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Schutz vor dem Peitschenknall

Bedarfsschwankungen – Maßnahmen für eine schlanke Supply Chain
Schutz vor dem Peitschenknall

Die Automobil-Zulieferindustrie muss permanent Kosten und Servicegrad ausgewogen optimieren. Bestandskosten und Verfügbarkeitsgrad sind zwei Seiten derselben Medaille. Dabei stellen lange Transportwege asiatisch-europäischer Lieferketten und plötzliche Bedarfsschwankungen das strategische Beschaffungsmanagement vor vielfältige Herausforderungen. Dieser Beitrag präsentiert Studienergebnisse über eine Maßnahmenoffensive zur Reduzierung von Lager- und Transportkosten bei gleichzeitig höherem Lieferservicegrad.

Eine enge Kooperation zwischen Vertrieb, Planung, Einkauf und Logistik über die Lieferkette hinweg kann zu einer deutlichen Reduktion der Kosten und einem optimierten Waren- und Informationsfluss führen. Demgegenüber sind fehlende Koordination und ungenügende Nachfrage-, Bestell- und Logistikinformationen wesentliche Gründe für Lagerbestandsschwankungen, die sich über jede Stufe der Versorgungskette kostspielig aufschaukeln können. Neben kostspieligen Lagerbeständen entstehen aufgrund falscher oder missinterpretierter Bedarfsinformationen Fehlplanungen in Produktion und Logistik. Das Bild einer schwingenden Peitsche („Bullwhip-Effekt“) ist die gängige Metapher für die Folgen fehlgeleiteter Managemententscheidungen rund um Nachfrageschwankungen und Bedarfsplanung und auf Forester (1958) zurückzuführen.

Der Bullwhip-Effekt wurde insbesondere für Konsumgüter und Supply Chains im Handel intensiv untersucht. Allerdings sind Maßnahmen, die bei Nahrungsmitteln oder dem häufig zitierten Beispiel von Babywindeln zu einer deutlichen Reduktion der Lagerbestände und Logistikkosten führten, nicht zwangsläufig die Erfolgsrezepte für andere Branchen. Stellvertretend für globale Versorgungsketten im Business-to-Business-Geschäft analysierte eine Studie der Universität der Bundeswehr München die Lieferkette in der Automobil-Zulieferindustrie von Asien nach Europa. Im Speziellen wurden die starken Bedarfsschwankungen der letzten (Krisen-)Jahre unter die Lupe genommen und die entsprechenden Gegenmaßnahmen und Reaktionsmuster der Lieferanten ausgewertet.
Die ökonomischen Auswirkungen der amerikanischen Immobilienblase und der anschließenden Finanzkrise sind auch heute noch spürbar. Gerade in der Automobilindustrie war die Verunsicherung groß. Auf extreme Nachfrageeinbrüche folgten völlig unerwartete Abverkaufserfolge, deren Ursachen, z. B. die Abwrackprämie oder Exporterfolge, so nicht antizipiert werden konnten. Insgesamt führten diese Entwicklungen zu extremen Bestellschwankungen, die sich gerade über die verschiedenen Stufen der Automobil-Zulieferindustrie aufschaukelten. Zu spüren bekommen dies vor allem Zulieferer mit relativ großem Abstand zum Endkunden bzw. zum OEM. Solche „2nd-to-x-tier“-Lieferanten müssen flexibel auf Bedarfsschwankungen reagieren können, um die hohen Ansprüche bezüglich Lieferservice, Kosten und Flexibilität erfüllen zu können, ohne allerdings direkte Marktinformationen als Planungsgrundlage zu erhalten. Nicht immer gibt es detaillierte bzw. stabile Forecast-Zahlen oder Lieferpläne von den Kunden. In diesem Fall sind die platzierten Bestellungen die einzigen zur Verfügung stehenden Informationen für Planung und Einkauf in der Supply-Chain-Management-Abteilung.
Krise, Boom, Krise, Boom. Im untersuchten Fall ergibt sich eine besondere Herausforderung daraus, dass Global Sourcing, also die Nutzung kostengünstiger, insbesondere asiatischer Produktionsstandorte, zwangsläufig zu langen Transportwegen und damit mangelnder Flexibilität führt. Der kostengünstigste Transport ist der Seetransport, der allerdings von Asien nach Europa etwa 25–35 Tage (reine Transportzeit ohne Vorlauf am Abgangsort, Abfertigung im Ankunftsseehafen, Verzollung etc.) in Anspruch nimmt. Die Problematik ist nun, dass falsche Annahmen und Prognosen – spätestens während der langen Transportphase – nicht ohne zeit- und kostenintensive Maßnahmen ausgeglichen werden können. Benötigen die Kunden mehr Güter als angenommen, dann kann dies aufgrund der mehrwöchigen Transportzeit nur über teure Lufttransporte und eine außerplanmäßige Produktionsumstellung ausgeglichen werden. Eine zu kurzfristige Produktionsumstellung kann zudem weitere Verzögerungen durch zusätzliche Rüstzeiten verursachen. Dagegen erhöht sich bei einer Bedarfsreduzierung der Kunden durch die Unterwegsware, die sogenannten „Goods in Transit“, der Lagerbestand mit entsprechenden Kapitalbindungskosten. Aus diesen Gründen wurden Wege gesucht, um die teilweise exzessiven Bestandsschwankungen nachhaltig in den Griff zu bekommen.
Zur Verringerung des Peitschenknall-Effekts wurden konkrete Ursachen für Bedarfs- und Bestellschwankungen identifiziert und Maßnahmen getroffen, um diese Volatilität durch veränderte Waren- als auch Informationsflüsse und Entscheidungswege zu verringern. Dadurch sollte die Planbarkeit erhöht und so die Effektivität (Lieferservice) und Effizienz (Transport- und Lagerkosten) optimiert werden. Dabei darf man aber die Anstrengungen der Supply-Chain-Management-Abteilung, insbesondere des Einkaufs und der Planung, nicht isoliert betrachten, diese sind natürlich eingebettet in übergeordnete Strategien.
Ausgangspunkt, um konkrete Maßnahmen gegen den Bullwhip-Effekt zu formulieren, war eine Ursachen- und IST-Analyse der Versorgungskette. Insgesamt wurden – in Anlehnung an die gängigen Forschungsergebnisse des Handels – mehrere Ursachenkomplexe identifiziert, wobei diese grob in operationelle und verhaltensbasierte Ursachen untergliedert werden können. Bei operationalen Gründen wird davon ausgegangen, dass rationale Entscheidungen getroffen werden und somit die Struktur der Supply Chain für das Auftreten des Effekts verantwortlich ist. Notwendige Informationen werden in diesem Fall gar nicht, verzerrt oder falsch übertragen oder interpretiert. Bei verhaltensbasierten Ursachen wird das Handeln der Akteure als Grund für (zu) starke Bedarfsschwankungen angesehen.
Im Fall der betrachteten Supply Chain sind als operationale Ursachen für den Bullwhip-Effekt insbesondere lange Durchlaufzeiten (Transport von Asien nach Europa), unsichere Nachfrageprognosen (nicht vorhandener/unsicherer Forecast, Bestelldaten als einzige Quelle für Bedarfsentwicklung) und komplexe Systemstrukturen (mehrstufiger Aufbau der Waren-, Informations- und Entscheidungswege) hervorzuheben. Verstärkend kamen verhaltensbasierte Ursachen hinzu. Gerade in Boomphasen werden Bestellungen in ihrer Höhe gerne übertrieben („risikoaverses Verhalten“), damit man auch bei steigendem Bedarf lieferfähig bleibt. Fehlmengen oder einer drohenden Allokation der zur Verfügung stehenden Gesamtmenge auf die Kunden wird durch eine bewusste Übertreibung begegnet, was die Verknappung der Güter aber meist noch verschärft. In der Krise dagegen fürchten die Akteure zu hohe Lagerbestände und es erfolgt eine Übertreibung mit negativem Vorzeichen. Ex post konnte im Rahmen dieser Studie die hohe Varianz in den Bestellungen während der Finanzkrise und der Einführung der Abwrackprämie mit daran anschließender Absatzsteigerung (2009–2010) auf operationale und verhaltensbasierte Ursachen zurückgeführt werden.
Drei Maßnahmen zur Optimierung wurden durchgeführt, wobei man im Schwerpunkt auf die Bekämpfung operationaler Ursachen des Bullwhip-Effekts abzielte. Ohne auf die zeitliche Implementierung der einzelnen Maßnahmen näher einzugehen, wurde einerseits die Struktur der Supply Chain – ganz im Sinne der japanischen Lean-Management-Strategie – entschlackt und vereinfacht.
Alle dezentralen Supply-Chain-Management-Funktionen inklusive Lagerhaltung bei den Tochterunternehmen wurden im europäischen Headquarter zentralisiert. Dadurch wurde die Rolle und Verantwortung der für Europa verantwortlichen zentralen Supply-Chain-Management-Abteilung gestärkt und die Komplexität der Supply Chain sehr deutlich reduziert.
Diese Struktur erlaubte es nun, die bisherigen Entscheidungs- und Informationsflüsse neu zu gestalten. Weiterhin wird auf eine „Bottom-up“-Strategie gesetzt. Die dezentralen, teilweise nationalen Vertriebsstellen bleiben verantwortlich für die Bearbeitung der Kundenbestellungen, während in der Supply-Chain-Management-Abteilung weiterhin deren Umsetzung in eine konkrete Kapazitätsplanung für die asiatischen Werke verfolgt wird. Dies erfolgt gestützt auf moderne Informationstechnologie über eine Softwarelösung. Allerdings erfolgt über monatliche Planungsmeetings auch eine „Top-Down“-Koordination, indem der Vertrieb strategische Bedarfe, z. B. von Neukunden oder Bestellungen anderer Regionen, in die Planung einbringt. Diese bidirektionale Koordination erlaubt es, operationale als auch verhaltensbasierte Ursachen für den Bullwhip-Effekt zu identifizieren und entsprechend gegenzusteuern.
Als dritte Maßnahme und als wesentliche Unterstützung für die Abstimmung individueller Kundenbestellungen auf europäischer Ebene wurden die bisherigen Prognoseinstrumente auf den Prüfstand gestellt. Durch Bündelung der Ressourcen in einer eigenen Planungsabteilung wurde die Genauigkeit der Bedarfsprognose erhöht. Dies verbessert einerseits Art und Umfang der vorhandenen Informationen und optimiert andererseits die Möglichkeit rationaler Planungsentscheidungen.
Gestärkt in die Zukunft. Das Ergebnis der vorgestellten Maßnahmen ist insgesamt durchweg positiv. Die Reduzierung der Komplexität und die verbesserten Prognoseinstrumente führten nicht nur zu einer schlankeren Versorgungskette, sondern auch zu einer verbesserten Steuerbarkeit. Die Teams aus Vertrieb, Planung, Einkauf und Logistik arbeiten heute entspannter und trotzdem effizienter zusammen. „Hau-Ruck“-Aktionen aufgrund drohender Lieferengpässe werden dadurch seltener bzw. es besteht nun ein Instrumentarium, um auf derartige Herausforderungen adäquat reagieren zu können. So werden statt aufwändiger Planänderungen für Produktion in den Werken bzw. für die beschleunigte Abfertigung und Transport immer öfter planerische Änderungen durchgeführt, indem die Allokation einer Produktgruppe an die identifizierten Veränderungen angepasst wird – vorausgesetzt die Produktion kann die Änderungen wie gewünscht umsetzen. Die Reduzierung der personal- und zeitintensiven Steuerungsaktivitäten werden heute – ganz im Sinn der im Konzern verbreiteten Kaizen-Philosophie – genutzt. Kaizen, japanisch für kontinuierliche Verbesserung, ist gerade für das zentrale Supply Chain Management die Aufgabe, um bei gleichbleibend hohem Lieferservice die Effizienzschraube noch ein Stück weiter zu drehen.
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