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Starke Synapsen für schnelle Informationen

Technische Änderungen im internationalen Produktionsverbund
Starke Synapsen für schnelle Informationen

Mit der Herausbildung zunehmend komplexer und globaler Produktionsnetzwerke nehmen auch die Anforderungen an die Koordination und Kommunikation in der Supply Chain bei der Umsetzung technischer Änderungen stetig zu. Doch aufgrund vieler marktspezifischer Besonderheiten und individuell gestalteter Zulieferbeziehungen gehen Unternehmen bisher eigene Wege, um das Änderungsmanagement in ihre Organisation zu integrieren.

Der Aufbau und das Management eines internationalen, teilweise sogar globalen Produktionsnetzwerks gehört inzwischen fast zu den Standardaufgaben der Logistiklenker in den Unternehmen der Automobilindustrie und ihrer Lieferanten. Dabei zählt die Sicherstellung einer identischen Qualität und technisch gleichwertiger Teile zu den zentralen Aufgaben. Doch mit der immer breiteren Modellpalette und zunehmenden Teilevielfalt an weit entfernten Produktionsstandorten nehmen auch die Risiken in der Supply Chain zu, wenn – noch dazu sehr kurzfristige – technische Änderungen zu berücksichtigen und in den Prozess einzuplanen sind. Bei völlig unterschiedlichen Produktlebenszyklen können Änderungen an einer Stelle Kettenreaktionen auslösen, die natürlich in der Planung bedacht werden müssen.

Anforderungen an die Kommunikation und Koordination zur Umsetzung technischer Änderungen nehmen also zu, vor allem, wenn sprachliche und kulturelle Barrieren zu überwinden sind. Ein typisches Beispiel ist die Produktion des Volkswagen Pickup „Amarok“, der in variantenreichen Baureihen im Stammwerk Hannover und im argentinischen Pacheco gefertigt wird. Allein in Hannover verließen im Jahr 2013 rund 25 000 „Amarok“ die Fertigungshallen. Das Besondere im Lieferantennetzwerk ist, dass manche europäische Lieferanten nur den Standort Hannover beliefern, andere aber auch beide Standorte versorgen. Außerdem beliefern manche lateinamerikanische Lieferanten nur das Werk in Pacheco, andere Lieferanten versorgen wiederum beide Standorte. Die Absatzmärkte werden entweder nur aus Hannover oder Pacheco beliefert, andere Märkte erhalten ihre Fahrzeuge aus beiden Werken. Damit wird eine identische technische Stückliste benötigt, daneben sind aber auch individuelle Fertigungsanforderungen zu berücksichtigen, nicht zuletzt aus historischen Gründen, weil jedes Werk sich mit unterschiedlichen Fertigungstechniken entwickelt hat. Aus den Laufzeiten von rund zwölf Wochen per Schiff zwischen den Standorten ergeben sich Zeitverschiebungen, die entsprechend zu berücksichtigen sind. Ursachen für technische Änderungen können Optimierungen am Fahrzeug oder – mitunter kurzfristige –spezielle Kundenwünsche sein. Aber auch Ideen spielen eine Rolle, wie Bauteile günstiger produziert oder verbaut werden können. Last not least erzwingen geänderte gesetzliche Anforderungen technische Änderungen. Bei Volkswagen Nutzfahrzeuge gehen solche Änderungen in einen Genehmigungsdurchlauf, an dem die Entwicklung und dann auf der Werkebene die Fertigung, die Qualitätssicherung, der Vertrieb und die Logistik hinsichtlich Kosten, resultierende Änderungen der Betriebsmittel und zu erwartendem Zeithorizont abgefragt werden. Erst danach werden die entsprechenden Zeichnungen verändert und an die beteiligten Werke übergeben. Dabei stimmen sich auch die Werke untereinander ab. Für das argentinische Werk ergeben sich noch spezielle Importrestriktionen, die eine gewünschte Verschiebung von Lieferanten erschweren.
Ein IT-Tool hilft, Logistikkosten beim gleichzeitigen Einsatz von Änderungen an mehreren Standorten zu optimieren. So kann ermittelt werden, wann und zu welchen Kosten eine Änderung umzusetzen ist. Häufig kann es bis zu 18 Wochen dauern, bis eine Änderung tatsächlich im Werk „ankommt“. Das Tool berechnet beispielsweise, zu welchen Mehrkosten eine schnellere Änderung, etwa durch natürlich deutlich höhere Flugkosten, zu realisieren wäre. Neben den Kosten stellt das Tool auch einen entsprechenden Lieferplan aus, nach dem auch getrackt werden kann. Auch kurzfristige Umplanungen können in die Berechnung einfließen und die Entscheidungsgrundlage verändern.
Die Etablierung einer Standard-Prozesskette im Änderungsmanagement dürfte allerdings in den meisten Unternehmen noch länger auf sich warten lassen. Bisher mangelt es unter anderem an detaillierten Checklisten und aussagekräftigen Kennzahlen. Die bis dato verwendeten Kennzahlen konzentrieren sich darauf, einen Überblick über die Anzahl und Art von Änderungen sowie die gerade in Arbeit befindlichen Änderungen und deren Durchlaufzeiten zu gewinnen. Es fehlt an einer qualitativen Bewertung dieser KPIs. Es fehlen Kennzahlen, mit denen ganze Prozesse künftig auch gesteuert werden können.
Als zentrale Kennzahl empfahl Dr. Susanne Lehmann, Leiterin Vorserienlogistik, Volkswagen Nutzfahrzeuge, in Leipzig die „Zielterminverfolgung“. Damit ließe sich beispielsweise die tatsächliche Dringlichkeit einer Änderung oder deren Auswirkung auf das operative Ergebnis, aber auch das avisierte Kundenpotenzial feststellen.
Eine weitere offene Frage ist die richtige organisatorische und disziplinarische Zuordnung des Änderungsmanagements. Denn während es für Logistiker zu ihrem Aufgabenspektrum gehört, sehen andere es als Teil der Entwicklung in einer eher neuen Funktion, die noch einer klaren Zuordnung in Vorstands- bzw. Fachbereichen bedarf. Doch selbst innerhalb der Logistikfunktion kann die Zuordnung zwischen zentral und dezentral differieren.
Für Michael Behn, Leiter Neuanlauflogistik, Änderungsmanagement, Verpackungsplanung, EDI Management, beim global operierenden Automobilzulieferer Mahle, ist die Zuordnung klar: „Für mich ist das aus Überzeugung Logistik und die Logistik gehört zur Produktion.“ Entsprechend untersteht die Änderungslogistik der einzelnen Kontinente der jeweiligen Produktions- und Logistikleitung. Die Änderungslogistik der Werke ist disziplinarisch dem Werksleiter unterstellt, berichtet aber an die zentrale Anlauflogistik. Ziel ist, die Änderungslogistik nach den entsprechenden Konzernregeln arbeiten zu lassen.
Im Gegensatz zur klassischen Supply-Chain-Funktion ist die Logistik bei Mahle bereits durch technische Funktionalitäten ergänzt. Das Änderungsmanagement ist, ebenfalls klassisch, in der Entwicklung angesiedelt, wird künftig aber der Logistik zugeordnet. Hintergrund ist die Erkenntnis, dass technische Änderungen in der globalen Supply Chain für Probleme sorgen können, wenn sie nicht entsprechend in der Supply Chain gesteuert werden. „Die zukünftigen Herausforderungen werden sein, in einem komplexen globalen Umfeld Produkte und Komponenten mit technisch genau definierten Änderungen herzustellen und auszuliefern. Wer das nicht schafft, läuft in nicht mehr beherrschbare Kosten hinein“, so Behn.
Dabei reicht ein Änderungsmanagement an global verteilten Standorten mit IT-Unterstützung nicht aus. „Konzernübergreifend definierte, einheitliche und gelebte Prozesse in Entwicklung, Produktion und Materialwirtschaft lassen sich nicht durch IT ersetzen“, ist Behn überzeugt. Das Geheimnis der Geschwindigkeit, die heute in einem Produktions- und Änderungsnetzwerk erforderlich ist, liege letztendlich darin, dass zentrale und dezentrale Aufgabenstellungen sorgfältig definiert werden. Dabei kommt einerseits der Vereinheitlichung, andererseits den lokalen Freiheitsgraden eine zentrale Rolle zu. Für global agierende Unternehmen ist die Durchsetzung weltweiter Standards unabdingbar, denn scheidet ein Produktionsstandort aus, zerbricht das globale Versorgungsnetzwerk. Entsprechend haben Änderungen in globalen Projekten auch Auswirkungen auf alle Bauteile.
Auf der Basis dieser klar definierten Prozesse können IT-Systeme implementiert werden, die für die Beherrschung der Varianten- und Teilevielfalt unbedingt erforderlich sind. „Menschen mit Excel alleine werden es nicht mehr schaffen, die Kosten werden eskalieren“, warnt Behn.
Um diese Prozesse zu beherrschen, gilt im Mahle-Konzern das Prinzip der Konstruktionshoheit: Nicht jeder darf einfach technisch ändern. Vielmehr hat nur eine Stelle im Konzern die Konstruktionshoheit für ein Produkt oder ein Teil. Diese Stelle hat auch den Änderungszugriff auf die Originalzeichnungen. Eine Stelle mit Konstruktionshoheit führt die technischen Änderungen an einem Produkt aus. Alle Teileverwender beantragen nur an dieser Stelle eine Teileänderung. Die Stelle mit Konstruktionshoheit stimmt die Änderungen im Hinblick auf Technik, Kosten und Termine mit den Teileverwendern und dem Teilefertiger ab. Bei den Terminen kommt die Logistik ins Spiel.
Das Prinzip der Produktionshoheit als dezentralisierte Funktion regelt, wer was nach welchen Regeln und Prozessen produzieren darf. Die Produktionshoheit liegt dort, wo die Teile produziert werden. In einem Konzern kann es für das gleiche Produkt mehrere Stellen mit Produktionshoheit geben. Im Gegensatz zu der zentralisierten Konstruktionshoheit, die ein Produkt technisch definiert, ist jedem Mahle-Produktionsstandort erlaubt, seine Produktion nach eigenem Ermessen zu gestalten. Aber: Die Rahmenbedingungen hinsichtlich Qualität müssen stimmen. Die Fertigungsprozesse können also komplett anders aussehen, so dass beispielsweise ein Kühlsystem in Amerika ganz anders als in Indien produziert wird. Damit sehen auch die Stücklisten in den EDV-Systemen der jeweiligen Standorte verschieden aus. Daher ist die Durchsetzung eines konzernübergreifenden Nummernsystems extrem wichtig: Ein Teil, ein technischer Stand, eine Sachnummer. „Ein System, in dem jeder Produktionsstandort über ein eigenes Nummernsystem verfügt, ist der Tod eines globalen Produktionsnetzwerkes“, betont Behn. Insgesamt gibt es also für jedes Produkt eine Konstruktions- und eine Produktionssicht. Ein IT-System im Änderungsmanagement muss demnach in der Lage sein, sämtliche Konstruktions- und Produktionssichten abzubilden.
Das durch Prozesse und EDV-Systeme verknüpfte Netzwerk setzt sich demnach aus Montagestandorten eines Systems, Produktionsstandorten der Komponenten und Entwicklungsstandorten der Technik zusammen, die für dieses System oder Einzelkomponenten verantwortlich sind. Jeder Standort hat neben den klassischen Funktionen wie Konstruktion, Einkauf und Produktionslogistik zwei spezielle Funktionen: Das Änderungsmanagement und die Neuanlauf- bzw. Änderungslogistik. „Änderungsmanagement ist die Synapse, die die tägliche Information in diesem Netzwerk umsetzt und in den Standort einsteuert. Die Änderungs- und Neuanlauflogistik in ihrer Abstimmung mit dem Änderungsmanagement ist für die Termin- und Stückzahlabstimmung im Konzern verantwortlich“, erklärt Behn die Funktionsbereiche.
Doch Netzwerke funktionieren nur so gut, wie ihre Handlungspunkte in den einzelnen Knotenpunkten sind. Die Neuanlauf- und Änderungslogistik ist also dafür verantwortlich, dass das Konzern-Optimum in der Supply Chain und in der Technik gefunden wird, nicht aber das lokale Optimum des einzelnen Standortes. Ein Änderungsmanagement-Standort hat die System- und Methodenverantwortung und sorgt dafür, dass die Prozesse an jedem Standort etabliert werden. Das Änderungsmanagement gibt hier Zeichnungen und technische Änderungen frei, verwaltet CAD-Dokumente im Engineering Data Management und verwaltet und koordiniert Betriebsmittel und Werkzeuge im MRP-System, bei Mahle SAP.
„Wir sehen die Logistik als die treibende Kraft, die dafür sorgt, dass Material, technische Daten und Betriebsmittel zur richtigen Zeit am richtigen Ort in verschiedenen Produktionswerken verfügbar sind, um einen technischen Änderungsstand produzieren zu können“, erklärt Behn. Nur so könnten Kundentermine eingehalten werden. Andernfalls drohe die Rolle als „ewiger Zweiter“, der „den Daten hinterher rennt“.
Voraussetzung für eine optimale Performance des Systems ist ein modernes Nummernsystem, das aus Dokumenten für die Konstruktion und Sachnummern für Produktion und Logistik besteht. Behn überrascht, dass viele Unternehmen heute noch mit verschiedenen Nummernsystemen arbeiten, Produkte haben, bei denen eine Sachnummer doppelt belegt ist, oder schlicht Nummernsysteme mit jahrzehntealter Geschichte fortleben lassen. Dabei handelt es sich um sprechende bzw. nicht indizierte Nummernsysteme, oder solche, bei denen Zeichnungsnummer und Produktionsnummer identisch sind. Unter diesen Voraussetzungen könne kein IT-System eine optimale Performance zeigen, mahnt der Mahle-Manager. Moderne Nummernsysteme seien nicht-sprechende Nummernsysteme, die für einen Nummern-Generator frei vergeben werden, der zentral betrieben werden kann. „Es wird zu keinen Teilekollisionen kommen, im Zeitalter von Barcodes sind sprechende Nummernsysteme in der Produktion schlichtweg überflüssig“.
Ein konzernübergreifendes IT-System hat dann letztlich dafür zu sorgen, dass jede berechtigte Person integriert ist und die Möglichkeit hat, eine Änderung ohne zeitliche Verzögerung zu verfolgen. ads
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