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Schnellboote statt Tanker – und bitte alle Lieferanten unkompliziert an Bord nehmen

Elektronische Beschaffung im Mittelstand
Schnellboote statt Tanker – und bitte alle Lieferanten unkompliziert an Bord nehmen

Der Markt für elektronische Einkaufslösungen und Beratung hat sich prächtig entwickelt. Zumindest scheint es so. Zu traditionellen Anbietern – so mancher ist seit 20 Jahren aktiv – hat sich in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe neuer Wettbewerber gesellt. Im Kontext zunehmender Digitalisierung gibt es eine Reihe unschlagbarer Argumente für den Einsatz von Tools. Aber wie reif ist der Markt wirklich? Und wie reif sind die Einkäufer selbst? Vielen KMU ist nicht bewusst, wann eine einfache, schlanke Lösung für operative Abläufe ausreicht.

Insbesondere kleinere Unternehmen oder solche mit verhältnismäßig geringen, überschaubaren Bedarfen mussten im Bereich elektronische Einkaufslösungen lange auf passende technische Konzepte warten. Anbieter fokussierten über viele Jahre hinweg größere Einkaufsabteilungen mit – unterstellten – hohen Ansprüchen an vernetzte Prozesse mit strategischem Aufgabenpotenzial. Die Tatsache, dass selbst so manche international agierende Organisation erst seit kurzer Zeit intensiv damit beschäftigt ist, die eigene Mannschaft, elektronische Einkaufsprozesse, technische Anbindungen, interne Bedarfsträger und externe Zulieferpartner möglichst reibungslos einzubinden, verdeutlicht, dass es sich um alles andere als triviale Maßnahmen handelt.

Gefragt ist langer Atem. In der öffentlichen Darstellung kommt meist zu kurz, dass sich auch hinter mit Awards gekürten Best-Practice-Lösungen Verständnisschwierigkeiten und kräftezehrende (zwischen-)menschliche Abstimmungsprozesse verbergen. Das sollte freilich nicht abschrecken. Es gilt, die richtigen Schritte mit den richtigen Partnern zu gehen. Nicht immer muss ein Tanker manövriert werden, denn zuweilen führen auch einzelne Schnellboote direkt in den Hafen.
Kaum Durchblick im Lösungsdickicht
Haben Anbieter gute Argumente? Wissen Einkäufer immer, was sie selbst konkret benötigen – zumindest mittelfristig? Die Umworbenen haben es nicht leicht, vermeintlich individuell Passendes zu identifizieren. „Es hat durchaus eine Marktkonsolidierung stattgefunden, gleichzeitig sind neue Anbieter aufgetaucht. Die Vielzahl von Lösungen mit unterschiedlicher Zielsetzung und Konzeption für den kleinen, gehobenen und großen Mittelstand ist in der Tat sehr verwirrend“, konstatiert Joachim von Lüninck, Managing Partner der AMC Group. Die Beratung analysiert den Anbietermarkt seit Jahren anhand von Funktionsclustern und Use Cases. So mancher Anwender lerne erst im Laufe der Implementierung, seine eigenen Anforderungen genauer zu definieren, meint von Lüninck. Das führe dann nach ersten Schritten der Nutzung durchaus auch mal zu der ernüchternden Feststellung, sich für einen „falschen Anbieter“ entschieden zu haben. Ein Umschwenken auf eine Alternative sei „im Prinzip kein Hexenwerk“, aber intern schwer zu kommunizieren.
Marketing muss Hausaufgaben machen
Eine solche Alternative sind „Technologien, die aufgrund ihrer Modularität auch als Ergänzung zu bestehenden Systemen eingesetzt werden können“, sagt Reinald Schneller, Geschäftsführer des auf operative Einkaufsprozesse spezialisierten Anbieters Netfira. Schneller ruft die Vertreter seiner Branche zu mehr Differenzierung und einer eindeutigeren Positionierung im Hinblick auf angepeilte Zielgruppen auf. „Wenn der Einkauf im Mittelstand stöhnt, dass noch zu viele manuelle Tätigkeiten im Alltag den Fortschritt der Digitalisierung behindern, dann haben die Marketingabteilungen der Dienstleister ihre Hausaufgaben nicht gut gemacht.“ Schließlich bestehe längst die Möglichkeit, operativ „so gut wie alles“ zu automatisieren, auch Belegflüsse mit allen Lieferanten. „Die IT versucht indes oft noch immer, auf traditionelle Techniken zu setzen oder man glaubt, im ERP-System gebe es genügend Funktionen, die den Einkauf zufriedenstellend abdecken“, so Schnellers Erfahrung. Das hinlänglich verbreitete Verkaufsargument „Jeder kann alles“ sei zudem wenig hilfreich für die Überlegungen des Einkaufs.
Teillösungen als gute Alternative
Netfira-Chef Schneller erhofft sich in der Zukunft „mehr Bereitschaft zur Zusammenarbeit der Anbieter“, zum Beispiel in Sachen Kopplung von strategischen Tools mit operativen Lösungen. Begründung: „Es gibt immer mehr umfangreichere Lösungen mit immer mehr Funktionen vor allem für große Unternehmen. Mittelständler hingegen benötigen keinen Tanker; sie sind vielfach mit Teillösungen besser und ausreichend bedient.“ Ein System, das die Bearbeitung von Bestellungen, Bestätigungen und gegebenenfalls Lieferscheine vollständig automatisiert und alle Lieferanten digital anbindet, sei „in vier bis sechs Wochen“ implementiert und bringe sofort Nutzen. „Der Return on Invest ist hoch und tritt schon nach kurzer Zeit ein“, sagt Reinald Schneller. Tools für Ausschreibungen und Auktionen, Spend und Life Cycle Management, Vertragsmanagement, SRM und Kollaboration seien bei weitem nicht immer als Komplettpaket angezeigt. Schneller: „Die eigentliche Arbeit liegt in den operativen Beschaffungsprozessen, diese gilt es hinreichend zu automatisieren, um dann ausreichend Zeit für strategische Aufgaben wie Lieferantenauswahl, -betreuung und Kooperationen zu haben.“ Auch Joachim von Lüninck rät, die gesamte Prozesskette nur dann zu implementieren, wenn sich diese über einen professionell aufgesetzten Business Case nachweislich rechne.
Lieferanten in den Fokus nehmen
Marktbeobachter von Lüninck verweist auf die vom Anbietermarkt „noch immer nicht befriedigend gelöste Einfachheit bei der Einführung der Systeme“. Komplizierte Anbindungen und die Dauer von Implementierungsprozessen seien oft frustrierend für den Einkauf. Auch das Thema Standardschnittstelle, egal zu welchen Vor- oder ERP-Systemen, sei noch nicht hinreichend bearbeitet. Übereinstimmend mahnen Joachim von Lüninck und Reinald Schneller, die Lieferanten nicht aus dem Blickfeld zu verlieren. „Der Einkauf kann nur dann zum Innovationstreiber werden, wenn er über reibungslose operative Prozesse in der Lage ist, möglichst alle Lieferanten, Partner und Dienstleister digital anzubinden“, sagt Netfira-Chef Reinald Schneller. Ohne Lieferantenmitwirkung sei eine optimal funktionierende digitale Prozesskette nicht möglich. Schnellers Rat: „Der Einkauf braucht zum Beispiel Apps, die es dem Lieferanten leicht machen. Es dürfen ihm keine Kosten und kein Aufwand entstehen. Er sollte seine internen Prozesse nicht umstellen müssen und selbst von einer Anbindung auch einen Nutzen haben. Dann macht er mit.“ Berater Joachim von Lüninck plädiert gar für einen einheitlichen Standard.
Aussitzen? Schlechteste aller Lösungen
E-Procurement-Experte Prof. Dr.  Holger Müller von der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HWTK) Leipzig hat festgestellt, dass viele Einkäufer derzeit wieder verstärkten Informationsbedarf zu haben scheinen: „Die Nachfrage ist wieder ähnlich groß wie vor rund 20 Jahren.“ Dabei gehe die Schere zwischen Einsteigern bzw. Anfängern und Fortgeschrittenen immer weiter auf. Nicht jeder habe seine Prozesse mit eindeutigen Anforderungen und Regeln im Unternehmen so hinreichend ausgestaltet, dass elektronische Tools darauf sinnhaft und reibungslos aufbauen. Gescheiterte Versuche, auch in Behörden, hätten teilweise auch dazu geführt, das Thema erst einmal nicht weiter zu betreiben. Der Rückgriff auf Microsoft-Formulare und das Faxgerät sei gar nicht so selten. „Fakt ist: Der Mittelstand braucht auf der einen Seite Kapazität und Freiheit im Alltag, sich dem Thema eingehend zu widmen, und auf der andere Seite skalierbare Lösungen“, betont Müller. Diese gebe es durchaus am Markt; ein Aussitzen des Einkaufs sei darum auch die schlechteste aller Lösungen. Müller rät dringend, erst intern zu klären, wie der Einkauf in Zukunft funktionieren soll, welche Bereiche elektronisch abbildbar sein sollten und wie eine mögliche komplexere Integration ablaufen kann. Und auch er weist auf den kritischen Erfolgsfaktor der Lieferantenanbindung hin: „Benötigt wird im Prinzip eine Standardschnittstelle, die auch kleinen Lieferanten die Schwellenangst nimmt.“ Derzeit sei die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Digitalisierung und Einkauf 4.0 groß – diesen Faktor gelte es laut Müller konsequent in der internen Kommunikation und in Gesprächen mit Anbietern zu nutzen.
Welche Anbieter werden überleben?
„Überleben werden die ganz Großen und vor allem diejenigen, die auf moderne, innovative Digitalisierungstechniken setzen“, sagt Reinald Schneller von Netfira. Wer heute noch glaube, mit EDI und OCR die Digitalisierung erreichen zu können, sei auf dem Holzweg. Schneller rät in jedem Fall dazu, die IT frühzeitig einzubeziehen, damit diese später im Prozess Projekte nicht verlangsame oder gar blockiere. Berater von Lüninck ist nach eigenem Bekunden gespannt, wie die Systemhersteller die skizzierten Herausforderung lösen wollen: „Wir sind der realen Entwicklung gedanklich Jahre bis Jahrzehnte voraus. Die Praxis folgt nur sehr langsam, zumindest in vielen KMU.“ Es gehe kein Weg an einer intensiveren Zusammenarbeit der Anbieter vorbei. Das Gebot der Stunde sei freilich „Verstand statt Hektik“.

Fragen an den Anbieter

Checkliste

  • Ist die Lösung schlank und schnell implementierbar?
  • Was genau ist mein Nutzen?
  • Wie ist der betriebswirtschaftliche Nutzen?
  • Wie kann mir die Lösung verhelfen, schnell in den Einkauf der Zukunft einzusteigen?
  • Wie sieht die Lieferantenanbindung aus?
  • Welche Kosten und welcher Aufwand entstehen dem Lieferanten?
  • Wie flexibel bin ich mit dieser Lösung?
  • Muss ich alles von einem Anbieter kaufen?
  • Kann ich später auch Lösungen von anderen Anbietern andocken?
  • Ist das System modular und offen für Ergänzungen anderer Anbieter?
  • Wie gut integriert es sich in meine bestehende Systemlandschaft?

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    Sabine Ursel, freie Journalistin
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