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Raus aus den Büros, rein in die Fabriken

Disruptive Beschaffung – Warum der Einkauf ein neues Selbstverständnis braucht
Raus aus den Büros, rein in die Fabriken

In einer Welt der technologischen Umbrüche muss sich auch das Beschaffungswesen neu erfinden. Werttreiber sind nicht mehr allein Kosteneinsparungen, sondern vor allem Innovationspotenziale. Die allerdings lassen sich nicht erschließen, wenn sich Einkäufer weiterhin als reine „Schreibtischtäter“ verstehen. Das Konzept „Disruptive Procurement“ zeigt auf, wie sich Einkaufsabteilungen stufenweise zu strategischen Gatekeepern wandeln können.

Das Beschaffungswesen ist eine relativ junge Unternehmensdisziplin. Erst Mitte der 1980er Jahre rückte der Einkauf ins Zentrum des betriebswirtschaftlichen Interesses und auf die Vorstands-Agenden. Initialzündung war bekanntermaßen der „Global Sourcing“-Ansatz von General Motors und Opel. Wertschöpfung durch Cost-Cutting – an dieser Philosophie der Beschaffung hat sich in den zurückliegenden drei Dekaden nur wenig geändert. Die meisten Einkaufsabteilungen arbeiten noch heute nach einem Muster, das über Jahrzehnte verlässlich Erfolg versprach. Mit bewährten Analysemethoden werden Ausgaben penibel nachgehalten, Einsparpotenziale identifiziert und Lieferantenmargen konsequent reduziert. Kostensenkung bis zum Maximum lautet das Gebot.

Ob Großkonzern oder mittelständischer Betrieb: Dieser ausschließlich zahlengetriebene Einkauf vom Schreibtisch aus ist in vielen Beschaffungsabteilungen nach wie vor gängige Praxis. Doch das „Desktop Procurement“ stößt an seine Grenzen. Traditionelle Kostenvorteile sind mittlerweile nahezu ausgereizt und die Wertschöpfung schrumpft. Das birgt nicht nur die Gefahr, dass an falscher Stelle, nämlich zu Lasten der Qualität, gespart wird.
Evolutionäres Prinzip
Reines „Desktop Procurement“ verkennt zudem, dass sich die Welt inzwischen dramatisch verändert hat. Die Lohnkosten in China sind binnen 15 Jahren um das Vierfache gestiegen, das allgemeine Wachstum verlangsamt sich, und in der Wirtschaftspolitik greift Protektionismus Raum. Ökonomen beschwören bereits die Rückabwicklung der Globalisierung herauf. Hinzu kommen die technologischen Eruptionen der Digitalisierung. Auch sie verändern den Lieferantenmarkt nachhaltig und vor allem in atemberaubendem Tempo. So wird allein die Standardisierung des 3D-Druckverfahrens, wie sie etwa Markenartikler Adidas bei der Produktion von Sportschuhen vorantreibt, den Fertigungsmarkt immer stärker von der Standortfrage emanzipieren. Kurzum: Einkauf bewegt sich heute auf überaus schwankendem Grund. Es ist daher an der Zeit, Beschaffung radikal neu zu denken. Einkäufer dürfen sich nicht länger hinter ihren Schreibtischen verkriechen. Sie sind schon jetzt kaum noch in der Lage, die Bedürfnisse ihrer Lieferanten und Kunden zu verstehen. Um auch in Zukunft einen echten Wertbeitrag leisten zu können, müssen Einkäufer wieder Anschluss finden an die komplexe industrielle Wirklichkeit, die noch dazu in permanentem Wandel begriffen ist. Worum es jetzt geht, ist ein tiefgreifendes Verständnis davon zu gewinnen, wie sich Produkte und Produktionsbedingungen verändern und wo Innovationspotenziale liegen. Einkäufer werden damit von „Schreibtischtätern“ zur strategischen Instanz, die technologische Trends antizipiert, um sie für das Unternehmen intelligent und wertschöpfend verfügbar zu machen. In engem Zusammenspiel mit Entwicklern, Ingenieuren und Marketingexperten sowohl im eigenen Haus als auch auf Lieferantenseite treiben diese Beschaffer der nächsten Generation technische Neuerungen und innovative Verfahren voran und erschließen so beträchtliche Wettbewerbsvorteile.
Mit seinem Konzept „Disruptive Procurement“ gibt A.T. Kearney dem Top-Management ein Instrument an die Hand, das Einkaufsorganisationen gezielt in diese Richtung weiterentwickelt. Basis ist eine Matrix, deren Achsen zwei Fragestellungen bilden: Wie hoch ist erstens das Wissen der Einkäufer um den Wert der Lieferanten für das Unternehmen? Und wie ausgeprägt ist zweitens ihr Bewusstsein hinsichtlich des Wertes, den das Unternehmen selbst für seine Kunden schafft? Je nachdem, ob die Bewertung auf den beiden Achsen „niedrig“, „mittel“ oder „hoch“ ausfällt, bildet die Matrix neun unterschiedliche Evolutionsstufen der Einkaufsabteilung ab (siehe Abbildung). Das Besondere: Der Ansatz betrachtet Beschaffungspraktiken nicht mehr nur hinsichtlich ihres Einsparpotenzials, sondern bezieht auch deren Innovationskraft mit ein. Entscheider verfügen somit über ein Koordinatensystem, das aufzeigt, wo die Einkaufsabteilung mittels detaillierter Kenntnis der Wertgenerierung auf Lieferanten- wie auf Kundenseite besonders hohe Beiträge liefern kann. Statt Kostenpotenziale nur für einzelne Kategorien zu heben, lassen sich damit ganzheitlich neue Produkte oder Services etablieren.
Konventionelles Denken überwinden
Höchste Wertschöpfung verspricht demnach der Beschaffungsansatz „Disruption“, der den Gegenpol zur eingangs beschriebenen Praxis des „Desktop Procurements“ bildet. Disruptive Beschaffung verlangt nicht nur ein exzellentes Verständnis der beiderseitig werthaltigen Prozesse. Dieses Konzept setzt vor allem die Bereitschaft voraus, industrielles Denken rigoros infrage zu stellen. Der kalifornische Elektroautohersteller Tesla etwa hat den Automobilmarkt in seinen Grundfesten erschüttert. Wie ist ihm das gelungen? Indem sein Gründer Elon Musk unerschrocken mit tradierten Überzeugungen gebrochen hat. In fruchtbarer Zusammenarbeit mit Lieferanten aus der Elektronik- und Digitalindustrie hat er die Revolution im Fahrzeugbau eingeläutet. So werden im batteriebetriebenen Tesla statt aufwändiger Crashboxen zum Motorschutz simple Aluminiumrohre verbaut – ein eklatanter Kostenvorteil. Das Beispiel zeigt eindrucksvoll: Die strategische Kollaboration mit Zulieferern kann gänzlich neue Produkte und sogar Geschäftsmodelle hervorbringen.
Die wenigsten Unternehmen werden allerdings von jetzt auf gleich die Potenziale disruptiver Beschaffung für sich nutzbar machen können. Der Wertbeitrag, der sich auf diese Weise erzielen lässt, dürfte für Vorstände und Geschäftsführer aber Anstoß genug sein, das Einkaufswesen stufenweise an die veränderte Realität anzupassen. Erster Schritt auf diesem Weg kann das „Lieferanten-Fitness-Programm“ sein. Hier konzentrieren sich alle Anstrengungen zunächst darauf, Einsparmöglichkeiten und Qualitätsverbesserungen beim Zulieferer umzusetzen. Um sein Modell 787 zu einem technischen wie wirtschaftlichen Erfolg und damit zu einem echten „Dreamliner“ zu machen, hat beispielsweise der US-Flugzeugbauer Boeing erhebliche Zeit darauf verwendet, vor Ort in den Werkstätten seiner Lieferanten die Teilefertigung zu optimieren. Fitness-Programme sind jedoch nicht allein auf das verarbeitende Gewerbe beschränkt. So können Fluggesellschaften oft mehr erreichen, wenn sie bei ihren Dienstleistungspartnern im Groundhandling nicht ausschließlich an der Preisschraube drehen. Kostenvorteile lassen sich vor allem auch dadurch erzielen, dass ineffiziente Abläufe etwa bei der Gepäckabfertigung oder an den Ticketschaltern identifiziert und beseitigt werden.
Welche Beschaffungspolitik für das Unternehmen mittelfristig die richtige ist, darüber muss das Management unter Abwägung strategischer Ziele und vorhandener Ressourcen entscheiden. Unabhängig davon empfiehlt es sich für jeden Praktiker aus dem Einkauf, herkömmliche Denkmuster zu durchbrechen. Das bedeutet: raus aus den Büros, rein in die Fabrikhallen, Teeküchen und Labore. Einkäufer sollten sich in die Rolle eines Branchen-Neulings begeben und vor Ort das Gespräch mit Zulieferern, Abnehmern und Kollegen suchen.
Raus aus der Komfortzone
Exceltabellen und Datenblätter bleiben auch weiterhin ein wichtiges Instrument. Aber wie sich vor allem unter den Vorzeichen der Digitalisierung die industrielle Welt und damit auch Beschaffungsszenarien verändern, das erkunden Einkaufsprofis auf der Höhe der Zeit am besten bei einer Tasse Kaffee im Büro der Ingenieurskollegen oder auch mit dem Schraubenzieher in der Hand in der Werkshalle eines Zulieferers.

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Dr. Christian Schuh, Partner bei A.T. Kearney und Leiter des Kompetenzteams Einkauf in Europa

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Dr. Michael F. Strohmer, Partner bei A.T. Kearney und Leiter des Kompetenzteams Einkauf in Deutschland, Österreich und der Schweiz
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