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Leica: Nach Fukushima Lektion gelernt

Risikomanagement im Einkauf
Leica: Nach Fukushima Lektion gelernt

In Betriebs- und Lieferkettenunterbrechungen sehen Unternehmen nach wie vor ihre größte Bedrohung. Auch wenn Auswirkungen im Vorfeld schwer messbar sind: Wer sich zurücklehnt, handelt fahrlässig. Die Leica Camera AG hat nach dem Störfall in Fukushima 2011 ihre Hausaufgaben gemacht. G 20 in Hamburg, Überschwemmung in Vietnam, Feuer in Japan – ein Frühwarnsystem macht die Lieferkette bis in die zweite Ebene transparent. Einkauf und Bedarfsträger haben Maßnahmenpläne definiert, die im Ernstfall umgehend greifen.

Die Risikopalette wächst mit der zunehmend vernetzten Industriewelt. Naturkatastrophen, Brände, politische Instabilität, Lieferanteninsolvenzen, volatile Märkte, Cybervorfälle – Manager fürchten die daraus unweigerlich entstehenden Betriebsunterbrechungen. Auch Störfälle mit geringerer Eintrittswahrscheinlichkeit können im Ernstfall signifikante negative Auswirkungen auf den Betrieb haben. Das weltweite Allianz Risk Barometer 2017 beziffert den Ausfall einer Gas- oder Ölförderanlage, etwa nach Streik oder Vandalismus, auf rund 4,2 Mio. Euro im Schnitt. Feuer und Explosion schlagen danach mit 1,7 Mio. Euro zu Buche. Und selbst fehlerhafte Konstruktion oder Fertigung kann schon mal 1,6 Mio. Euro kosten. Viele Unternehmen werden erst aus Schaden klug. Für die Leica Camera AG (Wetzlar) war der Tsunami in Fukushima im März 2011 ein heilsamer Schock. Unter der Steuerung des Controllings wurde quasi aus dem Nichts ein effizientes System zum frühzeitigen Erkennen von Risiken entlang der Supply Chain implementiert, das heute als Benchmark gilt.

Task Force und Maßnahmen

Ulrich Weigel war 2009 zu Leica geholt worden, um den Einkauf des schwer kriselnden Traditionsunternehmens auf Vordermann zu bringen. Kostensenkung stand ganz oben auf seiner Agenda. Diverse Umstrukturierungsmaßnahmen in allen Abteilungen brachten auch im Einkauf schnelle Erfolge. In die Phase der Umsatzverdoppelung platzte das Reaktorunglück im japanischen Fukushima. Keiner war auf einen solchen Störfall vorbereitet, Maßnahmenpläne gab es nicht. „Wichtig war, nicht in Hektik zu verfallen, besonnen zu analysieren und zu kommunizieren“, sagt Ulrich Weigel rückblickend. Keine leichte Angelegenheit angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit, die damals in Europa herrschte. Geigerzähler waren ausverkauft, Mitarbeiter weigerten sich, Ware anzunehmen. Es galt, dem internen Flurfunk zu begegnen und Kunden wohldosiert mit adäquaten Informationen zu versorgen. Ein Krisenstab (Task Force) mit Vertretern aus Controlling, Recht, Vertrieb, Marketing, Disposition unter Federführung des Einkaufs schaffte es laut Ulrich Weigel in „bemerkenswerter Weise“, konzertiert eindeutige Regeln zur Kommunikation und zum Informationsaustausch der Abteilungen festzulegen.

Die Fragen im Einkauf lauteten unter anderem: Welche Lieferanten sind betroffen? Steht ein Produktionsstopp ins Haus? Marco Rücker, seit 2005 im Unternehmen und heute Weigels Stellvertreter, tauchte im Rahmen seines dualen Studiums tief ins Thema ein. Der Student markierte seinerzeit Liefer- und Sales-Partner auf einer Landkarte. Über die zweite Ebene war nichts bekannt. Nach Telefonaten und Mails ergab die erste Bestandsaufnahme: 50 Prozent Lieferanteil aus Japan; größtenteils Single Sourcing; 28 Lieferanten betroffen, darunter ein Totalverlust in Fukushima; geringe Schäden in Yamagata. Sendai meldete hingegen keine Probleme.

Nach dem Check der Bestände konzentrierte sich das Weigel-Team auf Engpässe, etwa bei Single-Source-Lieferanten mit Alleinstellung im Markt. Nachdem der Puffer verbraucht war, behalf man sich während der Recovery-Phase des Lieferanten mit Umstellung auf den alten Release-Stand. Eine Unterbrechung konnte in diesem Fall vermieden werden. Bei Betrachtung der Abhängigkeiten durch Single Sourcing kam heraus, dass es bei rund 40 Lieferanten gut ein Jahr dauern würde, eine adäquate Lieferalternative zu qualifizieren. Also gab der Leica-Vorstand den Startschuss für ein professionelles unternehmensweites Risikomanagement. Alle Beteiligten verständigten sich darauf, „den Unfall als Chance zu nutzen und Vollgas zu geben“, erzählt Weigel.

Das System

Heute liefert das Leica-eigene Frühwarnsystem – eine Kombination aus Dienstleisterlösungen und eigenen Tools – Transparenz über 300 Lieferpartner und wichtige Dienstleister (wie Agenturen) sowie über 60 Prozent der 2. Ebene. „Der Blick zurück reicht dabei allerdings nicht aus“, sagt Teamleiter Marco Rücker. Genutzt werden gewichtete Finanzdaten, etwa zu Eigentümerstruktur, Firmengeflechten, Umsatzstabilität und Profit-Margen sowie Zusatzinformationen.

Aus den Segmenten Märkte, Umwelt und Politik mit Länderkennzahlen, Wirtschaftswachstum, Volatilitäten und Arbeitslosenquoten fließen Zusatzinfos ein. Eine Online-Weltkarte und Unterseiten zeigen den Einkäufern Supplier-Standorte und Lieferpfade auf. Neue Firmen werden laufend ins Monitoring aufgenommen. Ab einem Score-Risiko von 80 (100 ist ein Leica-bezogenes Event) meldet sich das System via Mail.

Ulrich Weigel erhält rund vier Benachrichtigungen pro Woche. Beispiele: Verlängerung des Notstands in Frankreich, Tropensturm in Japan, Überschwemmung im chinesischen Chengdu oder Flugausfälle. Je nach Score und Einzelfallbetrachtung wird dann offline nach festgelegten Schritten im Lieferantenmanagement-Team eskaliert.

Das Team

Ulrich Weigel verantwortet ein Volumen von rund 200 Mio. Euro. Mit insgesamt 16 Mitarbeitern in Wetzlar und am zweiten Produktionsstandort in Portugal ist der Einkauf schlank organisiert. In Sachen Risikomanagement wurden keine neuen Kräfte engagiert. Die einzelnen Risk-Tools sind in die bestehenden Personalstrukturen integriert und werden auch strategisch genutzt.

Die Warengruppenverantwortlichen reichern die systemgenerierte Datenbasis um Impact Scores an. Das Controlling liefert eine monatliche Balanced Scorecard mit Kennzahlen zu Liefertreue und Qualität. Ein Readiness Roll-up gibt Auskunft über die Komplexität von Einzelteilen und verbundenem Risiko. Jeder verantwortliche Einkaufsexperte hat die Pflicht, den Einfluss von Events auf Single Sourcing und Total Time for Recovery im Hinblick auf seine Lieferanten zu bewerten. Sie haben unter anderem zu klären: Wie minimieren wir Risiko und Reaktionszeit? Müssen wir qualifizieren oder Alternativen suchen? Wo ist eine (teure!) Second Source unerlässlich? Wo brauchen wir Konsignationslager? Ulrich Weigel: „Wir schielen längst nicht mehr alleine auf den Preis, sondern betrachten vorrangig den Score.“ Aber noch gibt es Luft nach oben: Im Juli waren Weigel und Rücker wieder in Villa Nova de Famalicão, um die portugiesischen Leica-Einkäufer zu schulen. Und auch in Hinsicht auf Identifizierung von Low Performern müsse man nachlegen, um das Unternehmen noch handlungssicherer zu machen, berichtet der Einkaufsleiter.

Erfahrung, Empfehlung … und IT

„Es reicht nicht aus, ein Online-Tool zu kaufen und dann die Hände in den Schoß zu legen“, betont Marco Rücker. Nach Auswertung der Datenbasis beginnt die eigentliche Fleißarbeit: das Aufsetzen kompakter belastbarer Maßnahmenpakete, die ohne Zeitverlust bei Störfällen aller Art greifen. Zwar gibt es keine valide Zahl, die das Amortisieren belegt, aber die Unternehmen haben mehr Zeit, sich mit einer vernünftigen Anzahl Szenarien zu befassen. Plan B muss möglichst reibungslos an- und ablaufen. Cost Avoidance ist das Stichwort. Weigel verweist auf besondere Zusatznutzen: „Alleine das Wissen über einzelne Lieferanten ist Gold wert. Vor Verhandlungen schauen wir genau auf seine Performance.“ Es sei von Vorteil, wenn ein Lieferant wisse, dass er gescreent werde. Manche seien sogar dankbar, wenn Leica sie auf Unzulänglichkeiten und Risikofaktoren aufmerksam mache. Ein Risikomanagement mit Frühwarnsystem generiert zudem direkte Wettbewerbsvorteile, etwa wenn sich Unternehmen bei drohenden Streiks oder Naturereignissen mit unsicherem Ende schneller als andere Marktteilnehmer Transportalternativen sichern können.

Die Einbindung der IT ist laut der beiden Leica-Experten eine wesentliche Voraussetzung für Erfolg. Mit der Übernahme der IT durch Ulli-Martin Podubrin wurde das durch Controlling und Einkauf etablierte Risk Management in den operativen Betrieb der IT getragen. Damit bietet das neu eingeführte Aufgabenmanagementsystem die Möglichkeit, jedes einzelne To-do mit Risikoparametern auszuzeichnen und Risk Maps für IT-Projekte automatisiert zu erstellen. Cyber-Risiken werden durch ein aktives Vulnerability Management (Schwachstellenmanagement) und regelmäßige Perimeter-Scans kompensiert. Advanced Thread Detection schützt die Organisation vor den Auswirkungen von Ransomware. „Die Einführung von Predictive Analytics im Monitoring-Bereich ermöglicht zahlengetriebenes IT-Management und das Handeln, bevor Probleme akut werden“, sagt Ulli-Martin Podubrin.

Aspekt Versicherung

Für Einkaufsleiter Ulrich Weigel und Stellvertreter Marco Rücker steht fest: „Risikomanagement ist unabdingbare Basisvoraussetzung für die Supply Chain.“ Marktgängige Risk-Tools deckten heute laut Weigel schon „relativ viel“ ab, bei Finanzdaten sei hingegen noch Luft nach oben – „Prognosen fallen darum schwer“. Dennoch: Faulheit sei gleichbedeutend mit Fahrlässigkeit, das hätten einige der Kollegen in anderen Unternehmen noch nicht erkannt oder nicht hinreichend gegenüber der Geschäftsleitung verdeutlicht. Die Konsequenz: Wer nach Störfällen aufgrund mangelnder Voraussicht gezwungen ist, überstürzt und mehr oder minder orientierungslos zu handeln, zahlt unweigerlich einen hohen Preis. Beispiel: Nach den Explosionen im chinesischen Tianjin im Jahr 2015 kam es zu einer Reihe von Verlusten durch Lieferantenausfälle. Der Hafen war von den örtlichen Behörden geschlossen worden. Unternehmen waren wegen fehlender Arbeitskräfte nicht in der Lage, die Produktion wieder hochzufahren. „Schäden dieser Art sind unter Umständen nicht durch die klassische Sachversicherung gedeckt, es sei denn, es besteht ein spezieller Versicherungsschutz“, heißt es bei der Allianz. Die Leica Camera AG hat durch professionelles Agieren das Unternehmen nicht nur sicherer gemacht, sondern auch in Sachen Versicherungsprämien profitiert. su


Top 10

Unternehmensrisiken

1 . Betriebsunterbrechung (inkl. Lieferkettenunterbrechung und -vulnerabilität) 35%

2.  Cybervorfälle (Kriminalität, Systemausfall, Datenschutzverletzung etc.) 32%

3.  Marktentwicklungen (Volatilität, verstärkter Wettbewerb/neue Wettbew., M&A, Stagnation, Fluktuation etc.) 32%

4 . Rechtliche Veränderungen (Sanktionen, Regierungen, Protektionismus etc.) 28%

5 . Makroökonomische Entwicklungen (Sparprogramme, Rohstoffpreise, Inflation) 23%

6 . Naturkatastrophen (Sturm, Überschwemmung, Erdbeben etc.) 21%

7 . Politische Risiken (Krieg, Terrorismus etc.) 16%

8 . Feuer, Explosion 15%

9.  Reputationsverlust oder Beeinträchtigung des Metkenwerts 12%

10.  Neue Technologien (Auswirkungen der Vernetzung von Maschinen, Nanotechnologie, KI, 3-D-Druck, Drohnen etc. 12%


Risikomanagement ist unabdingbare Basisvoraussetzung für die Supply Chain.“
Marco Rücker


Wir schielen längst nicht mehr allein auf den Preis, sondern betrachten
vorrangig den Score.“
Ulrich Weigel


Sabine Ursel, freie Journalistin

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