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Einkaufsexpertin Kühn von R. Stahl im Gespräch

Dr. Christine Kühn, Senior Vice President Global Procurement, R. Stahl AG
„Die Bedeutung des Einkaufs als strategischer Werttreiber wird unterschätzt“

Einkauf ist ihre Mission. An der Hochschule Aalen hat sie für das Wahlpflichtfach Einkauf im Masterstudiengang „Leadership in International Sales and Technology“ einen Lehrauftrag: Dr. Christine Kühn, Senior Vice President Global Procurement bei der R. Stahl AG. Wir sprachen mit ihr über die Bedeutung bereichsübergreifender Teams, Diversität in dem mittelständischen Unternehmen und den Umgang mit schwarzen Schwänen.

Beschaffung aktuell: Frau Dr. Kühn, Sie leiten bei der R. Stahl AG den globalen Einkauf. Wie sind Sie als Chemikerin im Einkauf gelandet?

Dr. Christine Kühn: Auf Umwegen. Meine Neugier hat mich nach meiner Promotion in Polymerisationstechnik zunächst zur strategischen Unternehmensberatung geführt. Die stark international geprägte Arbeit hat mich von Beginn an begeistert, und über den Fokus auf Projekte zur Optimierung des Einkaufs hat sich schließlich die Möglichkeit zur Übernahme der Leitung einer Einkaufsabteilung in einem Industrie-Unternehmen eröffnet. Die dabei gesammelten Erfahrungen waren für mich so bereichernd, dass ich dem Einkauf seitdem treu geblieben bin – auch, weil ich gerne anspruchsvolle und komplexe Themen bearbeite. Denn die Anforderungen an den Einkauf nehmen eher zu als ab, nicht zuletzt durch die Globalisierung und alles, was man gerne unter dem Akronym Vuka zusammenfasst: Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität. Auch deshalb fühle ich mich im Einkauf – anfangs wie heute – sehr, sehr wohl.

 


„Sinnvoll wäre es, wenn in allen betriebswirtschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen die Grundlagen des strategischen Einkaufs gelehrt würden.“

Christine Kühn


 

Beschaffung aktuell: Sie können also nicht nachvollziehen, dass es viele Studierende beim Start ins Berufsleben nicht in den Einkauf zieht?

Kühn: Einkauf, insbesondere strategischer Einkauf, kommt in den Studienplänen häufig nicht vor. Eine inhaltliche Heranführung an dieses Thema erfolgt daher in der Regel leider nicht in der Hochschule. Einer der Gründe hierfür dürfte sein, dass neue Erkenntnisse meistens nur sehr langsam auch zu tatsächlichen Veränderungen führen. Der Einkauf war der letzte Bereich, der bei der Professionalisierung von Unternehmen als Fachabteilung entstand – dies ist zwar jetzt auch schon Jahrzehnte her, hat sich jedoch leider noch nicht in den Studienplänen niedergeschlagen. Das ist einer der Gründe, weshalb ich einen Lehrauftrag an der Hochschule Aalen für das Wahlpflichtfach Einkauf im Masterstudiengang „Leadership in International Sales and Technology“ angenommen habe – meines Wissens immer noch die einzige Veranstaltung dort, die zum Thema strategischer Einkauf angeboten wird. Sinnvoll wäre es, wenn in allen betriebswirtschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen die Grundlagen des strategischen Einkaufs gelehrt würden. Das könnte das grundlegende Verständnis für diese ja sehr wichtige Thematik deutlich erhöhen. In der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit in Unternehmen wäre das von großem Nutzen. Denn nicht nur in den Universitäten, auch in vielen Unternehmen spiegelt sich die Bedeutung des Einkaufs immer noch nicht angemessen wider. Anders bei R. Stahl: die Bedeutung des Einkaufs als strategischer und nachhaltiger Werttreiber findet sich bereits in der Konzernorganisation. Als Leiterin des Einkaufs bin ich Teil des obersten Entscheidungsgremiums im Unternehmen.

Die Einkaufsorganisation der R. Stahl AG

Beschaffung aktuell: Wie sieht denn ihre Einkaufsorganisation aus?

Kühn: Wir sind als Anbieter von Lösungen für den elektrischen Explosionsschutz ein sehr technologieorientiertes Unternehmen, das sich in einem regulierten Nischenmarkt mit vielen Vorschriften und Normen bewegt. Eine enge Zusammenarbeit mit der Entwicklung und dem Produktmanagement ist deshalb für den strategischen Einkauf essenziell. Daher sind wir an allen unseren Standorten, an denen entwickelt wird, auch vor Ort vertreten. Eine besondere Herausforderung ergibt sich aus dem Umstand, dass wir sowohl Standard-Komponenten als auch individuelle Systemlösungen herstellen und das Geschäft mit industriellen Großprojekten nur mit bereichsübergreifenden Teams zu managen ist – hier ist der Einkauf intensiv gefordert. Das bewältigen wir durch die im strategischen Einkauf übliche Struktur mit Zuständigkeiten nach Lieferanten und Materialgruppen sowie der bereits genannten Mitarbeit in den Entwicklungs- und Vertriebsprojektteams. Alle in meinem Team haben dabei in der Regel mehrere Rollen, was die Arbeit sehr vielfältig, aber natürlich auch herausfordernd macht. Neben dem Einkauf von Produktionsmaterial spielt auch der Einkauf von indirekten Materialien, Bedarfen und Dienstleistungen einschließlich Investitionen bei uns eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund kümmert sich auch hier ein dediziertes Team und arbeitet dabei eng mit nahezu allen Funktionen im Unternehmen zusammen: vom Produktmanagement über Entwicklung, Fertigung und Logistik bis hin zu Marketing, Personalwesen, Finanzwesen und der Rechtsabteilung. So stellen wir sicher, dass bei einem externen Bedarf sowohl der jeweilige Fachbereich als auch der Einkauf die notwendigen Expertisen einbringen. Insgesamt umfasst mein Team weltweit 20 Personen, die ein jährliches Einkaufsvolumen von rund 140 Mio. Euro abwickeln.

Lieferantenauswahl

Beschaffung aktuell: Nach welchen Kriterien wählen Sie die Lieferanten aus?

Kühn: Eine Reihe von Muss-Kriterien ergibt sich bereits aus gesetzlichen Anforderungen und aus unseren Unternehmensrichtlinien. Darüber hinaus variieren die Anforderungen je nach Warengruppe. Die meisten unserer Produkte haben eine sehr hohe Fertigungstiefe, so dass viele unserer Lieferanten vergleichsweise einfache Rohmaterialien zuliefern. Gleichzeitig haben wir aufgrund des Anwendungsbereichs unserer Produkte, die enorm hohe Qualitätsansprüche erfüllen müssen, in der Regel sehr anspruchsvolle Spezifikationen, die natürlich auch die von unseren Lieferanten bereitgestellten Materialien erfüllen müssen. Denn das Wertversprechen höchster Zuverlässigkeit im Explosionsschutz kann R. Stahl nur sicherstellen, wenn wir dies durchgängig in der gesamten Wertschöpfungskette berücksichtigen – und damit natürlich auch bei der Auswahl unserer Lieferanten. Daneben gehen wir für bestimmte Produkte auch Entwicklungspartnerschaften ein. Beispielsweise haben wir in den vergangenen Jahren gemeinsam mit der Hochschule Jena und einigen Lieferanten das Explosionsschutzkonzept der „Druckfesten Kapselung Ex D“ für Gehäuse neu interpretiert. Bei diesem Schutzkonzept wird der Explosionsschutz durch ein technologisch völlig neuartiges Konzept gewährleistet, das nicht wie bislang auf dicken und schweren Wandstärken basiert und darüber hinaus auch weniger Platz braucht. Dabei haben wir nur mit ausgewählten Lieferanten zusammengearbeitet, denn die Entwicklung neuer Produkte ist für uns als Technologieführer eine Kernkompetenz und ein wesentlicher Differenzierungsfaktor.

Beschaffung aktuell: … und der Einkauf von Dienstleistungen?

Kühn: … hier ist sich die Auswahl von Dienstleistern besonders anspruchsvoll. Denn im Gegensatz zu einem anfassbaren sowie in seinen metrischen und technischen Eigenschaften beliebig genau beschreibbarem Bauteil gibt es hier reduzierte bis keine Spezifikationen – das macht auch die Qualitätsbewertung von Dienstleistern deutlich schwieriger. Ein Beispiel: Wir haben im letzten Jahr Beratungsleistung eingekauft, um den Prozess der Neuproduktentwicklung unter Nutzung von agilen Prinzipien weiterzuentwickeln. Dabei sind viele qualitative Aspekte eingeflossen, die ein bereichsübergreifendes Team erfordern, um alle Anforderungen berücksichtigen und darauf aufbauend geeignete Anbieter identifizieren und die richtige Auswahl treffen zu können – was extrem wichtig ist, weil der Nutzen einer Beratungsleistung ja um ein Vielfaches höher ist als die Kosten. Umgekehrt gilt das Gleiche: der Schaden, der durch Fehl- oder Falschberatung entstehen kann, kann ein Beratungshonorar schnell und deutlich übersteigen. Schon aus diesem einfachen Beispiel wird deutlich, welche Wertbeiträge der Einkauf leisten kann.

Digitalisierung

Beschaffung aktuell: Welche Rolle spielt die Digitalisierung bei Ihnen?

Kühn: Eine sehr große Rolle! Digitalisierung ist eine überaus überzeugende Antwort auf die Frage, wie in Zukunft weitere prozessuale Effizienzsteigerungen und Kostenoptimierungen erzielt werden können. Wir treiben die Digitalisierung in drei strategischen Richtungen voran.

Als Anbieter von Automatisierungstechnik sorgen wir bereits seit Jahrzehnten dafür, die Prozesse unserer Kunden zu digitalisieren. Unsere smarten und miteinander kommunizierenden Produkte und Systemlösungen stellen in explosionsgefährdeten Bereichen eine sichere Kommunikationsinfrastruktur bereit. Die Digitalisierung ist also ein wesentlicher Teil unseres Geschäfts und wir beobachten in diesem Segment vor dem Hintergrund von „Industrie 4.0“ eine stark steigende Nachfrage. Als Technologieführer lassen wir dabei unsere Entwicklungskompetenz auch in technische Normen einfließen und tragen damit aktiv zur Weiterentwicklung industrieller Standards im elektrischen Explosionsschutz bei.

Die zweite Stoßrichtung unserer Digitalisierungsstrategie zielt auf digitalisierte Geschäftsprozesse ab. In der Vergangenheit kam diesem Thema bei R. Stahl nicht die notwendige Aufmerksamkeit zu, seit 2018 ist es zentrales Element unserer Konzernstrategie. Derzeit arbeiten wir an der Standardisierung der Infrastruktur, also der weltweiten Vereinheitlichung unseres ERP-Systems. Damit einhergehend führen wir globale Standards in allen Datenstrukturen und Prozessen unserer zentralen Konzernfunktionen ein – auch in der Einkaufsorganisation. Erfolgsentscheidend ist aus meiner Erfahrung dabei vor allem, Systeme möglichst einfach aufzusetzen, Datenredundanzen zu vermeiden und Zugriffsrechte klar und prozessgerecht zu vergeben. Auch muss die Datenqualität stimmen – eine sehr mühsame und undankbare Aufgabe. Aber nur mit diesen Basics können IT-Tools effektiv und zielgerichtet unterstützen.

Darüber hinaus arbeiten wir an der Implementierung einkaufsspezifischer Lösungen, ganz aktuell an einem Forecast für Lieferanten. Das ist wichtig, weil beispielsweise elektronische Bauelemente ja teilweise sehr lange Lieferzeiten von bis zu 18 Monaten haben. Über diesen Zeitraum haben wir keine Absatzplanung in dem erforderlichen Detailgrad, daher werden wir auf Basis historischer Verbräuche Prognosen erstellen. Hierfür werden wir in den nächsten Monaten eine Softwarelösung einführen, die unter Nutzung verschiedener statistischer Methoden die Prognosen generiert sowie eine automatisierte und halb-automatisierte Übermittlung an unsere Lieferanten ermöglicht. Eine spezifische Herausforderung liegt hierbei für uns in der Unterscheidung historischer Verbräuche für Großprojekte versus „regulärer“ Verbräuche.

Und schließlich begleitet uns das Thema Digitalisierung außer bei unseren Produkten und administrativen Abläufen auch in unserer Produktion – denn trotz oder gerade wegen der hohen Individualisierung, die wir unseren Kunden im Systemgeschäft bieten, sehen wir auch in unseren eigenen Produktionsprozessen große Chancen zum Ausbau unserer Wettbewerbsvorteile durch die Automatisierung.

KI im Einkauf

Beschaffung aktuell: Es gibt Stimmen, die sagen, der reale Einkäufer wird bei Verhandlungen zukünftig von einer künstlichen Intelligenz abgelöst, schon allein wegen der Menge an Daten, die diese bereithalten kann. Können Sie sich das vorstellen?

Kühn: Ich glaube, dass Automatisierung Verhandlungsvorbereitungen grundsätzlich wesentlich erleichtern kann, beispielsweise durch die strukturierte und effiziente Aufbereitung großer Datenmengen und Szenario-Modellierungen. Einen wichtigen Beitrag liefert hier sicherlich auch die Mustererkennung – was ja ein zentrales Element der KI ist. Auch bei Verhandlungen kann es Situationen geben, in denen KI Einsatz finden kann. Es wird – wie heute schon bei Einkaufsauktionen – darauf ankommen, diese Fälle zu identifizieren und entsprechend aufzusetzen. Für Mittelständler im Hochtechnologie-Bereich wie R. Stahl sehe ich hier allerdings auch mittelfristig wenig Handlungsbedarf.

Beschaffung aktuell: Ihre Produkte unterliegen speziellen Anforderungen, sichergestellt durch eine Vielzahl von Normen und Zertifizierungen. Welche Auswirkungen hat das auf den Einkauf?

Kühn: Alle unsere Produkte haben weltweite Marktzulassungen. Im Explosionsschutz existieren mandatorische Normen und Zertifizierungsprozesse, die bei externen Zertifizierungsstellen durchlaufen werden müssen. Dies wirkt sich natürlich auch auf die Spezifikation und die Toleranzen der Komponenten und Materialien aus, die wir einkaufen. Bei den in unseren Produkten verwendeten und ganz konkret für die technische Explosionsschutz-Funktion maßgeblichen Komponenten gelten ganz besonders hohe Anforderungen, die entsprechend überwacht und qualifiziert werden müssen. Die Lieferanten derartiger Komponenten werden regelmäßig auditiert und müssen auch prozessual die in den Explosionsschutznormen geforderten spezifischen Anforderungen einhalten. Das macht Anbieterwechsel nicht einfach, insbesondere auch wenn der Name des Lieferanten explizit in den Zertifizierungsunterlagen festgehalten ist. Für uns bedeutet das, schon im Entwicklungsprojekt darauf zu achten, dass die richtigen Lieferanten ausgewählt werden und mehrere Lieferanten in den Zertifikaten hinterlegt sind.

Beschaffung aktuell: Hatten oder haben Sie aufgrund der Coronakrise Lieferengpässe?

Kühn: Kaum. Bereits im Februar 2020 hatten wir einen unternehmensweiten Krisenstab implementiert, um möglichen Lieferengpässen bei kritischen Rohmaterialien aufgrund der anfangs zunächst nur auf China beschränkten COVID-19-Pandemie früh begegnen zu können. Dabei waren wir sehr erfolgreich: der durch fehlende Rohmaterialien bedingte Umsatzausfall lag bis heute auf Jahressicht lediglich im Zehntel-Promille-Bereich. Deutlich gravierender waren leider die wirtschaftlichen Auswirkungen bei einigen unserer Kunden, die in Folge von Störungen in der eigenen Logistik und Warenannahme unsere Produkte nicht abnehmen konnten. Da wir unsere Produktion nach den vertraglich vereinbarten Lieferzeitpunkten steuern, führten diese gestörten Auslieferungsprozesse zu einem entsprechenden Aufbau des Bestands an fertigen Erzeugnissen.

Resilienz von Lieferketten

Beschaffung aktuell: Ist das für Sie ein Anlass, über die Resilienz von Lieferketten noch einmal grundsätzlich nachzudenken?

Kühn: Covid-19 hat sicherlich ein Brennglas auf die Situation der hohen regionalen Abhängigkeit vom Funktionieren globaler Lieferketten gelegt. Andererseits ist Welthandel aber auch Voraussetzung für globales Wachstum und Wohlstand. Daher gilt es, die richtigen Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Grundsätzlich sind Wettbewerb und Konkurrenz der einzige nachhaltige Treiber von Innovationen und Fortschritt – die Lieferketten eingeschlossen. Konkurrierende Strukturen sind daher im Interesse von uns allen. Allerdings ist das dabei zu berücksichtigende Risikomanagement ein Thema, das oft vernachlässigt wird. Neu ist diese Erkenntnis zwar nicht, aber es ist nun einmal oft aufwendig und teuer, durchgängig Zweitlieferanten für alle Rohmaterialien zu qualifizieren. Und um eine wirklich belastbare und verlässliche Alternative zu haben, reichen Vereinbarungen auf dem Papier selten aus. Vielmehr müsste jeder Zweitlieferant auch in engpassfreien Zeiten zumindest ein Mindesteinkaufsvolumen zugeteilt bekommen – was wiederum dem Wunsch nach Mengenrabatten und einfacher Abwicklung entgegenläuft. Gänzlich ins Leere führt dieser Ansatz, wenn beide Lieferanten über nur einen gemeinsamen Vorlieferanten verfügen. Ganz konkret konnte man dies bei der Verknappung von Neongas während der Ukrainekrise sehen. Dort liegen die größten Neongas-Reserven, und alle Lieferanten beziehen von dort. Versiegt diese Quelle, nützt auch Dual Sourcing nichts.

Wir agieren hier hauptsächlich fallbezogen, versuchen also zum Beispiel, alternative Bauelemente zu finden oder nehmen auch Mehrkosten für Broker in Kauf. Auch wird uns Covid-19 sicherlich dazu veranlassen, uns Gedanken über Sicherheitsbestände zu machen – auch wenn dies gegenläufig zu dem klassischen kaufmännischen Ziel der Optimierung des Working Capital sein mag.

Beschaffung aktuell: Sehen Sie einen Trend zur Regionalisierung?

Kühn: Regionalisierung bedeutet, den Materialbedarf der Produktionsstandorte vor allem durch regionale Anbieter zu decken. Das würde ich für unseren Produktionsstandort in Indien in der Tat bejahen. Allein schon aus Kostengründen macht es meist keinen Sinn, dorthin zu importieren. Ausnahmen gibt es dann, wenn qualitativ hochwertige Teile mit engen Spezifikationen benötigt werden, die in Indien nicht verfügbar sind. In Europa oder USA sehe ich die Notwendigkeit einer stärkeren Regionalisierung für unser Geschäft kaum. Wenn wir Seefracht nutzen müssen, dann ging die Rechnung, was Global Sourcing betrifft, auch in der Vergangenheit aufgrund der geringen Flexibilität und des höheren administrativen Aufwands schon nicht auf. Andererseits gibt es Commodities und Komponenten, die weltweit nur an einem oder wenigen Orten gefertigt werden, und von dort haben wir sie in der Vergangenheit eingekauft und werden dies auch weiterhin tun. Insbesondere elektronische Bauelemente werden nun einmal kaum in Deutschland gefertigt, sondern kommen aus Fernost. Auch wenn man über regionale Händler kauft: die Grundquelle ist bei vielen Materialien oder Vormaterialien die gleiche. Sobald sich das Problem in Richtung des Rohmaterials verschiebt, nehmen die Abhängigkeiten zu, weil Rohstoffe und Rohmaterialien eben nicht gleichmäßig auf der Welt verteilt sind.

Herausforderungen im Einkauf

Beschaffung aktuell: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für Ihr Unternehmen und für sich selbst in den kommenden Jahren?

Kühn: Aktuell haben wir den größten Aufholbedarf im Bereich der Digitalisierung unserer internen Prozesse. Aus dem gleichen Grund bietet diese uns aber auch die größten Chancen. Produktseitig sehen wir uns im Wettbewerbsvergleich sehr gut aufgestellt, weil unsere Produkte den weltweiten zunehmenden Trend nach Sicherheit beim Betrieb von Industrieanlagen bedienen.

Eine große Herausforderung nicht nur für uns, sondern für alle Unternehmen sehe ich darin, wie wir als Unternehmen organisiert sind und wie wir führen. Wir befinden uns gerade da in einer Umbruchphase – wir kommen aus dem Industriezeitalter mit seinen klassischen Hierarchien und seinem Kästchendenken und lernen jetzt, dass die Welt sich immer schneller verändert, VUKA und selbstorganisierende Teams, die schneller, effizienter und kreativer sind. Das zeichnet sich schon seit längerem ab, hat aber in die Organisationsstrukturen noch nicht wirklich Eingang gefunden. Dinge wie Agilität kennen wir bereits aus der Software-Entwicklung mit Scrum, weshalb sollte man das also nicht auf die Organisationsstrukturen übertragen? Auch im strategischen Einkauf lassen sich diese Ansätze nutzen. Die Vorteile liegen auf der Hand, wir müssen uns nur vom Gewohnten verabschieden und neue Dinge lernen.

 


„Eine weitere Herausforderung sehe ich im Wiedererstarken von Asien. … es wird das Gewicht bezüglich der Frage, wo Entscheidungen fallen, welche Schwerpunkte gesetzt werden und wo Mittel für Forschung und Ausbildung vorhanden sind, weiter verschieben.“
Christine Kühn

 

Daneben gibt es den Bereich der Neurowissenschaften: Wie entscheiden wir, was motiviert uns? Aus diesem Themenkomplex gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Erkenntnissen, die bisher nur sehr begrenzt Eingang in die Unternehmenswelt gefunden haben. Da haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Damit hängt auch das Thema Diversity zusammen, mit dem wir ja in Deutschland an vielen Stellen kämpfen. Diversity wird oft auf das Männer-Frauen-Thema reduziert, aber eigentlich geht es doch darum, dass unterschiedliche Perspektiven durch die unterschiedlichen Erfahrungen einfach zu besseren Entscheidungen und damit zu mehr Unternehmenserfolg führen. Eine Einkaufsabteilung mit einer breit gefächerten Altersstruktur, unterschiedlichen Ausbildungswegen und verschiedenen Nationalitäten führt doch zu einer unglaublichen Erweiterung der Perspektive! Ich halte das für sehr wichtig, denn aus dieser Vielfalt kann man sehr viel lernen. Ich habe mich zum Beispiel sehr darüber gefreut, dass ich kürzlich einen Endfünfziger für meinen Bereich gewinnen konnte, einen sehr versierten Kollegen, der im strategischen Einkauf mit seiner Erfahrung zu uns gestoßen ist. Auf der anderen Seite hatte ich vorher eine Uni-Absolventin eingestellt, die ein ganz anderes Weltbild hat. Diese Vielfalt macht es aus, und diese müssen wir in der Organisation auch gewinnbringend nutzen.

Eine weitere Herausforderung sehe ich im Wiedererstarken von Asien. Es ist ja nicht mehr zu übersehen, dass China und sicherlich auch Indien, man muss beinahe sagen, zu alter Stärke zurückkehren. Man mag noch darüber streiten können, wie schnell oder langsam dies gehen wird, aber nicht über die Tatsache an sich. Und es wird das Gewicht bezüglich der Frage, wo Entscheidungen fallen, welche Schwerpunkte gesetzt werden und wo Mittel für Forschung und Ausbildung vorhanden sind, weiter verschieben. Ich glaube, das ist für uns als deutsches Unternehmen eine Herausforderung, auch wenn wir global arbeiten und in Asien aktiv sind.

Aber die größten Herausforderungen sind natürlich die, die wir heute noch gar nicht kennen, um es in der Sprache von Nassim Taleb zu sagen, die Schwarzen Schwäne. Ich empfinde es als sehr spannend, sich darauf vorzubereiten, auch wenn man dafür im eigentlichen Sinne ja nicht planen kann. Dennoch glaube ich, dass sich durch eine starke Organisation und das richtige Setup mit dem richtigen Team eine Grundlage schaffen lässt, um mit unvorhersehbaren Herausforderungen besser umgehen zu können. Wichtig sind dann schnelle Entscheidungen, und da sind wir strukturell als Mittelständler sicherlich im Vorteil gegenüber Großkonzern oder dem Öffentlichen Dienst.

Beschaffung aktuell: Frau Dr. Kühn, vielen Dank für das Gespräch.

Für Beschaffung aktuell führte Ulrike Dautzenberg, freie Journalistin, das Interview.


Die Frau

Dr. Christine Kühn

… verantwortet als Senior Vice President Global Procurement den globalen Einkauf
der R. Stahl AG. Sie sieht den Einkauf in internationalen Technologiekonzernen als strategische Schlüsselfunktion und Werttreiber für den nachhaltigen Unternehmenserfolg, insbesondere vor dem Hintergrund der weiter zunehmenden globalen Vernetzung industrieller Prozesse und Warenströme. Die promovierte Chemikerin und Ex-McKinsey-Beraterin hat jahrelange Erfahrung in internationalen Leitungsaufgaben im Einkauf renommierter Unternehmen.


Das Unternehmen

R. Stahl AG

… ist ein weltweit marktführender Anbieter von Komponenten und Systemlösungen im elektrischen Explosionsschutz mit Hauptsitz im baden-württembergischen Waldenburg. Hergestellt werden stellt unter anderem explosionsgeschützte Schaltgeräte, Taster, Leuchten und Steuerungen. Die Hauptabnehmer der Produkte finden sich in der Gas- und Ölindustrie, in der Chemie und Pharmazie sowie in der Nahrungsmittelindustrie und im Schiffbau. Das Familienunternehmen erwirtschaftete zuletzt mit über 1600 Mitarbeitern einen Jahresumsatz in Höhe von 274,8 Millionen Euro.www.r-stahl.com


 

 

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