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Resilienz im Einkauf stärken

Serie: Resilienz im Einkauf, Teil 2
Schnelltest statt Schrotflinte zur Stärkung der Resilienz

Schnelltest statt Schrotflinte zur Stärkung der Resilienz
Mit Corona und den sehr unterschiedlichen Erfahrungen zur Stabilität und Flexibilität von Lieferketten kommt Resilienz ins betriebswirtschaftliche Bewusstsein, insbesondere auch vieler Einkaufsverantwortlicher. Bild: Eduardo/stock.adobe.com
Second Source oder Local Sourcing sind weit verbreitete Empfehlungen, um die Resilienz in den Lieferketten zu stärken. Das kann jedoch schnell sehr teuer werden. Im zweiten Artikel der Serie zur Resilienz im Einkauf wird ein Verfahren vorgestellt, wie die Lieferketten an den richtigen Stellen widerstandsfähig gemacht werden. Und das geht einfacher als im ersten Moment vermutet.

Resilienz bezeichnet die Widerstandsfähigkeit gegenüber unerwarteten Risiken. Wie kann aber die Widerstandsfähigkeit erhöht werden, wenn die Gefahren nicht bekannt sind? Methode Schrotflinte bedeutet, umfangreich Redundanzen zu schaffen, z. B. durch Second Sources, Anschaffung von Zweit-Werkzeugen oder Erhöhung von Beständen. Ebenso wird die optimale regionale Verteilung von Lieferanten intensiv diskutiert: Local Sourcing oder doch besser eine weite regionale Streuung der Lieferanten. So richtig diese Ideen sind, haben sie ein gemeinsames Problem: Flächendeckend per Schrotflinte eingeführt sind diese Maßnahmen viel zu teuer.

Wirkungsbezogener Ansatz im Risikomanagement

Das klassische Risikomanagement bemüht sich, Risiken umfangreich zu identifizieren und anschließend zu bewerten. Soweit Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit hoch sind, werden Maßnahmen ergriffen. Auf unbekannte Risiken oder Risiken mit sehr geringer Eintrittswahrscheinlichkeit kann in diesem Ansatz allerdings nicht angemessen reagiert werden.

Zur Stärkung der Resilienz wird deshalb die Herangehensweise des klassischen Risikomanagements umgedreht. Im sogenannten wirkungsbezogenen Ansatz des Risikomanagements wird die Verwundbarkeit des Unternehmens analysiert. An den kritischen Stellen der Lieferketten werden Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz ergriffen. Am konkreten Beispiel bedeutet dies: Es wird untersucht, welcher Schaden (z. B. Umsatzausfall) entsteht, wenn die Lieferung eines Materials oder ein Lieferant für längere Zeit ausfällt. Sind die Konsequenzen existenzbedrohend, werden Maßnahmen wie die Entwicklung von Alternativmaterialien oder der Aufbau einer Second Source ergriffen. Dies erfolgt unabhängig davon, ob konkrete Risiken zu erkennen sind. Mit dem folgenden Schnelltest werden in fünf Schritten kritische Elemente in den Lieferketten identifiziert, bewertet und widerstandsfähiger gemacht. Im Fokus steht der (längerfristige) Ausfall von kritischen Materialien bzw. kritischen Lieferanten.

1. Schritt: Kritische Elemente identifizieren

Zunächst wird analysiert, welcher Umsatz bzw. besser welcher Deckungsbeitrag ausfällt, wenn ein Material bzw. ein Lieferant nicht mehr verfügbar ist. Über die Auflösung der Stücklisten bzw. über den Verwendungsnachweis ist diese Analyse bei vielen Unternehmen ohne großen Aufwand möglich. Die Materialien bzw. Lieferanten, die einfach ersetzt werden können, sind aus der Betrachtung zu eliminieren, z. B. indem vorab nur kritische Materialgruppen betrachtet werden. Die Analyse kann verfeinert werden, indem auch drohende Vertragsstrafen oder Ausstrahlungseffekte auf komplementäre Produkte berücksichtigt werden.

Für die weitere Analyse werden die Materialien bzw. Lieferanten identifiziert, deren Ausfall für das Unternehmen existenzbedrohend sein kann.

2. Schritt: Lieferkette verstehen

Für diese kritischen Materialien bzw. Lieferanten sollten jeweils die Lieferketten über alle Wertschöpfungsstufen identifiziert werden. Welches sind die kritischen Vorlieferanten auf den unterschiedlichen Wertschöpfungsstufen? Gibt es in der Lieferkette kritische Engpässe, wie monopolistische Vorlieferanten, spezifische Werkzeuge oder singuläre Produktionsstandorte?

3. Schritt: Stabilität analysieren

In der Stabilitätsanalyse werden die kritischen Elemente in der Lieferkette auf ihre Stabilität untersucht, d. h., wie mögliche Störungen abgefedert werden können. Beispielweise werden die Lieferketten auf Redundanzen (z. B. Produkt kann an zwei Standorten produziert werden) und auf Bestände hin analysiert. Die zentrale Frage lautet: Wie lange dauert es im worst case, bis die Versorgung zum Erliegen kommt? Der Zusammenhang wird exemplarisch im Bild veranschaulicht. Die vorhandene Stabilität führt erst nach drei Monaten zu einem Abriss der Versorgung.

4. Schritt: Flexibilität analysieren

In der Flexibilitätsanalyse wird betrachtet, wie lange die Qualifizierung bzw. die Bereitstellung einer alternativen Lösung dauert. Dieser Zeitraum hängt wesentlich von der Agilität der Freigabe- bzw. der Beschaffungsprozesse und insbesondere der Zusammenarbeit mit den cross-funktionalen Partnern sowie mit Lieferanten ab. Im Beispiel sind 50 Prozent des Volumens nach fünf und weitere 50 Prozent des Volumens nach sieben Monaten wieder verfügbar.

5. Schritt: Resilienzlücke bestimmen und schließen

Als Gap zwischen Absicherung durch Stabilität und Verfügbarkeit durch Flexibilität ergibt sich die Resilienzlücke. Die Resilienzlücke ist abzuschätzen. Falls die Lücke existenzbedrohend ist, sollten Maßnahmen zur Steigerung der Stabilität bzw. zur Erhöhung der Flexibilität durchgeführt werden. Mit der oben ausgeführten Analyse sind die kritischen Elemente der Lieferkette (z. B. welche Wertschöpfungsstufen, welche Vorlieferanten bzw. welche Produktionsstrukturen) bekannt. Ebenso ergeben sich aus der Analyse die besonders geeigneten Hebel zur Verbesserung, z. B. Second Source, bessere regionale Verteilung oder Bestandserhöhung. Die Maßnahmen sind weitgehend die bekannten Aktionen, die nun aber auf die besonders verletzlichen Elemente der Lieferketten konzentriert werden.

Integration in die Materialgruppenstrategien

Soweit das Unternehmen über einen strategischen Einkauf verfügt, sollte der Schnelltest in die Formulierung der Materialgruppenstrategien integriert werden. Die angesprochenen Hebel, wie Lieferantenzahl, Regionalverteilung der Lieferanten, Bestandsoptimierung, sind Teil jeder guten Materialgruppenstrategie. Die Entscheidungen zu den Hebeln sollten aus allen strategischen Überlegungen heraus getroffen werden. Resilienz ist dabei nur einer von mehreren Faktoren.

Ein erfahrener Einkäufer sollte den Schnelltest innerhalb von 15 bis 30 Minuten pro kritischem Lieferanten erledigen. Allerdings setzt die Aufgabe erhebliche Kompetenz im Einkauf voraus, die ggf. erst aufzubauen ist. Der damit verbundene Aufwand erscheint allerdings angemessen, da ja nur Materialien und Lieferanten betrachtet werden, deren Ausfall die Existenz des Unternehmens bedrohen. Ferner gilt an dieser Stelle der alte Spruch: Mondschein ist heller als finstere Nacht. Selbst wenn anfangs keine vollständige Transparenz der Lieferketten möglich ist, können erste Erfolge die Resilienz im Einkauf ganz erheblich stärken.

Im folgenden Teil der Serie zur Resilienz im Einkauf wird gezeigt, wie Unternehmen sich auf den Krisenfall vorbereiten sollten. Mit einem Reifegradmodell lässt sich der vorhandene Vorbereitungsgrad sowie mögliche Verbesserungsideen einfach bestimmen.


Workshop

Risikomanagement und Resilienz im Einkauf und in der Lieferkette

An fünf Online-Terminen mit jeweils 3 Stunden wird ein ganzheitlicher Ansatz zur Steuerung der Risiken im Einkauf und in den Lieferketten vorgestellt. Die Teilnehmer entwerfen eine Roadmap, wie sie ihr Risikomanagement fortentwickeln.

Start: 2. Mai 2022; Online per Zoom

www.beschaffungsstrategie.de


Der Autor: Gerhard Heß

Professor für Supply Management an der Technischen Hochschule Nürnberg

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