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Stabile Lösung für starre Transportwege

Preiswürdige Materialversorgung
Stabile Lösung für starre Transportwege

Der Automobilhersteller Opel hat ein neues, intelligentes Logistiksystem implementiert, das die Auftragsplanung und die Materialversorgung organisatorisch und prozesstechnisch intensiv vernetzt. Dabei werden eingehende Aufträge für die Produktion simultan mit der Materialverfügbarkeit abgeglichen. Für diese Lösung erhielt das Unternehmen jetzt den VDA Logistik-Award.

Die jüngste Erfolgsmeldung kam nicht mehr völlig überraschend. Der lange kriselnde Automobilhersteller Opel hat den diesjährigen VDA Logistik Award gewonnen. Damit reiht sich diese Auszeichnung in einem vermeintlichen Randsegment ein in eine zunehmend länger werdende Kette von Erfolgen. Die wichtigsten landete die General-Motors-Tochter vor allem dort, wo sich die Zukunft der traditionsreichen Marke letztlich entscheiden wird: Am Point of Sale. Denn trotz schwieriger gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungen hat Opel 2014 das beste Verkaufsergebnis seit Jahren eingefahren. Im vergangenen Jahr lieferte das Unternehmen laut vorläufigen Daten in Europa rund 1,076 Millionen Autos aus. Das entspricht einem Zuwachs von etwa 35 000 Autos oder drei Prozent. Damit konnte Opel deutlich stärker zulegen als der europäische Gesamtmarkt, der lediglich ein Plus von rund zwei Prozent verbuchte. Opels Anteil am europäischen Gesamt-Fahrzeugmarkt wuchs damit im zweiten Jahr in Folge – um knapp 0,1 Prozentpunkte auf 5,74 Prozent. Sowohl beim Absatz als auch beim Marktanteil erzielte Opel die höchsten Werte seit dem Jahr 2011.

Dieser Erfolg hat allerdings auch seine Tücken. Denn mit der aktuellen Modelloffensive und der zunehmenden Internationalisierung der Beschaffungsmärkte mit immer längeren, gleichzeitig aber starren Transportwegen, wird auch die Materialversorgung der europäischen Werke zu einer komplexeren Herausforderung. Und die Teilevielfalt dürfte eher noch zunehmen, denn die Rüsselsheimer starten in diesem Jahr die nächste Stufe ihrer Modelloffensive: Gerade rollt der neue Corsa zu den Händlern, für den bereits 85 000 Bestellungen vorliegen. Das neue Einstiegsmodell „Karl“ folgt im Sommer – und das Kompaktmodell „Astra“ zum Jahresende. Dank der großangelegten Produktoffensive – alleine bis 2018 kommen 27 neue Modelle und 17 neue Motoren auf den Markt – will Opel die Verkäufe in den nächsten Jahren weiter steigern. Im Jahr 2022 soll der Marktanteil in Europa bei 8 Prozent liegen.
Der Erfolg auf den Absatzmärkten dürfte auch in den kommenden Jahren die Transporte auf dem langen Seeweg aus Asien und Lateinamerika weiter anschwellen lassen. Doch diese fixe Transportkette kann nicht so flexibel an die tatsächlichen Bedarfe in der Produktion angepasst werden, dass die moderne „atmende“ Fabrik ihr Material unter optimalen logistischen Verhältnissen an die Linien bekommt. Solange die Teile auf dem Seeweg zu den europäischen Werken unterwegs sind, muss der Hersteller davon ausgehen, dass auch die richtigen Teile in der richtigen Menge an Bord sind. Ein stabiler Materialfluss wird also zu einer Herkulesaufgabe, wenn der Endkunde immer schneller bedient werden möchte. Dabei ist die Liefertermintreue für den Erfolg beim Kunden der Dreh- und Angelpunkt. Gleichzeitig soll eine maximale Kosteneffizienz erreicht und Unruhekosten vermieden werden. Hinzu kommt die zunehmende Opel-spezifische Komplexität: Der Hersteller baut dieselben Fahrzeuge in unterschiedlichen Werken, aber auch unterschiedliche Produkte in denselben Werken. Hinzu kommen Gleichteile von einem Fahrzeug zum anderen. Bei zunehmend volatilen Märkten, häufigen Anreizprogrammen des Wettbewerbs und unter Vermeidung kostenträchtiger Sondermaßnahmen wird die Materialversorgung damit zu einem entscheidenden Erfolgsfaktor. Es gilt also, Fahrzeugaufträge und Materialversorgung, die beiden zentralen Arbeitsebenen der Logistiker in der Automobilindustrie, organisatorisch und prozesstechnisch intensiv zu vernetzen.
Dabei arbeitet der Hersteller in der Auftragssteuerung nach dem Prinzip, für voll spezifizierte Aufträge einen Forecast von 40 Wochen zu haben und für die letzten vier Wochen fix an die Produktionswerke abzugeben. Das bedeutet, hinter den Forecast-Aufträgen der ersten 36 Wochen muss kein realer Kunde bzw. Auftrag stehen, nur die letzten vier Wochen sind tatsächlich fix. Bei langen Lieferzeiten von acht oder zwölf Wochen basiert das abgerufene Material demnach auf Forecast-Aufträgen. Ein Auftragseingang trifft dann auf eine bereits determinierte Transportkette. Mögliche Alternativen mittels Sicherheitsbeständen oder Sondertransporten, insbesondere per Luftfracht, sind kostenintensiv.
Auf der Fahrzeugauftragsebene wird in der Programmplanung das Produktprogramm für die nächsten Monate festgelegt. Im Fahrzeugauftragseingang treffen jeden Tag Bestellungen von Kunden beim Händler ein, die dann in den Forecast-Prozess hinein platziert werden müssen. Auf dieser Ebene ist jedoch noch nicht bekannt, welche Teilnummern sich hinter den Bestellungen verstecken. Wenn es eine Baubarkeitsprüfung gibt, findet diese allenfalls selektiv auf Optionen bzw. Kapazitäten statt, aber nicht im Hinblick auf Teilnummern, die unterwegs sind. Dieser Zusammenhang wird in einem wöchentlichen Bedarfslauf festgelegt, der zumeist über das Wochenende erfolgt. Damit werden die Aufträge in Materialabrufe zerlegt. Dieser Batch-Prozess findet bei Opel täglich statt und liefert einen Horizont von sechs Wochen. Wöchentlich erfolgt dieser Prozess über den kompletten Horizont von 40 Wochen. Bis dato wurden montags die Lieferabrufe an den Lieferanten geschickt, ohne dass wirklich transparent war, ob diese tatsächlich zueinander passten. Im Laufe der Woche findet dann ein manueller Rückkoppelungsprozess statt: Dabei können Lieferanten und Disponenten mögliche Änderungswünsche im Programm artikulieren. Unter Umständen entsteht über dieses Feedback die Notwendigkeit, Fahrzeuge neu einzuplanen. Die Crux dabei: Löste ein Materialproblem eine Umplanung aus oder hatte eine Umplanung einen Materialmangel erzeugt?
Am Anfang der Überlegungen im Jahr 2010 bestand für die Logistikplaner bei Opel der naheliegende Wunsch, alles gleichzeitig machen zu können. Ziel sollte also sein, bei der Einplanung von Aufträgen wissen zu können, auf welche Materialzuläufe diese treffen würden. „Das ist leider einfacher gesagt, als getan“, erklärte Marzell Bandur, Director Supply Chain Planning, Adam Opel AG, bei der Präsentation des Konzepts im Rahmen des Forums Automobillogistik, das der Verband der Automobilindustrie (VDA) gemeinsam mit der Bundesvereinigung Logistik (BVL) in Leipzig veranstaltet hat. Es ging darum, ein neues, intelligentes Logistiksystem zu kreieren, das die Auftragsplanung und die Materialversorgung organisatorisch und prozesstechnisch so vernetzt, dass eingehende Aufträge für Neuwagen für die Produktion simultan mit der Materialverfügbarkeit abgeglichen werden können. Dabei war vor allem auch die Material-Pipeline der Lieferanten in Übersee zu berücksichtigen.
Die gemeinsamen Überlegungen mit dem Stuttgarter IT-Dienstleister Flexis führten dann zu einem System, das es dem Autobauer erlaubt, Fahrzeugaufträge online bereits über eine Stücklistenzerlegung aufzulösen, gleichzeitig die Daten aus dem Materialwirtschaftssystem zu nehmen, um die Materialverfügbarkeit zu prüfen und dies bei der Fahrzeugauftragseinplanung zu berücksichtigen. Ein Nebeneffekt: Es kann auch ermittelt werden, in welches Fahrzeug die Teile eingebaut wurden. So gibt es CO2-sensitive Teile wie beispielsweise Lichtmaschinen, deren Leistung nicht allein über den Motor, sondern über Motor-/Getriebekombinationen und bestimmte Ausstattungsvarianten bestimmt wird, sodass aufgrund einer Option nicht unbedingt festgestellt werden kann, welche Lichtmaschine in einem konkreten Fahrzeug eingebaut wurde. Wirklich sinnvoll wird diese Option allerdings nur dann, wenn auch alternative Entscheidungsmöglichkeiten bestehen. Damit einhergehend wurde eine Simulationsfähigkeit eingebaut, die es den Disponenten ermöglicht, in der Auftragseinplanung ein kostenoptimales Szenario zu finden.
Das betroffene Volumen beläuft sich auf 20 Fahrzeugmodelle, die in sieben Produktionswerken gebaut werden. Hinzu kommen noch fünf Montagewerke, die mit bzw. von Partnern betrieben werden. In dem 40-Wochen-Horizont liegen rund 850 000 Fahrzeugaufträge, die das System erfasst. In der Berechnung sind 45 000 Teilenummern. Etwa 110 Nutzer arbeiten an dem System.
Bei den Optimierungsparametern sind rund 3700 Teilenummern im Monitoring, darunter befinden sich sowohl Übersee-Kombinationen, aber auch Nicht-Übersee-Teile von Lieferanten, bei denen eine lange Lieferkette vorgelagert ist. Dazu kommen noch 3200 Material- und Werksrestriktionen, davon 600 Steuerungsrestriktionen, wenn bestimmte Optionen nicht hintereinander gebaut werden können und entsprechende Abstände eingehalten werden müssen.
Das Besondere am neuen System: Eingehende Aufträge für die Fertigungswerke werden unter simultaner Berücksichtigung der Materialverfügbarkeit – speziell der Materialpipeline von Lieferanten in Übersee – in Echtzeit gesteuert. Dadurch findet die Order-Einplanung nicht mehr sequentiell, sondern integriert statt. Und es kann schneller reagiert werden, wenn sich Rahmenbedingungen ändern.
Logistikplaner Bandur betont: „Der Blick auf dieselben Daten führt dazu, dass es zu gemeinsamen und schnellen Entscheidungen nach einheitlichen Kriterien kommt“. Diese qualitativ transparenten und bewussten Entscheidungen und die frühere Information vor der Materialberechnung hat zu geringerer Volatilität in der Prognose geführt. Einen Aha-Effekt hatten die Informationen von Werken, die weniger Bedarfsänderungen von bereits fixen Aufträgen aufgrund von Materialproblemen haben, weil der Prozess insgesamt stabiler geworden ist. „Wir haben diese Lösung also genutzt, um qualitativ besser zu werden“, so Bandur. Diese Stabilität zeigte sich nicht nur im langfristigen Bereich, sondern unerwartet auch in kurzfristiger Perspektive. Beim Start zunächst in der Produktion des Insignia, der im Vergleich zu den Volumenmodellen Astra oder Corsa in deutlich geringerer Stückzahl produziert wird, kam schon nach wenigen Wochen die Rückmeldung aus dem Werk, dass Materialprobleme rückläufig waren. Bis dato mussten mehr Fahrzeuge aufgrund von Materialengpässen erneut angefasst werden. Ob die neue Systemlösung auch in eine tiefergehende umfassende Kapazitätskontrolle einmünden kann, könnte laut Bandur Gegenstand weiterer Überlegungen sein.
Die Vorteile der inzwischen für alle Fahrzeugmodelle implementierten Lösung sind eine verbesserte Transparenz, mehr Flexibilität, niedrigere Materialbestände und die Reduzierung von Material-Sondertransporten. Die Opel-Logistiker beziffern die Verbesserung bei den Materialbeständen auf 18 Prozent. Im Bereich Handling und Flächenbedarf für die Übersee-Konsolidierung liegt das Plus bei 43 Prozent. Die Kosten für Sonderfahrten sind um 22 Prozent gesunken. Bei der Liefertreue bei Fahrzeugauslieferungen liegt die Verbesserung bei gut zehn Prozent.
Dabei profitiert vom neuen System nicht nur das Unternehmen, sondern auch der Kunde: Termine bei der Fahrzeugauslieferung können exakter eingehalten werden. „Das System unterstützt die flexible und termingetreue Erfüllung der Kundenwünsche ebenso wie die Optimierung der Wertschöpfungskette und des Fertigungsprogramms. Auf sich ändernde Bedingungen können wir bei voller Transparenz schnell und flexibel reagieren“, so Michael Scholl, Director Supply Chain bei Opel, bei der Preisverleihung.
Durch die neue gewonnene Transparenz bietet das System auch die Option, die konkreten Restriktionen zu ermitteln, warum ein Fahrzeug in einem bestimmten Zeithorizont nicht baubar ist. Damit kann der Kunde auf andere Lieferzeiten hingewiesen werden, wenn dieser bereit ist, alternative Ausstattungselemente zu wählen. So bekommt der Kunde zwar nicht seinen Traum-Opel, diesen aber immerhin pünktlich.

VDA Logistik Award 2015
Der Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) hat den VDA Logistik Award bereits zum achten Mal an ein Unternehmen verliehen, welches mit seiner Logistiklösung als Vorbild für andere Unternehmen der Automobilindustrie dienen kann. Auf dem 3. Forum Automobillogistik in Leipzig überreichte der Jury-Vorsitzende Prof. Dr. Wolfgang Stölzle den Preis an Michael Scholl, Director Supply Chain bei Opel. VDA-Präsident Wissmann betonte: „Mit dieser Auszeichnung hat die Jury ein höchst innovatives Konzept prämiert. Mit der Integration von Programm-, Material- und Auftragsplanung werden wichtige Bereiche verzahnt, die bisher oft nebeneinander gearbeitet haben. Vor allem aber zeigt sich: Die Automobillogistiker tragen mit neuen, intelligenten Prozessinnovationen immer wieder zur weiteren Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie bei. Unsere Logistiker bei den Herstellern und Zulieferern tragen so dazu bei, dass die deutsche Automobilindustrie immer mindestens einen Schritt voraus ist.“
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