine resiliente Lieferkette aufzubauen und sich proaktiv auf Disruptionen vorzubereiten. Durch die gezielte Weiterentwicklung der Fähigkeiten und Prozesse des Lieferanten lassen sich entsprechende Folgen einer Disruption wirkungsvoll abschwächen.

2. Zuverlässiger Informationsaustausch
(während der Disruption)

Wenn es zu einer Disruption in der Lieferkette kommt, dann ist es von enormer Wichtigkeit, einen zuverlässigen Informationsaustausch mit den Lieferanten aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Ideal ist ein persönlicher Ansprechpartner, der für Transparenz sorgt und offen kommuniziert.

3. Dokumentation der Disruptionen und Maßnahmen (nach der Disruption)

Ist die Disruption überstanden, wird erstmal durchgeatmet. Es kehrt wieder Alltag ein, und es wird häufig weitergemacht wie zuvor. Dass das zu kurz gedacht ist, wurde in den letzten Jahren immer deutlicher. Eine überstandene Disruption bietet eine begrenzte Vorbereitungszeit auf die nächste Disruption. Dazu sollten Art, Verlauf und Besonderheiten der Disruption dokumentiert und die getroffenen Maßnahmen kritisch reflektiert werden.

Mit der Verbesserung der Resilienzfähigkeiten und -praktiken können Unternehmen eine bessere Supply Chain Performance in unsicheren Zeiten erreichen, und damit auch Wettbewerbsvorteile erzielen. Resilienz in globalen Lieferketten ist schon lange kein Nice-to-have mehr, sondern ein Must-have im kompetitiven Geschäftsumfeld.

Mit der Entwicklung der Resilienzmetrik wurde ein Grundstein für die Operationalisierung des „Total Cost of Resilience“ Konzepts gelegt. Mit der erfolgreichen Implementierung wird Einkäufern nicht nur ein Werkzeug bereitgestellt, mit dem sie die klassischen Kosten vergleichen, sondern darüber hinaus auch proaktiv die Resilienz ihrer Lieferkette erhöhen können.


Das Projekt auf einen Blick

Projektpartner: Das Projekt wird vom Institut für Supply Chain Management (ISCM-HSG) und Institut für Wirtschaftsinformatik (IWI-HSG) der Universität St.Gallen zusammen mit der Soltar AG in Kooperation mit den Schweizer Industrieunternehmen Stadler Rail AG, SFS Group AG, Bucher Municipal, R&S Group AG, IWB, Wandfluh AG sowie den Industrieverbänden Swissmem und procure.ch durchgeführt.

Laufzeit: Das Projekt hat im Januar 2021 begonnen und ist bis August 2023 angesetzt.


7 Praktiken zur Steigerung der Resilienz

1. Nutzung von Upstream-Risiko-Identifizierungs-Systemen

2. Durchführung von robusten Lieferantenaudit-Prozessen

3. Möglichkeit zur Nutzung von Substituten in der Produktion

4. Nutzung von Dual Sourcing als Beschaffungsstrategie

5. Möglichkeit eines flexiblen Lieferketten Re-Designs

6. Beschleunigte Entscheidungsfindung im Falle einer Disruption

7. Gemeinsame Reflektion mit Lieferanten über vergangene Disruptionen


Tim Auer

Projektmitarbeiter am Institut für Supply Chain Management an der Uni St.Gallen.


Alwin Locker

Geschäftsführer der Soltar AG in Zürich

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