Im Editorial unserer letzten Ausgabe schrieb meine Kollegin Sabine Schulz-Rohde, dass die Prognosen für 2021 positiv ausfallen und Grund zum Aufatmen geben: Das Glas sei halbvoll. Da muss ich widersprechen. Die Wirtschaftshellseher dieser Welt können gar nicht anders, als ein positives Wachstum vorherzusagen. Denn negativen Vorhersagen würden eine Verschlechterung der Börsenwerte und allgemeine Panik folgen. Also tun sie so, als würde alles gut werden, dann wird es das vielleicht auch. So machen es die Hellseher auf AstroTV ja auch. Meine Meinung ist: Das Glas ist nicht halbvoll oder halbleer, vielmehr ist das Glas nicht mehr. Dieses „Glas“, ein Maß für die Prä-Pandemie-Normalität, wird nicht wiederkommen. Selbst wenn die Impfung bald für alle angeboten werden könnte. Selbst wenn sich alle impfen ließen, auch die Janas aus Kassel. Selbst wenn die Impfungen gegen die neuen Mutationen des Virus hülfen. Selbst dann: Die Wirtschaftswelt von gestern ist nicht mehr.
Schauspieler, Künstler, Musiker und Freiberufliche aller Art hatten noch nie viel und jetzt noch weniger. Noch ein paar Monate durchhalten? Für viele nicht machbar. Das gilt für Messebauer und -veranstalter, Buchläden. Für Restaurants, Bars und Cafés. Natürlich: Die Starbucks und McDonald‘s werden überleben. Nicht aber Mark mit dem Hotdog-Imbiss, der einem kostenlos Extrascharf draufgemacht hat, und Mira mit dem Katzencafé, für das sie jeden Tisch selbst neu lackiert hat. Was ist mit den Kosmetikern, Friseuren, den Selbstständigen? Den kleinen Firmen, ein Meister und zwei Auszubildende, die nun nicht übernommen werden können? Apropos: die junge Generation. Was tun mit den Schulabgängern, den Absolventen, den Gesellen? Den Jobwechslern, den Weltreiserückkehrern, den Müttern, die aus der Erziehungsauszeit zurückkommen? Kaum Stellen, weniger Gehalt. Sie werden nehmen, was sie kriegen können. Und deshalb nicht bekommen, was sie sich wünschen – vielleicht für Jahre.
Halbvolles Glas? Viele, die von Corona getroffen wurden, können über die positiven Prognosen nur lachen. Doch sie machen nicht viel aus, von unserem angebeteten, geliebten BIP. Vielleicht haben die wirtschaftsweisen Zauberlinge recht und „die Zahlen“ sind schön hoch. Niemals können sie jedoch die Schicksale derer widerspiegeln, die ihre selbst lackierten Tische, ihr Extrascharf und ihre Gläser, ganz leer, schon längst verkaufen mussten.