Zum Begriff „Resilienz“: Man kann diesen – trivial betrachtet – mit „Anpassung“ und „Widerstandsfähigkeit“ übersetzen. So weit, so gut. So mancher Unternehmensvertreter verkauft seinen Arbeitgeber in Präsentationen auf der Bühne als resilient, weil man dort die liebgewonnene analoge Excel-Wirtschaft für ein wichtiges Instrument des „Risikomanagements“ hält. Wer sich dem komplexen Thema indes ernsthaft nähern will, darf keine Scheu vor Veränderung und Transformation haben. Der erste Schritt erscheint dabei noch recht kommod: Man analysiert Istzustand, Märkte, Abhängigkeiten, Einflüsse, Kalamitäten und Krisen aller Art und bildet im fortgeschrittenen Stadium Szenarien. Wer dann aber den zweiten Schritt verschleppt, indem er aus den gewonnenen Erkenntnissen keine oder allenfalls singuläre praktische Konsequenzen zieht, hat noch einen weiten Weg zu echter Resilienz vor – ein nachweislicher Wettbewerbsvorsprung sieht anders aus.
Lösung für alles?
„Der Begriff Resilienz wird heute als die Lösung für alles gepriesen, etwa für die Lieferkette und für die Organisation. Aber wissen wir auch immer, was da genau dahintersteht?“, fragt Thomas Zsulits, Director Global Supply bei der Doka GmbH in Amstetten (Österreich) und Vorstandsmitglied des Bundesverbands Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik in Österreich (BMÖ). Er macht Resilienz an der Flexibilität der Marktreaktion fest. Dieser Zustand, etwa die neue Lieferkette eines Produktes, müsse einer unvorhergesehenen Belastung, wie sie heute vom Markt oft komme, standhalten. „Aufbau, Vernetzung und Optimierung vieler kleiner Netzwerke, die dann unabhängig und flexibel auf Marktgegebenheiten reagieren können, ist für mich Resilienz.“ Die Kunst sei, sich so flexibel wie möglich auf alle Unwägbarkeiten einzustellen. Zsulits geht es darum, „ein Miteinander aufzubauen und entsprechende Technologien und Prozesse zu etablieren, die es erlauben, sich in kürzester Zeit den jeweils neuen Marktgegebenheiten mit schnell implementierbaren Lösungen stellen zu können“.
Als Beispiel nennt Thomas Zsulits das Produktdesign: Die Spezifikation müsse so gefasst sein, dass selbst ein einzigartiges Produkt überall auf der Welt gefertigt werden könne – etwa ein einfaches Metallprodukt in Europa mit europäischen Stahlgüten. „Hier muss sichergestellt werden, dass vergleichbare Stähle auch in anderen Kontinenten verfügbar sind. Auch die Art der Verarbeitung sollte transferierbar sein“, so der Supply-Experte. Die Fragen: Wer hilft den Designern, neuen Gedanken nachzugehen? Wer ermuntert sie explizit? Was würde das für die Anforderungen aus qualitätstechnischer Sicht bedeuten? Und welche Entscheidungsparameter brauchen die Einkäufer, um ein Netzwerk aufzubauen, bei dem sie noch gar nicht wissen, wie sie es bespielen sollen?
Doka hält seit Jahren Workshops mit seinen wichtigsten Partnern ab, und das nicht nur mit der Tier 1-Ebene. Auch dadurch lasse sich analysieren, wo welche Flexibilität bereits bestehe und wie lange man für Anpassungen brauche. Zsulits: „Das Thema ist vielschichtig. Alle Fachbereiche benötigen ein gemeinsames Ziel, um in die gleiche Richtung zu arbeiten … die Richtung wird von Kundenerwartung und Markt vorgegeben.“
Transparenz!
„Wir haben festgestellt, dass semiprofessionell agierende Unternehmen die Frage eines modernen Risikomanagements als Teil des Resilienzgedankens noch gar nicht auf dem Radar haben“, sagt Thomas Mademann, Geschäftsführer der Essener GMVK Procurement Group. Er bezeichnet Resilienz als „eine neue und relativ eigenständige Teildisziplin eines umfassenden Risikomanagements, das auch die Sicherstellung der Stabilität und Elastizität von Business-Netzwerken umfasse“. Klar sei, dass die Steigerung der Resilienz keinen Endpunkt habe, weil sich das Handlungsumfeld von Unternehmen ständig ändere und Unternehmen ständig dazulernten.
Der erste Schritt ist laut Mademann „immer das Herstellen von Transparenz und das Zusammenführen zahlreicher Informationen in den einzelnen Fachbereichen“. Nur so ließen sich Abhängigkeiten und Risiken identifizieren und im Anschluss die richtigen Antwortstrategien zu definieren. Im letzten Schritt gelte es, Wissen und Strategien in einen kontinuierlichen Managementprozess zu überführen. Ziel müsse sein, Risikomanagement und Resilienz sowohl im Warengruppenmanagement als auch im Lieferantenmanagement immer mitzudenken. „Wenn der Einkauf die Chancen der Beschaffungsmärkte mitdenkt, muss er parallel deren Risiken mitdenken. Nur so kann er sicherstellen, dass die durch ihn gesteuerte externe Wertschöpfung genauso stabil ist, wie die im eigenen Unternehmen erbrachte.“ Der Einkauf müsse in die erste Reihe rücken, Wegducken sei keine Option. „Und natürlich braucht es auch F&E, Qualität, SCM und Produktion an einem Tisch, um stabile Wertschöpfungsnetzwerke aufbauen und unterhalten zu können“, so Mademann.
Experten an einen Tisch
„Resilienz funktioniert nur mit einem Wertschöpfungskettendenken, in dem auch Stakeholder integriert sind, insbesondere Zulieferer. Klar ist, dass hierbei dem Einkauf zentrale Bedeutung zukommt“, sagt Prof. Dr. Marc Helmold von der IU Internationale Hochschule am Campus Berlin, Berater und Buchautor (u. a. „Resilientes Lieferantenmanagement“, Hanser, 2022). Voraussetzung sei, dass die Geschäftsleitung die Schlüsselrolle des Einkaufs und des Lieferantenmanagements als Wertetreiber zwischen Unternehmen und Lieferanten begreife und anerkenne. Das sei längst noch nicht überall der Fall, weil dem (eigenen) Einkauf vielfach noch das Bild des reinen Kostenoptimierers anhafte.
„Wer diesen signifikanten Einflussfaktor nicht auf dem Schirm hat, verzeichnet nicht nur Einbußen, sondern riskiert sogar eine Insolvenz“, mahnt Helmold. Er rät dem Top-Management dringend, interne Experten und alle Prozessbeteiligten an einen Tisch zu holen; Trainer, Berater oder spezielle „Game Changer“ gelte es ergänzend hinzuzuziehen. Etwa bei Nachhaltigkeitsthemen, wie dem LkSG mit Risikoanalyse, Zertifizierung und Sorgfaltsbericht, könnten zusätzliche Know-how-Träger wichtige Impulse geben.
Machen statt lamentieren
Resilienz, Transformation, Change: Für Stephan Gras, bis Ende 2022 Einkaufsberater bei ConMoto und jetzt als Supply-Chain-Trainer sowie im Vorstand des BMÖ aktiv, begegnen sich hier gleich drei interpretationsbedürftige Buzzwords. „Wir werden in unserer Sprache immer schwammiger und amerikanisierter. Und über dem Erklären vernachlässigen wir oftmals das Tun.“ Erfolgreich sei derjenige, der Resilienz als lange Kette verstehe: „Vorbeugen – erkennen – alte Zöpfe abschneiden – Erfahrung einbringen – praktikable Lösungen finden – Lösungen gezielt und rasch umsetzen – Funktion der neuen Lösung sicherstellen – nächstes Risiko erahnen – Risikoanalyse starten bzw. fortsetzen – Kette von vorne beginnen.“ Sein Rat: „Immer mal wieder ‚back to the roots‘ denken und nicht dauernd wichtige Dinge mit neuen Begrifflichkeiten und Namen beschreiben. Auf das das Machen konzentrieren. Zum Lamentieren ist keine Zeit mehr.“
Resilienz muss als standortumspannender Bogen alle und jeden einbeziehen. Das Verständnis muss „von oben“ eindeutig beschrieben, vorgelebt und, ja, auch verordnet werden, weil Veränderung zuweilen weh tut. Für den Einkauf bedeutet das: keinen Stillstand im Hinblick auf Digitalisierung, Diversifizierung, Risikoidentifizierung und das entsprechende Maßnahmenmanagement, Lieferketten-, Schnittstellen- und Lieferantenmanagement, regulatorische Anforderungen, Nachhaltigkeit und vieles mehr. Die Kostenfrage muss indes jedes Unternehmen für sich beantworten. Bedenkenwertes Statement dazu von Doka-Supply-Experte Thomas Zsulits: „Fehlende Transformation kostet am Ende weitaus mehr.“
Umfrage der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände Thüringens (2023)
„Unternehmerische Resilienz ist nicht losgelöst von aktuellen Megatrends wie Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel, alternde Bevölkerung, Transformation, Fachkräftemangel, Migration zu betrachten“, heißt es in einem Umfragepapier, das der Verband der Wirtschaft Thüringens (VWT) und das IWT – Institut der Wirtschaft Thüringens GmbH vorgestellt haben. Zu den fünf größten Bedrohungen zählen danach Energiekosten (82 Prozent), Preissprünge (73 Prozent), gestörte Lieferketten (64 Prozent), Erdgasknappheit (50 Prozent) und Fachkräftemangel (48 Prozent).
Gegensteuerende Maßnahmen.
Die Befragten reagierten darauf, indem sie teilweise die betriebliche Logistik umgestellt haben. 70 Prozent erhöhten Pufferbestände, 53 Prozent erschlossen neue Bezugsquellen und 42 Prozent vergrößerten die Lieferantenanzahl. Jedes dritte Unternehmen verbesserte sein Risikomanagement. Um hohen Energiekosten gegenzusteuern, reduzierten die befragten Unternehmen ihre Abhängigkeit von fossiler Energie. 80 Prozent investierten in Photovoltaik, knapp 40 Prozent in Elektromobilität und knapp 20 Prozent in Solarthermie. Knapp jeder Fünfte verwies auf Kooperationen mit anderen Unternehmen zur Vorbereitung auf plötzliche Störungen von Lieferketten. Einzelne Unternehmer haben Personal aus allen Bereichen des Unternehmens zusammengezogen. Weniger als jede zehnte befragte Unternehmung hat sich durch Auslagerung von Prozessen oder durch Erhöhung der Eigenkapitalquote vorbereitet. Rückverlagerung von Produktion scheint laut Umfrage kaum ein Thema zu sein. Die Ergebnisse lassen laut VWT und IWT vermuten, dass die Transaktionskosten immens gestiegen sein müssten. Mit Blick auf die anstehende ökologische Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft seien ebenfalls Investitionen in erheblichem Umfang nötig. Allerdings würden gerade diese angesichts der aktuellen Preisentwicklung bei mehr als der Hälfte der Befragten zurückgestellt.
Individuelle Resilienz
Wie bringen Führungskräfte ihre Beschäftigten durch Krisen? Die Gestaltung des Arbeitsumfelds wird am häufigsten genannt. Fast die Hälfte nennen Routine und Kontinuität und knapp zwei Drittel unterstützende Führung. „Gerade den sozialen Beziehungen wird eine erhebliche Bedeutung beigemessen: 43 Prozent bringen ihre Mitarbeiter mit Gruppentreffen, Zusammenhalt und Gemeinsinn gut durch Krisen, 38 Prozent mit Belohnung, 30 Prozent mit Weiterbildungen und 26 Prozent mit Veränderungen der Organisationsstruktur“, sagt VWT-Präsident Hartmut Koch. Er hebt den Faktor der individuellen Resilienz hervor: „Beschäftigte brauchen Selbstvertrauen und sollten sich mit der Arbeit und den Arbeitsbeziehungen identifizieren. Die Art der Führung des Unternehmens spielt hierbei eine zentrale Rolle. Das Führungsteam sollte Optimismus ausstrahlen, Vielfalt schätzen, Ziele setzen und Orientierung geben. Insbesondere gilt es strukturiert und klar zu kommunizieren.“
Quelle:
Jahresumfrage „Resilienz – gut durchkommen. Anpassungsfähigkeit in Zeiten von Krisen erhöhen“ des IWT – Institut der Wirtschaft Thüringens GmbH + Verband der Wirtschaft Thüringens e.V. (Erfurt)