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Bringen Digitale Zwillinge tatsächlich was oder verschwenden sie unsere Zeit?

Werkzeugmanagement neu gedacht!
Bringen Digitale Zwillinge tatsächlich was oder verschwenden sie unsere Zeit?

Ein schneller Informationsfluss, innerhalb der gesamten Lieferkette, ist für eine Risikominimierung unvermeidlich und in unbeständigen Zeiten bzw. Krisensituationen diskussionslos. Der Informationsfluss innerhalb der Supply Chain ist dabei von verschiedenen Übertragungsformen geprägt: EDI, Cloud-Anwendungen oder andere Systemschnittstellen sind dabei in den Bereichen der Wertschöpfungsnetzwerke zur digitalen Risikoüberwachung und Prozesseffizienzsteigerung vielfältig. Schaut man sich die Unternehmensprozesse genauer an, bleibt ein Bereich bisher digital unterrepräsentiert: Der digitale Zwilling eines Produktionswerkzeuges.

Der Produktionswert der deutschen Maschinenindustrie steigt mit jedem Jahr stetig an. Dabei entfällt auf Deutschland ein Anteil der weltweiten Werkzeugmaschinenproduktion von 17 %, wobei der Umsatz der deutschen Maschinenindustrie im Jahr 2019 bei 8,7 Mrd. Euro lag. Dieser Industriezweig stellt somit einen entscheidenden Faktor dar. Dabei werden Werkzeuge, also Betriebsmittel, die unmittelbar auf das Werkstück formend einwirken, oft dem Zulieferer beigestellt. Um bestimmte Produkte herzustellen, benötigt der Abnehmer die durch das Werkzeug hergestellten Bauteile. Der Abnehmer ist dabei immer noch der Eigentümer der Werkzeuge.

Dieses Phänomen wird auch als „Werkzeug-Supply-Chain“ beschrieben. Der Informationsfluss in einer Werkzeug-Supply-Chain läuft dabei weitestgehend papierbasiert ab. Werkzeugdaten werden oftmals noch auf Werkzeugbegleitkarten dokumentiert – wenn überhaupt! Diese Werkzeugbegleitkarten liegen dem Werkzeug bei. Das Problem ist jedoch, dass die Informationen oft unvollständig sind oder die Werkzeugbegleitkarten in einigen Fällen verschwinden. Somit kann das Werkzeug nicht mehr zweifelsfrei identifiziert, einem Eigentümer zugeordnet oder der genaue Standort bestimmt werden. Zusammenfassend liegen die Herausforderungen somit bei

  • einer hohen Fehlerquote durch die manuelle Datenübertragung,
  • ineffizienten Prozessen durch die fehlende unternehmensübergreifende Digitalisierung der Daten,
  • oftmals keine organisatorische Verankerung mit klarer Verantwortung und damit einhergehend,
  • einer fehlenden gemeinsamen Sicht auf die Werkzeugdaten durch Datensilos der einzelnen Unternehmen,
  • einer nicht vorhandenen Übersicht, wo sich die Werkzeuge befinden, ob sie verlagert werden können und in welchem Zustand Sie sind,
  • der Möglichkeit zur Manipulation der Daten, da es keine prüfende Instanz gibt sowie
  • einer fehlenden Möglichkeit zur eindeutigen Identifikation der Herkunft und des Nachweises des Werkzeugeigentümers.

Das Resultat daraus ist, dass die Eigentümer, die das Werkzeug ihren Lieferanten beigestellt haben, die Übersicht innerhalb ihrer Werkzeug-Supply-Chain verlieren.

In der Zwischenzeit sind zwar Lösungen, wie das cloudbasierte Werkzeugmanagement, aus den Forschungen der TU München bzw. getrieben durch kommerzielle Anbieter entstanden, die sich aber bisher nicht flächendeckend durchsetzen konnten. Dies hat zwei Gründe: Zum einen ist die beschriebene branchenübergreifende Standardisierung zwar möglich, jedoch nur unter erheblichem Aufwand und einem langen Zeithorizont umsetzbar und zum anderen liegen alle (unternehmensspezifischen) Werkzeugdaten bei einem Intermediär innerhalb einer zentralen Datenbank.

Werkzeug bekommt einen Digitalen Zwilling

Fakt ist jedoch eins: die Werkzeugdaten müssen in irgendeiner Art und Weise digitalisiert und unternehmensübergreifend teilbar sein. Das können Daten zum Hersteller, zur Form und Größe, dem Material, Anzahl der Maschinenstunden, Bilder, Wartungsnachweise oder auch Beschaffenheit des Werkzeugs sein. Bisher sind die verschiedenen Daten in den unterschiedlichen Systemen der Fachabteilungen (CAD, ERP, Finanzen, etc.) von Zulieferern und Eigentümern gespeichert. Eine Analyse dieser Daten kostet zum Teil viel Zeit und Ressourcen, da beispielsweise Werkzeuge in den Inventar- oder Abschreibungslisten enthalten sind, aber dort oftmals keinen Bezug zu einer Werkzeugbestellung aufweisen oder eine ganz andere Bezeichnung haben. Diese Intransparenz erschwert die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit (z. B. zwischen dem Einkauf und der Finanzbuchhaltung) gerade in den Themengebieten wie Auditsicherheit, Inventarisierung, Bilanzierung oder Abschreibung.

Werden alle Daten über das Werkzeug unternehmensübergreifend miteinander verbunden, so wird für das Werkzeug ein sogenannter „Digitaler Zwilling“ erstellt. Digitale Zwillinge können dabei auf Basis unterschiedlicher Technologien bereitgestellt werden. Dabei sind zwei Varianten möglich:

1. Cloud-basiertes Werkzeugmanagement (zentralisiert): Unternehmen, die ausschließlich cloudbasierte Plattformen nutzen, verlieren die Souveränität über ihre Daten, da diese zentral in Rechenzentren des Cloud-Anbieters gespeichert sind. Das heißt, dass Unternehmensdaten innerhalb der externen Plattformen erfasst, ausgewertet und bereitgestellt werden. Der einzelne Plattformanbieter hat somit möglicherweise Zugriff auf die Daten. In diesem Zusammenhang wird oft vom „gläsernen Unternehmen“ gesprochen. Die Unternehmen verlieren dadurch die Datenhoheit, was wiederum aufwendig durch Datenschutz-Richtlinien, Zugriffsberechtigungen und Auditierungen eingedämmt werden kann. Eine Datenmanipulation oder ungewollte Verarbeitung kann jedoch nicht zu 100 Prozent vermieden werden. Trotzdem ist die Einführung einer cloud-basierten Plattform ein erster richtiger Schritt in Richtung eines unternehmensübergreifenden Werkzeugmanagements.

2. Blockchain-basiertes Werkzeugmanagement (dezentralisiert): Die Werkzeugdaten sind in unternehmensinternen IT-Systemen oft bereits digital vorhanden. Das Problem: sie sind „nur“ breit gestreut, wodurch die Transparenz und das Vertrauen in die Daten fehlt. Genau an diesem Punkt unterstützt eine blockchain-basierte Datenspeicherung. Im Gegensatz zur cloud-basierten Speicherung, werden die Unternehmensdaten dezentral und verschlüsselt gespeichert. Doch worauf sollte bei der Nutzung eines blockchain-basierten Werkzeugmanagements geachtet werden? Wichtig ist, dass die vorhandenen und breitverstreuten, unternehmensübergreifenden Datensilos aufgebrochen werden, um Rückverfolgbarkeit, Integrität und Transparenz der verschiedenen Daten, wie

  • Herkunft als Frage der Identität,
  • Fertigungswege zur qualitativen Absicherung,
  • Lauf- und Wartungszeiten zur Überwachung des Lifecycles und
  • Materialzusammensetzung des Werkzeugs für das Recycling

zu gewährleisten. All diese Daten gilt es also zusammenzubringen, und zwar so, dass nicht jeder Zugang zu den Daten hat und diese auch nicht durch Dritte manipuliert werden können. Die Datenhoheit der Unternehmensdaten ist in jedem Fall zu schützen. Dies ist das Grundprinzip der Blockchain-Technologie.

Das Thema der „Werkzeug-Supply-Chain“ ist nicht nur aktuell, sondern bekommt mit jedem Tag immer mehr Brisanz. In der jetzigen Situation (2020: Covid-19) steuern wir durch den weltweiten Shutdown auf eine Rezession hin. Steht im Falle einer Insolvenz eines Lieferanten der Insolvenzverwalter vor der Tür, beginnt noch immer für viele Unternehmen eine Zeit der Unsicherheit über Eigentumsrechte und dazugehöriger Nachweise (Werkzeugverträge, Kennzeichnung der Werkzeuge etc.).

Der Wettlauf gegen die Zeit hat begonnen

Ein reibungsloses, schnelles und unternehmensübergreifendes Zusammenarbeiten innerhalb der Supply Chain, mit angrenzenden Fachfunktionen wie der der Finanzbuchhaltung ist unumgänglich. Sonst folgen erfahrungsgemäß schnell Rechtsstreitigkeiten und Produktionsausfälle. Daher ist es unerlässlich

  • zu wissen, wo sich die eigenen Werkzeuge in der Supply Chain befinden,
  • das Werkzeug auf einfache Art und Weise verlagern zu können (Abbau, Aufbau, Transport, Risiko),
  • gegebenenfalls interne Ressourcen/
    Kapazitäten in Krisenzeiten bestmöglich zu nutzen und In-House-Produktion voranzutreiben,
  • die Werkzeuge zu identifizieren und
  • sich selbst als Eigentümer authentifizieren zu können.

Wer nun aber denkt, dass dies ausschließlich auf Basis eines cloudbasierten Werkzeugmanagements gelingt, liegt falsch. Auch jede Cloud ist für sich wieder eine Art „großes Datensilo“. Es muss also auch im Optimalfall eine Verbindung zwischen den Clouds geben – eine allgemein zugängliche Daten-Infrastruktur.

Fazit: Wir brauchen eine unternehmensübergreifende, vertrauenswürdige Daten-Infrastruktur

Es wird folglich eine unternehmensübergreifende Infrastruktur benötigt, die Daten miteinander vernetzt, ohne dass ein einzelner die Hoheit über die Daten verliert oder die Daten manipuliert werden könnten. Eine Dateninfrastruktur ganz ohne Intermediär, basierend auf der Blockchain-Technologie. Dies können wir mit einer Infrastruktur vergleichen, die jeder kennt: das Autobahnnetz in Deutschland. Es verbindet verschiedene große und kleinere Städte miteinander – das auf einem möglichst schnellen und unkomplizierten Weg. Stellen wir uns nun vor, dass wir eine solche allgemein nutzbare Infrastruktur im Bereich des Datenaustauschs hätten, würde die Infrastruktur die jeweiligen Hotspots, wie Clouds, ERP-Systeme oder andere Datenbanken miteinander verbinden. Beim Autobahnnetzwerk fragen wir nicht, wie der Beton oder der Asphalt auf die Straße gekommen ist. Warum versucht nun aber seit Jahren jeder zu verstehen, wie bei einer Blockchain der Block an die Kette kommt?

Warum wird die Technologie nicht mit all ihren offensichtlichen Vorteilen vorurteilsfrei als frei zugängliche Infrastruktur genutzt? Wir nutzen die Autobahnen doch auch einfach und selbstverständlich – und das mit Erfolg. Es geht bei der Blockchain-Technologie nicht darum eine neue digitale Parallelwelt zu schaffen, sondern bestehende IT-Welten sinnvoll und unter Verwendung aktueller Infrastrukturen zu verbinden und somit digitale Netzwerke zu schaffen. Jeder arbeitet in seinen gewohnten IT-Systemen weiter, hat aber durch die punktuelle Nutzung einer Blockchain Rechtssicherheit über die (Daten)Herkunft. Auch der Nachweis als Werkzeugeigentümer kann in der Blockchain verankert werden. Die Vorteile liegen dabei nicht nur allein im Einkauf oder im Supply Chain Management, sondern auch in der Finanzbuchhaltung (z.  B. für die Qualität und Abschreibung des Werkzeuges).

Blockchain ist daher weitaus mehr als nur eine Kryptowährung! Die Blockchain hilft uns mit den Vorteilen der Unveränderbarkeit, Audit- und Revisionssicherheit, einem dezentralen Netzwerk und einer sauberen sowie nachvollziehbaren Änderungshistorie der Daten. Und genau dies ist im Bereich des digitalen Werkzeugmanagements von enormer Wichtigkeit, denn im Zweifelsfall muss ein Werkzeug eindeutig identifizierbar sein, Eigentumsfragen rechtssicher geklärt und der Zustand des Werkzeuges zweifelsfrei beurteilt werden können. All diese Informationen müssen datensiloübergreifend und jederzeit zur Verfügung stehen, eben wie bei der Nutzung einer Autobahn. Es ist also Zeit, Gas zu geben und mit einem Digitalen Werkzeug-Zwilling für mehr Transparenz und Prozessoptimierung zu sorgen! Damit wird eine umfassende Win-Win-Situation für alle Prozessbeteiligten geschaffen:

  • Stringente Beschaffungsprozesse für den Einkauf
  • eine audit- und revisionssichere Infrastruktur mit einer vollständigen, transparenten Übersicht auch über das dezentral verteilte Inventar
  • eine für alle jederzeit zugängliche Datenbank über die technisch Auslegung und Beschaffenheit des Werkzeuges (wichtig z. B. bei In-sourcing)
  • eine auch für den Lieferanten einfachere Abwicklung des „Stiefkindes Werkzeugüberlassung“

Nicht zuletzt erhalten die Unternehmen gerade in Krisenzeiten einen verstärkten Schutz ihrer Eigentumsrechte bei Instabilitäten der Lieferkette und ggf. daraus resultierenden Insolvenzen. In Konsequenz trägt die Blockchain somit übergreifend zu einer stabilen und agile Lieferkette bei.


Kurz gesagt

Digitale Zwillinge innerhalb einer
„Werkzeug-Supply-Chain“ sollten immer Folgendes gewährleisten:

  • Datensilos aufbrechen
  • Rückverfolgbarkeit und Transparenz sicherstellen
  • Identität des aktuellen Eigentümers wiedergeben
  • Daten nicht manipulierbar speichern (Unveränderbarkeit)
  • Vertrauen erzeugen und Rückverfolgbarkeit absichern

Literatur

Röschinger, M.; Stockenberger, D.; Günther, W. A.: Werkzeugmanagement in der Cloud. Potenziale einer unternehmensübergreifenden Cloud-Lösung für ein digitales und automatisiertes Werkzeugmanagement. In: Industrie Management 2014 30, S. 52–56.

Lieberoth, C.; Röschinger, M.; Lechner, J.; Günther, W. A.: Logistik 4.0. In: Reinhart, G. (Hrsg.): Handbuch Industrie 4.0. Geschäftsmodelle, Prozesse, Technik. München 2017.


Die Autoren

Dr.-Ing. Anja Wilde, Expertin für Risikomanagement und digitale Zusammenarbeit in externen Wertschöpfungsnetzwerken, mm1, anja.wilde@vodafone.de

Jan-Henner Theißen, Global Procurement Executive & Gründer “targetP! – agile procurement enabled”, jht@targetp.de

Stefan Wiemers, Digital Procurement Expert, root2innovate, sw@root2innovate.com

Bernhard Elkuch, Supply Chain, Blockchain und Tech Enthusiast, Blockhard GmbH, be@blockhard.io

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