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Rechtsfolgen der ISO-Zertifizierung

Beispiel Produkthaftung
Rechtsfolgen der ISO-Zertifizierung

Eine steigende Zahl von Unternehmen mißt der Zertifizierung nach DIN ISO 9000ff erhebliche Bedeutung bei. Das ISO-Zertifikat wird zumindest in Europa voraussichtlich in den nächsten Jahren Standard werden. Einige Mitgliedstaaten der EU verlangen schon heute den Nachweis eines ISO-Zertifikats bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.

Rechtsanwalt Joachim H. Schlutz

Daher machen die Hersteller der Endprodukte die Auftragsvergabe an Teilehersteller oder Entwicklungspartner zunehmend von der Zertifizierung dieser Unternehmen nach ISO 9000 ff abhängig. Den vertraglichen Vereinbarungen zwischen Zulieferer und Hersteller des Endprodukts kommt daher eine besondere Bedeutung zu. Dabei sind Reichweite und rechtliche Verbindlichkeit von Qualitätssicherungsvereinbarungen noch immer rechtlich umstritten.
Die Zertifizierungswelle dehnt sich von den Endherstellern auf kleine und mittelständische Unternehmen aus, die mit nahezu gleichem finanziellen und sonstigem Aufwand die Zertifizierung ihres Qualitätsmanagement-Systems betreiben. Die Überzeugungskraft der ISO-Zertifikate ist jedoch – wie die Verkehrsgeltung von Zertifikaten im Allgemeinen – von der Handhabung durch den Trägerverband und die Gütegemeinschaft abhängig. Kritik an der Zertifizierung entzündet sich daher an folgenden Punkten:
Die ISO 9000ff-Normen beschreiben lediglich einen Mindeststandard und vernachlässigen branchenspezifische Bedürfnisse. Daher bestehen beispielsweise in der Dienstleistungsbranche, in der Verfahrenstechnik sowie in der Softwarebranche Bestrebungen um eine eigenständige Zertifizierungsnorm. In den USA wurde die „QS 9000 ff.“ als branchenspezifische Auditierungsreihe von Chrysler, General Motors und Ford entwickelt. Auch im Verband der Deutschen Automobilindustrie (VDA) bestehen vergleichbare Bestrebungen. Neben der präzisen Berücksichtigung branchen- oder produktspezifischer Erfordernisse ermöglichen branchenspezifische Auditrichtlinien eine Reduzierung der Zulieferer-Audits durch gegenseitige Anerkennung durchgeführter interner Audits der Wettbewerber.
Weitere Kritik richtet sich gegen die Qualität der Zertifzierungsgesellschaften und ihrer Mitarbeiter, von der die Akzeptanz eines Zertifikats entscheidend abhängen. Zertifizieren kann heutzutage jeder – denn eine Legitimierung durch den nationalen Akkreditierungsrat ist weder erforderlich, noch rechtsverbindlich. Ein akkreditierter Zertifizierer wies sich in Deutschland bis vor kurzem durch das Siegel des Deutschen Akkreditierungs-Rats (DAR) aus, das durch Benutzung des Bundesadlers einen quasi-hoheitlichen Eindruck vermittelte. Die Verwendung dieses Hoheitszeichens ist inzwischen nicht mehr statthaft. Dies mag auch daran liegen, daß selbst die durch den DAR akkreditierten Zertifizierer offensichtlich recht unterschiedliche Maßstäbe bei der Anwendung und Auslegung der ISO 9000ff. anlegen.
Kritik trifft jedoch auch den Qualitätsanspruch der Unternehmen selbst. Da die ISO 9000 ff. lediglich Mindestinhalte sowie Modelle für Qualitätsmanagement-Systeme beinhalten, kann eine Zertifizierung nur die Übereinstimmung der Unternehmensprozesse mit den Normanforderungen bestätigen. Die Definition produktbezogener Qualitätsbenchmarks ist dagegen Sache der Unternehmen selbst. Daher ist auch ein ISO-Zertifikat kein Garant für qualitativ einwandfreie Produkte. Die Einführung und Umsetzung eines QM-Systems nach ISO 9000ff allein schließt folgerichtig eine etwaige Haftung nicht aus. Den Unternehmen wird daher vorgeworfen, sie seien maßgeblich auf die Erteilung des Zertifikats fixiert und verfolgten die Umsetzung des Total-Quality-Managements nicht konsequent genug. Ferner werde heute bereits zuviel und zu vieles zertifiziert.
Angesichts der enormen Aufwendungen für den Erwerb eines ISO-Zertifikats sowie der zweifelhaften Marketingrelevanz der Zertifizierung stellt sich daher die Frage, ob diese zumindest rechtlich einen Vorteil für die zertifizierten Unternehmen bringt. Im Vordergrund steht dabei das Haftungsrecht. Insbesondere produkthaftungsrechtliche Konsequenzen sollen hier näher betrachtet werden.
Rechtliche Konsequenzen der Zertifizierung
Den Auswirkungen der ISO-Zertifizierung auf die Produkthaftung wurde bislang wenig Beachtung geschenkt. Insbesondere die „product liability“ des amerikanischen Rechtskreises läßt jedoch die Änderung der Beweislage in Produkthaftungsprozessen vermuten. Insbesondere wegen der umfangreichen Ausforschungsmöglichkeiten in der „pre-trial discovery“ initiieren die Besonderheiten der ISO-Dokumentation einen Prozeß des Umdenkens im Hinblick auf bisherige Verteidigungsstrategien bei der Abwehr von Produkthaftungsklagen. Aber auch in Europa wird die ISO-Zertifizierung zu neuen Konstellationen führen. Vornehmlich im Beweisrecht wird sie Auswirkungen auf die prozessuale Situation entfalten, wenn auch nicht in gleichem Maße wie in den USA.
Allerdings darf bezweifelt werden, ob die ISO-Zertifizierung zu einer Verschiebung der Parteirechte im Produkthaftungsrecht führt. Die prozessualen Konsequenzen der ISO-Zertifizierung verschlechtern nicht zwangsläufig die rechtliche Position des Herstellers, sondern können gerade auch seiner Entlastung dienen.
Die weltweite Zertifizierung entfaltet unterschiedliche produkthaftungsrechtliche Konsequenzen in Abhängigkeit von den Rechtsordnungen in den jeweiligen Märkten. Dabei kommt der für die Zertifizierung erforderlichen Dokumentation der Qualitätsprozesse besondere Bedeutung zu. Diese führt zur Produktion prozeßrelevanten Materials, das in diesem Umfang bisher nicht vorhanden war. Die ISO-Dokumente können für die Beweisführung im Bereich der Sorgfaltspflichten für den Hersteller – je nach Rechtsordnung – entlastend sein, aber auch neue Haftungsrisiken erzeugen.
ISO-Dokumentation
Jedes Qualitätsmanagement-Systems nach ISO 9000 ff erfordert die schriftliche Fixierung der qualitätsrelevanten Abläufe und Regelungsgegenstände in einem Unternehmen. Dies muß in einer Form erfolgen, die es jedem Außenstehenden ohne weiteres ermöglicht, die Qualitätsvorgaben des Unternehmens nachvollziehen und Zielsetzungen, Entscheidungsabläufe und -umsetzungen für einen konkreten oder konstruierten Fall überprüfen zu können.
Die grundsätzlichen Vorgaben finden sich in einem Qualitätsmanagement-Handbuch. Es beschreibt in genereller Form Prozesse, Abläufe und Werkzeuge, definiert qualitätsbezogene Benchmarks ebenso wie Verantwortlichkeiten, Maßnahmen und Vorgehensweisen, wie die Einhaltung der Qualitätsvorgaben sichergestellt und Qualitätseinbrüche vermieden werden können, wie man diese feststellt und was zu tun ist, wenn tatsächlich einmal (Serien-) Fehler auftreten sollten.
Die Darstellung des Qualitätsmanagement-Systems muß in der arbeitsteiligen Industriewelt nicht nur das eigene Unternehmen, sondern auch Schnittstellen im Konzern und zu Dritten umfassen sowie Verantwortlichkeiten und Kompetenzen – für Außenstehende nachvollziehbar – definieren. Damit wirken sich mögliche prozessualen Konsequenzen nicht nur auf die Hersteller selbst, sondern auch ihre Zulieferer und sonstigen Partner aus, die am Entwicklungs- und/oder Produktionsprozeß beteiligt sind.
Jedes Handbuch auf der Basis der ISO 9000ff. verfügt über den gleichen Aufbau. Er teilt den Qualitätsmanagement-Prozeß in verschiedene Bestandteile oder Phasen auf, die jeweils als Element bezeichnet werden. Als Ganzes betrachtet, bilden diese Elemente einen Kreislauf, der mit dem Design und der Entwicklung eines Produktes beginnt, über seine Dokumentation, die Beschaffung, Produktion, Lagerung, den Transport und die Auslieferung zum Kundendienst führt. Jede dieser Phasen wird als eigenständiges Qualitätsmanagement-Element dokumentiert. Bestimmte Elemente sind dagegen keinem bestimmten Teil des Prozesses zuzuordnen, sondern beziehen sich auf das Gesamtsystem, wie z.B. die sog. Verantwortung der obersten Leitung, Schulung, oder eben Produktsicherheit und -haftung. Jedes Qualitätsmanagement-Element wird in einem eigenem Kapitel im QM-Handbuch behandelt, beginnend mit der Verantwortung der obersten Leitung.
Die typische Gliederung
Jedes Kapitel eines Qualitätsmanagement-Handbuchs folgt in Struktur, Aufbau und Gliederung dem einheitlichen Aufbau aller ISO-Dokumente, die sich in 7 ISO-typische Punkte unterscheiden läßt:
1.Zweck,2.Geltungsbereich,3.Begriffe,4.Zuständigkeiten,5.Vorgehensweisen,6.Dokumentation,7.Mitgeltende Unterlagen.
Dieser einheitliche, verbindliche Aufbau ist zugleich ein wichtiger Eckstein für die prozessuale Relevanz der ISO-Zertifizierung, da er jeden Unternehmensfremden in die Lage versetzt, das Qualitätsmanagement-System eines beliebigen Unternehmens in kurzer Zeit kennenzulernen, sofern er mit den ISO 9000 ff vertraut ist. Da die ISO-Normen sämtliche denkbaren Elemente und Werkzeuge eines Qualitätsmanagement-Systems standardisieren, werden alle Einzelheiten der qualitätsbezogenen Abläufe der Unternehmen nachvollziehbar und transparent. Der Zugang zu den ISO-Dokumenten ermöglicht also die vollständige Kenntnis der Entscheidungsabläufe, Ziele und Abwehrmaßnahmen jedes Unternehmens.
Umsetzung der Dokumentation nach ISO
Da das Qualitätsmanagement-Handbuch lediglich allgemeine Grundlagen, Richtlinien und Ziele enthält, kann es sich durchaus auf einen Umfang von weniger als 50 Seiten beschränken. Diese reichen angesichts der Komplexität eines modernen Industrieunternehmens nicht aus, um das gesamte Qualitätssystem zu dokumentieren. Umfang und Inhalt der QM-Handbücher sind deswegen eher knapp, weil die dort beschriebenen Elemente der ISO 9001 – 9003 lediglich die erste von insgesamt drei Ebenen der vollständigen Dokumentation darstellen.
Jedes einzelne ISO-Element wird auf der zweiten Ebene der Dokumentation durch Qualitäts-Richtlinien der Geschäftsleitung und Verfahrensanweisungen ergänzt. Beide Dokumentarten enthalten nähere Informationen zu dem betreffenden Element, sind aber dennoch eher allgemein.
Die Ebene der Richtlinien und Verfahrensanweisungen wird in der Regel durch eine weitere, dritte Dokumentationsebene ergänzt, bestehend aus Arbeitsanweisungen, Prüfanweisungen, oder anderen QM-Dokumenten, die prozeßorientierte Vorgaben bestimmter Qualitätsmanagement-Elemente enthalten.
Das oft recht knapp gefaßte Qualitätsmanagement-Handbuch wird insofern durch tausende von Seiten in Form dieser Richtlinien der Geschäftsleitung, Verfahrens-, Arbeits- und Prüfanweisungen ergänzt. Daher sind im Idealfall alle Details des Qualitätsmanagement-Prozesses durch die ISO-Dokumentation erfaßt.
Beeinflussung von Produkthaftungsklagen
Allein die Dokumentation des Qualitätsmanagement-Systems ist nicht ausreichend. Vielmehr muß darüber hinaus ein betriebsinternes System installiert werden, mit dem die Übernahme und Durchführung der QM-Vorgaben in regelmäßigen Abständen kontrolliert wird. Daher kommt nicht zuletzt der Auswahl und (Weiter-) Bildung des Personals erhebliche Bedeutung zu. Dokumentation und Kontrolle sind Prüfungsmaßstäbe für die Einhaltung der Sorgfaltspflichten eines Unternehmens und können daher durchaus entlastende Wirkung haben. Die nach ISO 9000ff. vorgeschriebene umfassende Dokumentation der Aufbau- und Ablauforganisation des gesamten QM-Systems führt zur Transparenz der Prozesse des jeweiligen Unternehmens und kann daher zur Beweisführung für die Erfüllung aller Sorgfaltspflichten genutzt werden. Damit ist die Produkhaftungsrelevanz nicht ausschließlich negativ zu beurteilen.
Der Zwang zur detaillierten Dokumentation des Qualitätsmanagement-Systems im Rahmen der ISO-Zertifizierung kann die Abwehr von Produkthaftungsklagen jedoch auch negativ beeinflussen, weil damit zuvor nicht vorhandene Beweisunterlagen geschaffen werden. Die von den ISO 9000 ff vorausgesetzte Art der Dokumentation führt zu einer vollständigen Transparenz und Nachvollziehbarkeit interner Unternehmensabläufe.
Pre-Trial Discovery des US-Produkthaftungsrechts
Der „Plaintiff“ (Kläger) mußte in der amerikanischen „pre-trial discovery“ bislang analog der Grundsätze über den Ausforschungsbeweis mühevoll ermitteln, um die Vorlage von Beweismaterial zu erzwingen, das den Hersteller möglicherweise belastet und so die Aussichten seiner Klage verbessert.
Vor dem Hintergrund der nach der ISO-Zertifizierung erforderlichen Dokumentation ist der Klägeranwalt jedoch nunmehr in der Lage, die Vorlage einschlägiger Dokumente (requests for production) präzise zu beantragen. Da die ISO-Normen eine vollständige Dokumentation vorschreiben, ist die Existenz beweisrelevanten, möglicherweise belastenden Materials (material of evidence) nicht mehr zweifelhaft. Sofern ein qualitätsbezogener Fehler in Betracht kommt, kann jeder Plaintiff den möglichen Entstehungsort dieses Fehlers mit Hilfe der ISO-Dokumentation lokalisieren und die dafür verantwortliche Fachabteilung ermitteln. Spätestens ab diesem Zeitpunkt kann er eingrenzen, welche Dokumente des beklagten Herstellers für ihn von besonderem Interesse sind, welche Organisationseinheiten darüber verfügen und welche Mitarbeiter des Herstellers als Zeugen in Betracht kommen können.
Die ISO-Dokumentation führt also dazu, daß sämtliche unternehmensinternen Vorgänge transparent und nachvollziehbar werden. Daher gibt es aufgrund der ISO-Standards keine „chinese walls“ mehr innerhalb des Unternehmens. Die ISO-Dokumentation bietet insbesondere den Plaintiffs im US-amerikanischen Produkthaftungsprozeß die Möglichkeit, an prozeßentscheidende Dokumente zu gelangen, die bisher entweder nicht existierten oder auf die sie auch im Rahmen der umfassenden „discovery“ nicht stießen.
Als Beispiel einer negativen Beeinflussung der Abwehr einer Produkthaftungsklage durch die ISO-Zertifizierung dient daher der folgende fiktive Fall aus der US-product liability:
Es wird unterstellt, der „Plaintiff“ vermutet, ein Entwicklungsfehler eines technischen Produkts sei unfallursächlich geworden. Im Verlauf der „discovery“ wird er daher zulässigerweise die Vorlage der einschlägigen technischen Dokumentation beantragen. Die genaue Kenntnis des Qualitätsmanagement-Systems kann im Zuge der Prozeßvorbereitung der Ausgangspunkt für den Nachweis einer herstellerseitig zu vertretenden Unfallursächlichkeit sein. Der Zugang zu dem QM-System erfolgt über nach den ISO 9000 ff obligatorische Dokumentation.
Naturgemäß sind folgende Elemente der ISO-Dokumentation produkthaftungsrechtlich besonders relevant:
  • 5Lenkung der Dokumente,
  • 8Identifikation und Rückverfolgbarkeit,
  • 9Prozeßlenkung,
  • 13Lenkung fehlerhafter Produkte,
  • 19Kundendienst,
  • 22Produktsicherheit/Produkthaftung.
Die Frage, ob ein Entwicklungsfehler vorliegt, der zu einem sicherheitsrelevanten Produktmangel führte und schadensursächlich geworden sein könnte, führt zur Suche nach belastenden, qualitätsrelevanten Dokumenten. Ausgangspunkt hierfür ist zunächst das einschlägige Kapitel zu Element 5 (Lenkung der Dokumente) des QM-Handbuchs sowie die ergänzenden Verfahrensanweisungen.
Der Hersteller könnte mittels eines „requests for production“ zur Vorlage einer zur Dokumentenlenkung ergangene Verfahrens- oder Arbeitsanweisung gezwungen werden. Die typische ISO-Gliederung würde es erleichtern, Zugang zu dem Inhalt des jeweiligen Dokuments zu finden. Unter dem Gliederungspunkt Begriffsbestimmungen sind die verwendeten unternehmenstypischen und daher für Außenstehend oft nur schwer verständlichen Abkürzungen erklärt. Ferner enthält diese Anweisung selbst Aufschluß darüber, an welche Fachabteilungen sie verteilt wurde.
Anlage zu einer solchen Verfahrens- oder Arbeitsanweisung zur Dokumentenlenkung könnte beispielsweise ein Ablaufdiagramm sein, mit dessen Hilfe unter anderem feststellbar wäre, ob und wie eine technische Dokumentation erstellt, archiviert, verteilt, verwaltet, aktualisiert und aufbewahrt wird. Daher sind etwaige Schutzbehauptung des beklagten Herstellers, zu einem bestimmte technischen Sachverhalt gäbe es keine schriftlichen Unterlagen, von vornherein ausgeschlossen.
Ferner enthielten die betreffenden Verfahrens- oder Arbeitsanweisungen vermutlich Bestimmungen über die Archivierungsdauer dieser Dokumente. Daher wäre auch die wahrheitswidrige Einlassung nutzlos, ein bestimmtes Dokument sei zwar erstellt, aber bereits vernichtet worden. Der Klägeranwalt könnte vortragen, daß dieses Dokument nicht hätte vernichtet werden dürfen und bei welchen Fachabteilung eine Kopie erhältlich sein müßte.
Im Zuge mehrerer, stufenweiser „requests for production“ könnte somit die Vorlage sämtlicher Konstruktions-, Produktions- und QM-Unterlagen erzwungen werden. Ferner ermöglicht die ISO-Dokumentation die namentliche Benennung etwaiger Zeugen aus dem Herstellerbetrieb, die für Entwicklung, Konstruktion oder Produktion verantwortlich sind.
Somit ermöglicht es die ISO-Dokumentation dem Klägeranwalt, durch Vorlage einschlägiger Zeichnungen und Unterlagen genügend technische Informationen zu sammeln, um die für ihn vorteilhafte Aussage seines „expert witness“ vorzubereiten. Damit wird die Aufgabe des „Plaintiffs“ und seiner Experten wesentlich erleichtert.
Entlastungsbeweis nach (deutscher) Produzentenhaftung
Ein weiteres Beispiel soll verdeutlichen, daß die ISO-Zertifizierung Produkthaftungsprozesse aus der Sicht der Herstellers gleichermaßen positiv beeinflussen kann.
Gegenstand des Beispiels sind Ansprüche aus (deliktischer) Produzentenhaftung nach §§823ff BGB. Es wird angenommen, der durch den Hersteller ausgelöste Rückruf sei viel zu spät erfolgt. Infolge dieser Verspätung sei der dem Rückruf zugrundeliegende Produktfehler unfallursächlich geworden und habe zu einer schweren Verletzung des Klägers geführt.
Wegen der im Rahmen der Produzentenhaftung geltenden Grundsätze des Anscheinsbeweises würde es ausreichen, wenn der Kläger nachweisen könnte, daß der zum Rückruf führende Produktfehler den Unfall auslöste und der Rückruf des gefährlichen Produktes erst nach dem Unfallereignis erfolgte. Damit wäre der Nachweis der Sorgfaltspflichtverletzung erbracht, es sei denn, der Hersteller könnte sich entlasten.
QM-Systeme nach ISO 9000 ff setzen voraus, daß der Hersteller Verfahren zur Qualitätsbeobachtung seiner Produkte im Feld institutionalisiert und dokumentiert. Zugleich muß festgelegt sein, wie Feldmeldungen im konkreten Einzelfall dokumentiert und analysiert sowie mögliche Fehlerquellen identifiziert und eine Entscheidung über deren Beseitigung herbeigeführt werden.
Im Rahmen der ISO-Zertifzierung ist der Hersteller gezwungen, die Umsetzung seiner Produktbeobachtungspflicht allgemein zu dokumentieren. Ferner muß er Vorgaben entwickeln, wie die Durchführung der Maßnahmen im konkreten Einzelfall erfolgte. Diese innerbetriebliche Dokumentation und deren Umsetzung im Hinblick auf das angeblich schadensverursachende Teil – die erstellten Berichte und Auswertungen – könnten bei Gericht vorgelegt und durch die Benennung sachkundiger Zeugen untermauert werden.
Mit dieser Beweiskette gelingt dem Hersteller möglicherweise der Nachweis, daß zum Zeitpunkt des streitigen Unfallereignisses noch keine oder unzureichende Informationen über den vermuteten Sicherheitsdefekt vorlagen. Ferner könnte nachgewiesen werden, wie mit den zum Unfallzeitpunkt bereits vorliegenden Feldinformationen verfahren wurde.
Mittels dieser standardisierten Verfahrensabläufe und weiterem Beweisantritt zur Bearbeitung der Feldmeldungen im konkreten Schadensfall kann somit möglicherweise nachgewiesen werden, daß der Hersteller den Organisations- und Untersuchungspflichten im erforderlichen Maße nachgekommen ist. Dieser Entlastungsbeweis kann zur Abweisung der sonst aussichtsreichen Klage führen.
Somit können die ISO-Dokumente zu einer Entlastung des Herstellers führen.
Ausblick
Die ISO-Zertifizierung hat bislang nicht zu einer grundlegende Veränderung des Produkthaftungsrechts geführt. Selbst die Verteidigung gegen amerikanische Produkthaftungklagen wird den Herstellern damit nicht unmöglich, wenn sich auch eine grundsätzlich Erleichterung für die Beweisführung der Klägeranwälte ergibt. Die ISO-Dokumentation bedingt aber sicherlich neue Gefahren für den Hersteller. Dies wird insbesondere vor dem Hintergrund des Ausforschungsbeweises in der US-discovery deutlich.
Wo jedoch Risiken bestehen, birgt die ISO-Zertifizierung auch Chancen. Gerade im europäischen Produkthaftungsrecht ist vorstellbar, daß die Gerichte bei Vorlage einer durchgängigen Dokumentation den Entlastungsbeweis des Herstellers im Bezug auf das vom Kläger behauptete Organisationsverschulden anerkennen werden. Im Bereich der auch nach Inkrafttreten der verschuldensunabhängigen Produkthaftungsgesetze unverändert bedeutsamen verschuldensabhängigen Produzentenhaftung könnte sich der Hersteller beispielsweise mit dem Beweis entlasten, daß seine Entwicklung dem Stand der Technik entsprach und ein Sicherheitsproblem nicht vorhersehbar war.
Sofern auch die europäische Rechtsprechung den Aufwand nicht scheut, sich mit den ISO9000ff-Normen und der Bedeutung der Zertifizierung für die Qualitätssicherung vertraut zu machen, können die Hersteller in diesem Bereich von ihrem zertifizierten Qualitätsmanagement-System profitieren.
Weiterführende Literatur:
Hess/Werk, Qualitätsmanagement, Risk Management, Produkthaftung, 1995
Heussen/Schmidt, „Inhalt und rechtliche Bedeutung der Normenreihe DIN/ISO 9000 bis 9004 für die Unternehmenspraxis“, CR 1995, 321 ff
Kaiser/Gemünd, „Deutschland: Qualitäts- und Umweltmanagement“, Produkthaftung International 1996, 30 ff
Kassebohm/Malorny, „Auditierung und Zertifizierung im Brennpunkt wirtschaftlicher und rechtlicher Interessen“, Zeitschrift für Betriebswirtschaft (ZfB) 1994, 693 (697 f.)
Malorny/Kassebohm, Brennpunkt TQM, 1994
Rothe, „Rechtliche Aspekte der Zertifizierung von Qualitätsmanagementsystemen“, Qualitäts-Zirkel (QZ) 1993, 475
Schlutz, Rechtliche Auswirkungen der ISO-Zertifizierung, insbesondere auf Produkthaftungsklagen, Produkthaftung International 1996, 122 ff.
Verband der Automobilindustrie e.V. (VDA) (Hrsg.), Band 6 Teil 1: Qualitätssicherungs-Systemaudit, 1996.
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