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Potenzial ist vorhanden

Türkischer Werkzeugbaumarkt
Potenzial ist vorhanden

Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat die Türkei eine Entwicklung hin zu einer florierenden Wirtschaft durchlaufen. Zwar sind die Auswirkungen der aktuellen politischen Machtkämpfe im Inland sowie der politischen Unruhen in Nachbarstaaten auf die türkische Wirtschaft noch nicht absehbar, jedoch sind die Voraussetzungen für ein weiteres positives Wachstum gegeben. Die WBA Aachener Werkzeugbau Akademie hat einen Blick auf den türkischen Werkzeugbaumarkt geworfen: Um dessen Leistungsfähigkeit sowie Entwicklungspotenzial zu bewerten, haben die Aachener eine umfangreiche Studie durchgeführt.

Die Türkei ist ein wichtiger Handelspartner von Deutschland. In Bezug auf die türkischen Exporte ist Deutschland vor dem Irak und dem Vereinigten Königreich wichtigster Abnehmer. Beim Import erreichen Warenströme aus Russland und China die höchsten Werte, knapp gefolgt von Deutschland. Bezüglich der Wirtschaftskraft bestehen zwischen den verschiedenen Regionen der Türkei jedoch sehr große Unterschiede. So sind die westlichen Regionen um Istanbul, Bursa und Izmir wirtschaftlich und insbesondere industriell sehr viel weiter entwickelt als die weitgehend landwirtschaftlich bzw. touristisch geprägten östlichen und südöstlichen Regionen. Dennoch liegt das durchschnittliche türkische Lohnniveau selbst im industrielleren Westen mit 4,42€/h weit unter dem durchschnittlichen deutschen Lohnniveau in Höhe von 15,54€/h. Insbesondere aufgrund dieses Lohnkostenvorteils sowie wegen der geografisch guten Lage des Landes mit Zugang sowohl zu dem europäischen als auch asiatischen Markt haben sich viele internationale Industrieunternehmen in der Türkei angesiedelt. Gleichzeitig mit der Entwicklung der allgemeinen Industrie und einem dadurch stetig steigenden lokalen Werkzeugbedarf hat sich in der Türkei auch speziell eine große lokale Werkzeugbaubranche etabliert.

Um die Leistungsfähigkeit der türkischen Werkzeugbaubranche zu bewerten, hat die WBA Aachener Werkzeugbau Akademie im ersten Halbjahr 2016 eine Studie zum Werkzeugbau in der Türkei durchgeführt. Dazu wurden 82 Werkzeugbaubetriebe in der Türkei detailliert analysiert.
Grundsätzlich ist der türkische Werkzeugbau ausgerichtet auf die lokal ansässigen großen internationalen Hersteller der Automobil-, Haushaltsgeräte- und Elektroindustrie. So stellen mit 87% die meisten Werkzeugbaubetriebe Werkzeuge für die Automobilindustrie her. 67% der Betriebe beliefern die Haushaltsgeräteindustrie und 44% den allgemeinen Maschinenbau. 38% der Werkzeugbaubetriebe sind für die Elektroindustrie tätig.
Vereinzelt werden von meist größeren, spezialisierten türkischen Werkzeugbaubetrieben neben dem lokalen Markt auch internationale Kunden beliefert. Diese Betriebe sind in der Lage, mittelkomplexe Werkzeuge von hoher Qualität herzustellen. Gemessen am Umsatz ist jedoch der lokale nationale Markt mit 80 % des Umsatzanteils deutlich größter Absatzmarkt, gefolgt von Europa mit 15 % und Asien mit 2 %.
Bezüglich des Werkzeugfokus lässt sich dem Spritzgießwerkzeugbau eine vorherrschende Rolle zuschreiben. 60 % der Unternehmen sind in diesem Bereich tätig. Des Weiteren werden Stanzwerkzeuge von 45 % und Blechumformwerkzeuge von 44 % der Unternehmen hergestellt. Gusswerkzeuge werden dagegen nur von 17 % und Massivumformwerkzeuge von 8 % der Werkzeugbaubetriebe gefertigt. Darüber hinaus verfügen einzelne Betriebe über das notwendige Know-how zur Fertigung aufwändigerer Werkzeugkonzepte wie Multikavitätenwerkzeuge im Spritzgießwerkzeugbau oder Folgeverbund- bzw. Transferwerkzeuge im Bereich der Blechumformung. Eine große Vielfalt besteht auch hinsichtlich der Abmessungen der hergestellten Werkzeuge. So sind viele türkische Betriebe nicht wie in Deutschland üblich auf bestimmte Werkzeuggrößen spezialisiert, sondern fertigen Werkzeuge verschiedener Größen von kleiner als 500 x 500 mm bis größer als 1000 x 1000 mm. Hinsichtlich der Genauigkeiten bei der Werkzeugherstellung wird von türkischen Betrieben durchschnittlich ein etwas niedrigeres Niveau erreicht als von deutschen Betrieben. Dies betrifft u.  a. die erreichten Oberflächenrauheiten oder die Größe des kleinstmöglich zu fräsenden Radius.
Die Qualität der internen Prozesse hat maßgeblichen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit von Werkzeugbaubetrieben. Zum Nachweis von Prozessstandards haben sich international gängige Zertifizierungen etabliert, wobei die international am weitesten verbreitete Zertifizierung die Qualitätsmanagement Norm ISO 9001 ist. Auch in der Türkei können 55 % der Werkzeugbaubetriebe diese Zertifizierung nachweisen. Die Norm TS16949 stellt eine wesentlich strengere Qualitätsmanagementnorm mit Fokus auf die Automobilindustrie dar. Nach ihr sind in der Türkei 10 % der Betriebe zertifiziert. Weitere Zertifizierungen sind darüber hinaus nur vereinzelt anzutreffen.
Eine qualitative Bewertung der Kompetenzen der türkischen Werkzeugbauindustrie anhand der wesentlichen Prozessschritte der Werkzeugerstellung kann der nachfolgenden Grafik entnommen werden. So besitzen türkische Werkzeugbaubetriebe lediglich geringe Kompetenzen im Bereich des Engineering, d. h. Methodenentwicklung sowie Auslegung und Simulation von Werkzeugen. Die Kompetenzen in der Konstruktion sind hingegen als gut zu bewerten. Hier wird mit international gängigen Konstruktionssystemen gearbeitet, allerdings erschwert ein Mangel an gut ausgebildetem Personal die Weiterentwicklung der Kompetenzen in diesem Bereich. In der Arbeitsvorbereitung verfügen türkische Werkzeugbaubetriebe nur über rudimentäre Kompetenzen. Dies liegt zum einen an den oftmals nicht durchgängigen CAx-Ketten sowie zum anderen an unzureichend entwickelten Planungssystematiken. Die Kompetenzen in der mechanischen Fertigung sind hingegen gut ausgeprägt, da meist große und junge Maschinenparks zur Verfügung stehen. Jedoch ist festzustellen, dass in der Türkei als Organisationsform die klassische Werkstattorientierung stark ausgeprägt ist. Ebenfalls finden moderne Ansätze des Shopfloormanagements lediglich in rudimentärer Form Anwendung. Mäßige Kompetenzen im Bereich Montage und Handarbeit sind auf den vergleichsweise hohen notwendigen händischen Nacharbeitsaufwand und eine geringe Prozessstandardisierung zurückzuführen. Beispielsweise ist ein sehr intensives manuelles Naschschleifen von Werkzeugen üblich. Da türkische Werkzeugbaubetriebe in der Regel nicht über eigene Try-Out Maschinen verfügen, bestehen für die Qualifizierung von sowohl Spritzgieß- als auch Blechumformwerkzeugen nur sehr geringe Kompetenzen.
Bezüglich der Ressourcen türkischer Werkzeugbaubetriebe können sowohl die Maschinenausstattung in den einzelnen Fertigungstechnologien als auch die Qualifizierung von Mitarbeitern betrachtet werden. In der Türkei hat – wie auch in Deutschland – die Fertigungstechnologie Fräsen die höchste Relevanz. Aus diesem Grund ist die Anzahl an Maschinen hier am größten. Sowohl in der Technologie Fräsen als auch in den weiteren relevanten Fertigungstechnologien Senk- und Drahterodieren sowie Drehen und Schleifen verfügen türkische Betriebe im Durchschnitt über jüngere Maschinen als deutsche Betriebe. Jedoch sind die Maschinen in der Türkei meist deutlich einfacher ausgestattet. 5-Achs Fräsmaschinen sind beispielsweise nur sehr selten vorhanden. Auch Automatisierungslösungen wie CAM-Schnittstellen, Schnellspannsysteme, Palettiersysteme oder Werkstückwechsler sind kaum vorhanden und der Anteil an CNC-fähigen Maschinen ist ebenfalls deutlich geringer. Qualifizierte Mitarbeiter sind eine weitere wichtige Ressource für Werkzeugbaubetriebe. Als technische Bildungsangebote werden durch das türkische Bildungssystem technische Schulen sowie technische Hochschulstudiengänge zur Verfügung gestellt. Es fehlt jedoch an werkzeugbauspezifischen Angeboten wie einer Ausbildung zum Werkzeugmacher oder einer höheren Weiterbildung mit dem Schwerpunkt Werkzeugbau. Dies führt zu großen Qualifikationsproblemen in der türkischen Werkzeugbaubranche, vornehmlich für die Bereiche Konstruktion und Engineering.
Zusammenfassend kann dem Werkzeugbaustandort Türkei ein großes Potenzial zugeschrieben werden, auch wenn die Folgen der aktuell unruhigen politischen Lage für die türkische Wirtschaft und damit auch für den lokalen Werkzeugbau noch nicht vorhergesehen werden können. In der Türkei gibt es eine Vielzahl Werkzeugbaubetriebe, die qualitativ hochwertige Reparaturen und Wartungen vor Ort für deutsche Werkzeuge durchführen können. Ebenfalls können türkische Unternehmen zum strategischen Outsourcing einzelner Fertigungsschritte bis hin zur Beschaffung von ganzen Werkzeugen mittelhoher Komplexität genutzt werden. Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit türkischen Betrieben, insbesondere für größere und komplexere Werkzeugprojekte, ist allerdings ein hoher Betreuungsaufwand ggf. auch vor Ort notwendig. Durch eine systematische Auswahl und Qualifizierung geeigneter Betriebe können deutsche Unternehmen jedoch langfristig erfolgreiche strategische Partnerschaften mit türkischen Werkzeugbaubetrieben erschließen.

Serie

Die WBA Aachener Werkzeugbau Akademie beschreibt im Rahmen einer dreiteiligen Reihe das Potenzial des internationalen Werkzeugeinkaufs. In den ersten beiden Teilen der Serie wurden hierzu die Chancen des chinesischen und des nordamerikanischen Werkzeugbaumarktes präsentiert. Der dritte Teil der Serie betrachtet nun den türkischen Werkzeugbaumarkt.

Dr. Wolfgang Boos, Geschäftsführer
Michael Salmen, M.Sc., Leiter Industrieberatung
Thomas Kuhlmann, M.Sc., M.Sc., Gruppenleiter Industrieberatung Johan de Lange, M.Sc., Berater
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