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Wenn der Wasserstand sinkt, werden die Klippen sichtbar

Dr. Michael Nießen und Joachim von Lüninck, amc Group
Wenn der Wasserstand sinkt, werden die Klippen sichtbar

Dr. Michael Nießen, früherer CPO der Deutsche Post DHL Group, ist neuer Beirat der amc Group. In einem Online-Meeting haben wir ihn und den amc-Gründer und Managing Partner Joachim von Lüninck zu den aktuellen Herausforderungen des Einkaufs befragt. Auch einen Tipp für anstehende Preisverhandlungen haben sie.

Die Fragen stellte die Journalistin Annette Mühlberger.

Herr Dr. Nießen, im Einkauf tobt in der Lieferkrise der Sturm. Bedauern Sie es, nicht mehr operativ tätig zu sein, jetzt wo es „so richtig spannend wird“ oder sind Sie eher erleichtert, dass Sie diese Probleme nicht mehr haben?

Michael Nießen: Weder noch! Ich kann jetzt ohne den Druck des Tagesgeschäfts meine Kunden sehr gut betreuen.

Herr von Lüninck, aus Beratersicht, hat der Einkauf gerade überhaupt Zeit, sich über seine Transformation Gedanken zu machen?

Joachim von Lüninck: In der Tat hat der Einkauf aktuell kaum Kapazitäten. Die Versorgungssicherheit steht an erster Stelle und natürlich auch ein Firefighting an der Preisfront. Auch wenn es seltsam klingen mag, aber genau in diesen Zeiten kann der Einkauf beweisen, was er kann und wofür er gebraucht wird. Es sind nun mal die Krisen, die aufzeigen, wo die Schwächen liegen. Sinkt der Wasserspiegel, zeigen sich die Klippen, die man umschiffen oder aus dem Weg räumen muss. Die Prioritäten werden deutlich und damit die Themen, an denen im Zuge einer Transformation gearbeitet werden sollte.

Was raten Sie Einkäufern und Einkäuferinnen, die jetzt im Feuer stehen?

von Lüninck: Ohne überheblich klingen zu wollen, gilt aus meiner Sicht jetzt umso mehr: In der Ruhe liegt die Kraft. Panik und Hektik sind keine guten Berater. Die Verfügbarkeiten und Preisentwicklungen haben in vielen Branchen und Regionen ja auch mit der Auslastung zu tun. Wenn sich die Auslastung in den Unternehmen, die durch Corona sehr durcheinander geraten ist, weltweit wieder einpendelt, wird das zu einer gewissen Normalisierung führen. Für die anstehenden Verhandlungen gilt es deshalb kreativ zu sein, die Basispreise von 2019 festzuschreiben und nur einen zeitlich befristeten Krisenzuschlag zu verhandeln. Viele Einkäufer treiben jetzt außerdem die jahrelang (oft leider erfolglos) propagierten Alternativ- und Multilieferantenstrategien voran. Plötzlich sind auch aufwendige Bauteil- und Lieferantenwechsel durchsetzbar. Was jetzt die kurzfristige Versorgung sichert, eröffnet die Chancen für die Savings und Beschaffungsstrategien der Zukunft.

Nießen: 2022 wird sich die Liefersituation nicht unmittelbar entspannen. Der Engpass-Sprint wird bei vielen Materialien ein Dauerlauf werden. Und wer einmal einen Marathon gelaufen ist, weiß: Ohne Vision, ohne Zielbild kommt man nicht an. Diesen Fokus brauchen Einkaufsorganisationen nun umso mehr. Deshalb empfehle ich der Führungsebene die Herausforderungen mit Blick auf das, was langfristig wichtig ist, anzugehen. Mein Rat: Begreifen Sie 2022 als Chance, die Themen, die Sie im Einkauf schon lange Jahre verfolgen, endlich umzusetzen.

Was muss ganz oben auf die Agenda?

von Lüninck: Auf jeden Fall eine kurze Analyse, welche Lücken und Schwächen die Krise im Einkauf und in den Lieferketten aufgedeckt hat. Fokussieren Sie sich auf ein Konzept und einen Maßnahmenplan, mit dem Sie diese Schwächen abstellen können und konzentrieren Sie sich ohne nachzulassen auf die Umsetzung. Das ist herausfordernd. Denn meist geht es um ein ganzes Bündel an Themen wie ein schwach ausgeprägtes Risikomanagement und/oder ein geringer Digitalisierungs- und Automatisierungsgrad. Daraus ergeben sich Fragen wie: Wie arbeitsfähig ist der Einkauf im Homeoffice wirklich? Wo ist der Anteil Single Sourcing viel zu hoch? Genügt die Stammdatenqualität für die Suche nach Substituten? Haben Sie im Einkauf ausreichend Kapazitäten oder müssen zu wenige Menschen zu viele Jobs erledigen?

Nießen: Aus der Knappheit von Ressourcen Chancen zu entwickeln, ist jetzt die Aufgabe. Oftmals ist im Unternehmen zum Beispiel gar nicht klar, wie die vielen kleinen Abläufe des Liefernetzwerks miteinander verbunden sind. Kommt es zu Störungen, geht das E-Mailen und Telefonieren los. Das kostet Zeit und Ressourcen, anstatt durch eine bessere Organisation und IT die Schnittstellen optimal miteinander zu vernetzen. Viele Informationen bleiben nach wie vor in den Silos der Abteilungen hängen. Das können sich Unternehmen angesichts der Volatilität der Beschaffungsmärkte nicht mehr leisten.

2021 ging es vor allem um Versorgungssicherheit. Gleichzeitig soll die Beschaffung nachhaltiger werden. Rutscht die Nachhaltigkeit angesichts der Lieferkrise aus dem Fokus?

Nießen: Wenn wir uns um Nachhaltigkeit nur dann kümmern, wenn alle anderen Baustellen geschlossen sind, haben wir nicht verstanden, was auf dem Spiel steht, und wir erreichen unsere Ziele nicht. Ich sehe allerdings schon die Gefahr, dass Einkaufsorganisationen, deren Beschaffung gerade enorm unter Druck ist, in ihre alten Muster zurückfallen. Das gilt es durch eine klare Zielsetzung, die im Team erarbeitet wird, zu verhindern.

von Lüninck: Zumal es allein durch das Lieferkettengesetz bis Ende 2022 gilt, eine feste Agenda durchzuarbeiten. Allerdings sehe ich die Lieferkrise tatsächlich auch als reale Chance, Materialien, die mit Blick auf Versorgungsrisiken auf den Prüfstand kommen, durch nachhaltige Alternativen zu ersetzen. Das wäre also der Appell an den Einkauf und die Bedarfsseite: Wenn wir uns schon nach Alternativen umschauen, dann gleich nach nachhaltigen!

Wie kann beides gelingen: nachhaltige Beschaffung und störungsfreie Lieferbeziehungen?

von Lüninck: Für mich gehen Nachhaltigkeit und Resilienz Hand in Hand und sind überhaupt kein Widerspruch. Ich bin überzeugt davon, dass eine nachhaltig ausgerichtete Beschaffung von wahrhaftig nachhaltigen Produkten und Leistungen (im Sinne von ökologisch, sozial und ökonomisch) eine gute soziale und somit resiliente und störungsfreie Beziehung zu Lieferanten aufbaut und unterhält und dies auch in der Lieferkette einfordert. Ich glaube, wir alle müssen uns verabschieden von dem „höher, weiter, schneller“ der letzten 50 Jahre.

Wenn Materialien fehlen oder an der Nachhaltigkeit das Wohlwollen der Kunden hängt, rutscht die Beschaffung in die Top Line. Was bedeutet das für die Arbeit des Einkaufs?

Nießen: Dies ist eindeutig eine Chance, die durch gute Ideen ergriffen und gewahrt werden muss. Jetzt kann der Einkauf zeigen, was er drauf hat.

von Lüninck: Das sehe ich genauso. In vielen Einkaufsabteilungen ist gerade das Thema „Force Majeure“ ein ganz heißes. Oder anders gesagt – wer ist schuld? Sicherlich gibt es da eine Menge Fehler oder Versäumnisse, die auch der Einkauf zu vertreten hat. Schließlich deckt die Krise Schwächen schonungslos auf. Genauso auf der Fachseiten, die bei Spezifikationen, Vergaben und der Zulassung eines zweiten/dritten Produkts oder Lieferanten mitgewirkt. Andererseits hilft es wenig, aufeinander zu zeigen und Schuldige zu suchen. Stattdessen gilt es anzupacken und gemeinsam und kreativ nach Lösungen zu suchen. Daraus kann ein ganz neues Wir-Gefühl entstehen, das sehr fruchtbar sein kann für die so wichtige Zusammenarbeit von Einkauf, Produktion und F&E.

Ein wichtiger Aspekt ist die digitale Vernetzung. E-Procurement gibt es seit 20 Jahren. Können Sie das Wort Digitalisierung überhaupt noch hören? Warum sprechen wir immer noch darüber?

von Lüninck: Gute Frage, manchmal hadere ich auch damit. Aber im Ernst: Die Mobiltelefone von vor 20 Jahren und die heutigen Smartphones kann man auch nur schwer miteinander vergleichen. Es ist beeindruckend, welche Fortschritte gemacht wurden. Auch die E-Procurement Systeme von vor 20 Jahren sind nicht mehr vergleichbar mit den heutigen Lösungen – auch hier sind enorme Fortschritte gemacht worden und es geht immer weiter.

Wird die künstliche Intelligenz bald viele Jobs im Einkauf übernehmen?

von Lüninck: KI ist einer der Treiber der Lösungen der Zukunft. Wenn Softwarelösungen aufgrund integrierter und immer weiter angelernter KI immer autonomer werden, hat das selbstverständlich einen Einfluss auf den Einkauf. Ob die KI Jobs kosten wird? Sicher ist, dass der Einsatz künstlicher Intelligenz zu anderen Rollen und Profilen von Einkäuferinnen und Einkäufern führen wird. Der „Bestellabwickler“ (wenn es das Profil überhaupt noch gibt) ist definitiv vom Aussterben bedroht. Und das ist auch gut so.

Nießen: Ich hoffe sehr, dass der Einkauf (endlich) nicht nur seine operativen Aufgaben los wird, sondern auch von repetitiven Jobs entlastet wird. Wenn simple Verhandlungen spieltheoretisch entschieden werden können, warum lassen wir das nicht gleich zwei Bots machen? Zumal für Commodities. Ein anderes Beispiel sind Was-wäre-wenn-Betrachtungen. Diese kosten den Einkauf ohne Tool-Unterstützung sehr viel Zeit und am Ende hat man wichtige Einflussfaktoren doch übersehen. Schnell die richtigen Entscheidungen zu treffen wird immer wichtiger und dabei kann ich mir von moderner BI und KI sehr gut helfen lassen. Unternehmen brauchen den Einkauf künftig hingegen viel mehr als Beziehungs- und Schnittstellenmanager, der die Fäden zusammenführt und die belastbaren Partnernetzwerke der Zukunft knüpft. Das wird in absehbarer Zeit keine KI übernehmen.

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