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Über freundliche Schrauben, doppelte Energie und die Kunst der Politik

Interview mit Dr. Florian Seidl, Inhaber und Geschäftsführer von Keller und Kalmbach
Über freundliche Schrauben, doppelte Energie und die Kunst der Politik

Dr. Florian Seidl leitet das Familienunternehmen Keller & Kalmbach in dritter Generation. Er ist zudem 1. Vorsitzender des Fachverbands des Schrauben-Großhandels e.V. – und ein Kunstfreund.

Beschaffung aktuell: Herr Dr. Seidl, wofür steht Keller & Kalmbach?

Dr. Seidl: Wir fokussieren uns auf individuelles C-Teile Management für unterschiedliche Branchen. Individuell heißt: Wir passen unsere Systeme an die des Kunden an. Dafür konzipieren und installieren wir selbstregulierende Prozesse für die automatische Bedarfserzeugung und Belieferung.

Beschaffung aktuell: Sie sind also nicht nur ein Schraubenexperte, sondern auch Systemintegrator?

Dr. Seidl: Wenn Sie so wollen – ja. Wir schaffen eine direkte Schnittstelle zwischen unserem und den Kundensystemen. Zumindest, wenn das so gewünscht wird. Ein klassisches Kanban-System funktioniert natürlich auch ohne Anbindung, bietet dann aber nicht alle Vorteile einer integrierten Lösung. Im besten Fall werden wir zum Partner für die gesamte Lieferkette: Dann übernehmen wir die Lieferantensuche, den Einkauf, Disposition, Lagerhaltung und Qualitätskontrolle sowie nicht zuletzt die Lieferung direkt an den betroffenen Arbeitsplatz. In erster Linie verstehen wir uns aber als zuverlässiger Systemlieferant, erst danach als Berater.

Beschaffung aktuell: Und im zweitbesten Fall?

Dr. Seidl: Nicht jeder unserer Kunden wünscht eine solche Systemintegration. Dabei ist das technisch betrachtet inzwischen keine große Herausforderung mehr. Die international gebräuchlichen Schnittstellen sind heute alle standardisiert. Unser Team geht zum Kunden, informiert sich über seine IT-Architektur und entwickelt dann eine gemeinsame Plattform. Noch aber wehren sich viele Unternehmen gegen eine unternehmensübergreifende Lösung. Dabei werden solche Systeme über kurz oder lang zur Voraussetzung für den Markterfolg werden. Dafür werden nicht nur die Big Player mit Industrie 4.0-Standards sorgen, sondern auch die internationale Konkurrenz, sowie der Kostendruck im Rahmen einer nachlassenden Konjunktur und nicht zuletzt die schon heute fehlenden Fachkräfte. Wenn ich niemand einstellen kann, muss ich zwangsläufig automatisieren.

Beschaffung aktuell: Wer bremst warum?

Dr. Seidl: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Vorab: Die meisten unserer Kunden sind an zukunftsorientierten Lösungen interessiert. Oft rennen wir offene Türen ein. Manchmal aber sieht sich die IT-Abteilung überfordert. In anderen Fällen bremst das Management, weil Prozessintegration natürlich auch Datenintegration bedeutet. Und nicht jeder Chef will seine Excel-Tabellen auf fremden Festplatten sehen. Dabei verpflichten wir uns vorab natürlich zu umfangreichen Produkthaftungs- und Geheimhaltungsvereinbarungen. Manchmal bremst auch der Einkäufer selbst und sieht sich in seiner Handlungsfreiheit oder gar in seiner Existenzberechtigung bedroht. Zukünftig wird sich der Einkauf aber nicht mehr um jede einzelne Schraube kümmern können. Wer sich auf A- und B-Teile konzentriert, sichert seinen Job viel nachhaltiger.

Beschaffung aktuell: Wie bewerten Sie das
Megathema Industrie 4.0?

Dr. Seidl: Wir stehen am Anfang. Wir – damit meine ich die deutsche Industrie. Allerdings kommt heute kein zukunftsorientiertes Unternehmen mehr am Thema vorbei und ich sehe erste gute Ansätze. Die meisten Entscheider sind sensibilisiert und wagen erste Projekte. Die Automobilindustrie ist weiter als andere Branchen. Klar, da geht es ja auch um andere Volumina. Wir wollen helfen, auch bei KMUs transparente Prozesse einzuführen – quasi Industrie 4.0 durch die Hintertür. Wir sehen uns auch in der Pflicht, Entwicklungen voranzutreiben. Dazu arbeiten wir zum Beispiel mit dem Fraunhofer Institut und der TU München zusammen.

Beschaffung aktuell: Ihr Unternehmen engagiert sich international auch in Fernost. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?

Dr. Seidl: Wir besitzen Niederlassungen in Taiwan und China mit jeweils sieben beziehungsweise 80 Mitarbeitern. Der direkte Zugriff auf die dortigen Märkte eröffnet uns viele Vorteile. Die Kollegen übernehmen zum Beispiel das lokale Lieferanten-Scouting. Dort werden auch die operativen Prozesse verfolgt, Lieferzeiten und Qualitäten überwacht. Die Qualität der Produkte ist allgemein sehr gut, die Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, zuverlässig. Da gibt es keinen großen Unterschied mehr zu europäischen Lieferanten. Allerdings sind mit der Qualität auch die Löhne gestiegen. Ein Lagerarbeiter verdient heute in China das Dreifache wie noch vor zehn Jahren. Damit ist China kein Billiglohnland mehr – die chinesische Regierung fährt seit zwei Jahrzehnten eine Qualifizierungs-Strategie weg von der „Werkbank der Welt“ und hin zur Innovationswirtschaft.

Beschaffung aktuell: Warum Taiwan?

Dr. Seidl: Taiwan ist quasi das Zentrum der asiatischen Schraubenproduktion – deshalb haben wir uns vor über zehn Jahren für diesen Standort für ein Einkaufsbüro entschieden. Taiwan ist in der Metallbearbeitung technologisch führend und sehr weltoffen. Koreaner und Japaner sind meiner Einschätzung nach eher auf die eigenen und umliegenden Märkte fokussiert. Und Indien ist das Land der Zukunft – leider schon seit über
50 Jahren. Dieser Markt ist erst im Aufbruch.

Beschaffung aktuell: Abgesehen vom immer noch bestehenden Preisvorteil – birgt die Globalisierung auch Risiken?

Dr. Seidl: Natürlich, angefangen vom Währungsrisiko, über längere Logistikketten bis hin zu politischen Konflikten zwischen einzelnen asiatischen Staaten. Darüber hinaus müssen wir längere Vorlaufzeiten einrechnen und bestimmte technische Spezifikationen sind in Europa doch einfacher umsetzbar. Dazu kommen Zölle und Handelsschranken, die Märkte kurzfristig völlig verändern können. Deshalb bauen wir für jede unserer Hauptproduktlinien immer auch einen europäischen Alternativlieferanten auf.

Beschaffung aktuell: Herr Seidl, Sie sind Doktor der Sozialwissenschaften. Die Mehrzahl Ihrer Kollegen setzt eher auf Maschinenbau oder Marketing.

Dr. Seidl lacht: So groß sind die Unterschiede gar nicht. Eine Stadt, ein Land und auch ein Unternehmen ist jeweils eine soziale und kulturelle Einheit. Der Laden muss laufen. Dabei muss es für alle gerecht und sicher zugehen. Der größte Unterschied ist wohl der Druck der Zahlen. In der Marktwirtschaft muss am Ende die Kasse stimmen, sonst sind die Tore zu. Wenn man Geld drucken kann, ist dieses Problem nicht so groß.

Beschaffung aktuell: Ihr Firmenmotto lautet fit.fair.friendly. Ist das eine Ausprägung Ihrer sozialwissenschaftlichen Ausbildung?

Dr. Seidl: Ich halte diese Attribute für erfolgsrelevant. Jedes Unternehmen muss leistungsstark und fit auftreten. Fairness hat auch viel mit Nachhaltigkeit zu tun. Und nicht zuletzt erleichtert Freundlichkeit nicht nur das Miteinander, sondern auch die Geschäfte. Ich verstehe mich aber auch als stiller Patriarch mit Führungswillen. Ich gebe Ziele vor und kontrolliere die Meilensteine auf dem Weg. Oft kann ich loben, manchmal muss ich tadeln. Im schlimmsten Fall muss man sich auch mal von einem Partner oder
einem Mitarbeiter trennen. Aber selbst das kann für alle Beteiligten fair ablaufen.

Beschaffung aktuell: Sie arbeiten seit 1976 in der Geschäftsführung und haben seither viele Konjunkturtrends erlebt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation?

Dr. Seidl: Im letzten Quartal verzeichneten die Märkte eine schwarze Null. Das aktuelle Quartal wird schlechter – dafür sorgt schon der weitverbreitete Glaube an eine konjunkturelle Eintrübung. Denn wir hatten noch nie einen zehn Jahre andauernden Aufschwung. Und dazu das Glück, dass alle drei großen Weltmärkte gleichzeitig boomten: Europa, USA und China. In Asien sind die aktuellen Zahlen aktuell wohl schlechter als zugegeben. In den USA führen die Steuerreformen gerade zu einem Zwischenhoch. In Deutschland sorgen die gesättigten Binnenmärkte für einen nachlassenden Absatz. Gleichzeitig zerlegen wir unsere Vorzeigeindustrie: die Automobilbranche, um die uns die Welt beneidet – beziehungsweise beneidet hat. Auch mit der Energiewende sind wir meiner Meinung nach auf dem falschen Weg. Kein anderes Land der Welt hat sich diese Radikalität auf die Fahnen geschrieben. Zum Beispiel den kompletten Atomausstieg in Kombination mit dem Kohleausstieg. Momentan sind wir gezwungen, zwei komplette Systeme parallel zu betreiben: alternative und konventionelle Energiequellen. Das kostet irre Summen, was sich in den Energiekosten niederschlägt. In Folge wird BASF zum Beispiel in Deutschland sicher kein neues Werk mehr bauen. Klimapolitik ist keine nationale Politik. Was wir brauchen sind weltweit konzertierte Aktionen.

Beschaffung aktuell: Sie engagieren sich im Fachverband des Schrauben-Großhandels. Ist das nicht eine Doppelbelastung?

Dr. Seidl: Soviel Mehrarbeit ist das nicht. Ich fühle eine soziale und gesellschaftliche Verantwortung, der ich gerecht werden möchte. Und die Verbandsarbeit ist ja nicht nur eine lästige Pflicht, sie macht auch Spaß. Zumindest sehr oft. Die Unternehmen der Verbindungs- und Befestigungstechnik sind gut vernetzt und arbeiten eng zusammen. Gemeinsam können wir gegen Wettbewerbsverzerrungen vorgehen. So konnten wir uns beispielsweise gegen die 80-prozentigen Strafzölle der WHO auf chinesische Schrauben wehren. Das hat zwar sieben Jahre gedauert, aber dann haben wir uns durchgesetzt. Genützt hat es den europäischen Produzenten nichts, weil andere asiatische Hersteller sofort den Markt beliefert haben.

Beschaffung aktuell: Sie sind auch Mitglied im Vorsitz des Kunstvereins München. Das
erinnert im besten Sinne des Wortes an einen Entrepreneur der alten Schule.

Dr. Seidl: Ich war 18 Jahre lang Vorsitzender, jetzt bin ich Stiftungsrat der Pinakothek der Moderne. So komme ich auch jenseits von Industrie und Technik mit den aktuellen künstlerischen Entwicklungen in Berührung. Das ist sehr belebend – eine andere Welt, andere Gedanken und andere Lebenskonzepte. Ich erfahre, was junge Menschen umtreibt und wie sie ihr Leben sehen. Es gibt da draußen viele Menschen mit einem echten Anliegen. Der Kunstverein bietet der nächsten Generation eine Startrampe. Finanziert wird er zur Hälfte von der Stadt sowie von den Spenden unserer Mitglieder und Besucher.

Beschaffung aktuell: Gelten im Kunstmarkt die gleichen Gesetze wie in der Zuliefererbranche?

Dr. Seidl: Das will ich nicht hoffen. Der Kunstmarkt wird unter anderem von schnelllebigen Hypes geprägt. Manchmal geht es schon um absurd hohe Summen. Seit Kunst zum Anlageobjekt degradiert worden ist, fließen auf den Kunstmessen in Basel, Miami oder Shanghai der Champagner und das Geld in Strömen. Dabei ist der Markt extrem volatil – vor allem seit Banker als Anlageberater in Sachen Kunst auftreten. Wurden die Werke der neuen Wilden vor ein paar Jahren noch hoch gehandelt, kosten die Bilder heute beispielsweise nur noch einen Bruchteil.

Die Fragen stellte Michael Grupp,
freier Redakteur von Beschaffung aktuell.


Fakten und Zahlen

Keller & Kalmbach

… wurde vor 140 Jahren gegründet. 1878 drehte sich das Produktportfolio vor allem um Schrauben, Hufeisen und Hufnägel. 1908 übernimmt die Familie Seidl den erfolgreichen Betrieb. Die Schrauben sind geblieben – heute bietet das Unternehmen intelligentes C-Teile-Management rund um Verbindungselemente und Befestigungstechnik. Die Firmengeschichte erzählt von besonderen Innovationen: So liefern die Münchner 1962 als erster deutscher Schraubenhändler direkt in die Produktions-
linien der Automobilindustrie oder führen 1987 das Kanban-System bei Siemens ein. Heute beliefern die rund 900 Mitarbeiter
weltweit Kunden in der Automobilindustrie, im Maschinen- und Anlagenbau sowie in der Bahntechnik und Luftfahrt und erwirtschaften jährlich einen Umsatz von 333 Mio. Euro.

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