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Von der Tresenlogistik zum Routenzug

Schlanke Logistikprozesse im Rennsport
Von der Tresenlogistik zum Routenzug

Die Autohersteller nutzen die Rennstrecken der Welt, um ihre technische Kompetenz zu demonstrieren und neue Technologien zu testen. Doch damit die eigenen Fahrzeuge am Ende aufs Treppchen fahren, sind effiziente Logistikprozesse erforderlich. Dabei gelten die anerkannten Prinzipien des Lean Management, wie das Beispiel Audi zeigt.

Laurens Vanthoor gewann im Audi R8 LMS ultra für Audi Sport customer racing den Fahrertitel in der Blancpain Endurance Series (BES). Beim Saisonfinale, dem Nürburgring 1000, siegte der Belgier zusammen mit Christopher Mies und César Ramos bei schwierigen Bedingungen.

Die 33 Punkte für den Sieg brachten dem Belgian Audi Club Team WRT zudem den Titel in der Teamwertung der prestigeträchtigen Langstreckenserie. Damit gingen zum dritten Mal der Fahrer- und Team-Titel an Audi. „Der Titelgewinn in der Blancpain Endurance Series, einer der anspruchsvollsten GT3-Meisterschaften weltweit, markiert einen weiteren Höhepunkt im Kundensport-Programm mit dem Audi R8 LMS ultra“, erklärte Romolo Liebchen, Leiter von Audi Sport customer racing.
Das Siegerauto, der Audi R8 LMS ultra, gehört sicher nicht zum Standardrepertoire des Audi-Konzerns, der mittlerweile über 1,5 Millionen Fahrzeuge an Kunden in aller Welt ausliefert. Seit 2009 sind 120 Exemplare des bis zu 560 PS starken GT3-Modells mit dem 5,2-Liter-V10-Motor ausgeliefert worden, die bis heute 23 Rennsport-Meisterschaften weltweit gewonnen haben. Das Rennen am Nürburgring markierte den 1000. Einsatz bei einer großen Rennsport-Veranstaltung – hinzukommen viele weitere Wettbewerbe auf regionaler oder lokaler Ebene in aller Welt, denn auch im Clubsport ist der R8 LMS ein gefragtes Modell.
Die enge Verwandtschaft des Audi R8 LMS ultra mit dem Serien-R8 ist das Ergebnis einer konsequenten Strategie – schon zu Beginn der R8-Entwicklung stand die Eignung für den Motorsport im Lastenheft. Das fertige Produktionsmodell liefert mehr als 50 Prozent der Teile für das Rennauto. Dieser ungewöhnlich hohe Anteil unterstreicht die sportliche Kompetenz des Serien-R8 und hält zugleich die Kosten für den Kunden in Grenzen. Audi Sport customer racing bietet den R8 LMS ultra für schlappe 339 000 Euro plus Steuern an.
Nicht nur die Entwicklung, auch die Produktion verläuft zwischen Renn- und Straßen-R8 eng verzahnt. Die Spezialisten im Karosseriebau am Standort Neckarsulm koppeln den Space Frame des R8 LMS ultra aus dem Fertigungsprozess aus und versehen ihn mit den speziellen Aufnahmepunkten für das Fahrwerk – der Rennwagen liegt erheblich tiefer als das Straßenauto. Der Unterboden erhält Aufnahmen für die pneumatischen Wagenheber, die Zelle bekommt den Sicherheitskäfig aus Stahl eingeschweißt. Danach durchläuft die Karosserie die kathodische Tauchlackierung, wie beim R8 üblich.
Wegen des Käfigs ist der Audi R8 LMS ultra im Rohbau 56 Kilogramm schwerer als das Serienauto, doch nach seiner Fertigstellung wiegt er ohne Betriebsstoffe nur 1250 Kilogramm. Bei der Montage in der Werkstatt von Audi Sport customer racing bleibt eine Menge Ausstattung außen vor – von der Klimaanlage über die Dämmmaterialen bis zu vielen Komponenten der Bordelektronik. Ohne den Motor umfasst die Stückliste rund 4000 Teile, 1000 weniger als beim Serien-R8. An einem R8 LMS ultra arbeiten zwei spezialisierte Monteure rund zehn Tage lang.
Audi Sport customer racing unterstützt seine Kundenteams weltweit, allein im Jahr 2012 gingen 47 862 Teile in 817 Lieferungen an 42 Kunden.
Im internen Logistikprozess gestaltet sich ein größerer Teil des Materialflusses von Serienteilen wie bei den „normalen“ Serien-Fahrzeugen von den Lieferanten hin zum Kunden. Im Rennsport sind allerdings zusätzlich Versuchs- und Testteile zu handeln, die auch in beiderlei Richtung fließen. Gleiches gilt für Revisions-, Prüf- und Reparaturteile, die zurückkommen, überholt werden und dann zurück zum Kunden gehen. Nicht zuletzt gelangen auch Alt- bzw. Traditionsteile wieder zurück zum Lieferanten. Doch im Unterschied zum Serienfahrzeugbau gestalten sich die Schwankungen im Teilebedarf völlig anders. „Wir haben Schwankungen von Stunden statt Tagen und wir haben Schwankungen von bis zu 100 Prozent“, erklärte Wolfgang Rödig, Logistiker bei der Audi Sport customer racing quattro GmbH, im Rahmen des 7. Kooperationsforums Schlanker Materialfluss, das die Bayern Innovativ GmbH Anfang Oktober in München veranstaltete. So kann es passieren, dass vier Wochen keine Teile benötigt werden, nach einem Rennunfall aber sofort alle Teile zum Neuaufbau erforderlich sind.
Hinzu kommt, dass die Rennsport-Logistik ein über Jahrzehnte gewachsener, werkstattähnlicher Prozess ist, der den Grundsätzen von etablierten Lean-Methoden der schlanken Fertigung lange Zeit eher fern stand. So zählt bis dato die Vermeidung von Verschwendung nicht zu den geübten Praktiken. „Wenn ein Mechaniker ein Bauteil braucht, geht er an den Logistik-Tresen und wartet dort, bis er es bekommt“, nennt Rödig ein Beispiel aus der Praxis. „Das ist pure Verschwendung. Seine Kernkompetenz ist es, Fahrzeuge zu bauen und nicht Teile zu holen, dort zu warten und irgendwelche überflüssigen Transporte durchzuführen.“
Mit dem Komplett-Umzug der Motorsport-Logistik an einen neuen Standort ergibt sich jetzt für Audi Sport die Chance, auch alle Logistikprozesse auf den Prüfstand zu stellen und neu nach den Grundsätzen der schlanken Fertigung auszurichten. Denn die Umsetzung der neu gestalteten schlanken Logistikprozesse ist eng an die Entwicklung und Inbetriebnahme des neuen Kompetenz-Centers Motorsport (KCM) in Neuburg geknüpft und soll bis zum Frühjahr 2015 abgeschlossen werden. Bereits Ende August 2014 nahm der Konzern nach nur zwei Jahren Bauzeit das Hightech-Areal Audi Neuburg offiziell in Betrieb. Auf dem 47 Hektar großen Gelände befinden sich das Kompetenz-Center Motorsport mit Audi Sport customer racing, das Audi driving experience center sowie Funktionen der technischen Entwicklung unter einem Dach. Rund 20 Kilometer westlich vom Stammsitz Ingolstadt arbeiten künftig insgesamt 460 Mitarbeiter. Audi investiert eine Summe im oberen zweistelligen Millionenbereich. Hier entwickelt Audi Sport High-Performance-Technologien für Rennfahrzeuge – auch, um sie für einen möglichen Serieneinsatz vorzubereiten. Der Vorsprung durch Technik soll im KCM also seine konkreteste Gestalt annehmen.
Audi Neuburg ist die Schnittstelle zur Audi Sport-Motorenentwicklung im Werk Neckarsulm. Dort konstruieren und montieren Audi-Ingenieure und -Techniker die Rennmotoren. Auf hochmodernen Motorenprüfständen in Neuburg erprobt Audi die Aggregate nahezu unter Realbedingungen. Die Inbetriebnahme der Rennwagen findet unter anderem auf der 3,4 Kilometer langen Strecke in Neuburg statt.
Der moderne, insgesamt 300 Meter lange und 100 Meter breite Gebäudekomplex umfasst vier Gebäudeteile: eine Werkstatt, ein Prüfstandgebäude und eine Logistik-Halle mit 10 000 Quadratmeter Lagerfläche sowie das repräsentative Hauptgebäude mit den Entwicklungsbüros. Die multifunktional nutzbaren Gebäude sind nach dem Prinzip der kurzen Wege angelegt: Die Entwicklungsbüros der Ingenieure befinden sich in der Nähe der Werkstätten der Mechaniker auf derselben Etage. Streckennahe Werkstätten wie Abstartraum und Tankprüfraum liegen im Erdgeschoss mit direktem Streckenzugang. Die Lager- und Logistikbereiche ermöglichen ein effizientes Handling der Rennfahrzeuge und der gesamten Teileversorgung. Alle Gebäudeabschnitte sind durch Übergänge miteinander verbunden. Insgesamt wurden für den Stahlbetonskelettbau 15 000 Kubikmeter Beton und 1800 Tonnen Betonstahl verbaut.
Das Audi Driving Experience Center in Neuburg wird vielfältige Fahr- und Sicherheitstrainings durchführen. Hierfür stehen unter anderem eine 30 000 Quadratmeter große Dynamikfläche, eine 2,2 Kilometer lange Handlingstrecke sowie ein Off-Road-Parcours zur Verfügung. Ein Highlight ist dabei der acht Meter hohe Steigungshügel. Außerdem bietet das zentrale Kunden-Center mit eigener Gastronomie künftig Räumlichkeiten für Veranstaltungen. Audi Sport organisiert und koordiniert ab Ende Oktober 2014 von Neuburg aus die Werkaktivitäten für die weltweiten Renneinsätze der DTM und der World Endurance Championship (WEC) mit den legendären 24-Stunden-Rennen von Le Mans – insgesamt etwa 20 Rennen in zwölf Ländern pro Jahr. Bis Frühjahr 2015 zieht auch Audi Sport customer racing auf das Gelände in Neuburg. Das Team entwickelt und vermarktet den Audi R8 LMS ultra und betreut von hier aus das umfangreiche Kundensport-Engagement im GT Sport.
Zu den Planungsgrundsätzen für schlanke Logistikprozesse gehörten vorab eine sorgfältige Ist-Aufnahme und Bewertung der Ist-Prozesse im Audi-Werks- und Kunden-Sport mit den operativen Mitarbeitern. Ziel war, mögliches Verbesserungspotenzial zu identifizieren und dauerhaft zu erschließen. Allerdings stellt der Transformationsprozess an alle Beteiligten, also auch die operativen Mitarbeiter, erhöhte Anforderungen. So arbeiten nicht wenige mit ihrem teilweise über Jahrzehnte erworbenen Erfahrungswissen. „Es gibt altgediente Logistikexperten, die Benzin im Blut haben. Die Mitarbeiter kennen nicht nur den gesamten Rennkalender bis 2022 auswendig, sondern wissen auch genau, welche Teile sie brauchen werden – besser als jedes ERP-System“, bringt es Dr. Jürgen Grinninger, Vorstandsvorsitzender, BLSG AG, der den Transformationsprozess beratend begleitet, auf den Punkt. Dieses Prozesswissen basiert aber auf der bisherigen Infrastruktur in den bestehenden Gebäuden. Eine davon losgelöste Herangehensweise und von geübten Abläufen völlig abweichende Neubetrachtung der Prozesse gestaltet sich daher mitunter schwierig. Dabei kann die Akzeptanz bereits an relativ einfachen Verständnisproblemen leiden. Das richtige Wording mit bildhaft-illustrierenden Begriffen wie „Postbote“ anstelle von eher abstrakten Logistik-Termini wie „Routenzug“ kann schon helfen. Als „Schlüssel zum Erfolg“ habe sich allerdings die Vermittlung einer für den Rennsport ganz typischen Siegermentalität erwiesen, so Grinninger. Für das „Gewinnen“ künftiger Rennen war eine entsprechende Veränderung der Logistikprozesse erforderlich.
Eine weitere Überlegung in der Tradition bewährter Lean-Methoden war die gemeinsame und damit effizientere Nutzung von Ressourcen und Flächen durch den Werks- und Kundensport. So lassen sich Synergien nutzen und gleichartige Logistikprozesse verknüpfen und damit insgesamt verschlanken. Entsprechend sind Vereinheitlichungen und Reduzierungen bei der Art und Anzahl von Behältern und Lagerequipment für die rund 24 000 Teilenummern möglich. Die Lösung liegt hier in standardisierten, aber flexiblen, fünf Kleinladungsträgern und Fachbodenregalen mit nur zwei verschiedenen Fachbodentiefen. Bei den vier Großladungsträgern ist neu ein GLT-Regal vorgesehen, hinzu kommen modulare Regale für beispielsweise besonders lange oder sperrige Sonderteile.
Zu den Erfolgsfaktoren der schlanken Logistik für die Rennfahrzeuge zählen schnelle und vor allem flexible Logistikprozesse mit klar definierten Zuständig- und Verantwortlichkeiten. Die Trennung von Fahrzeugbau und Logistik zählt dazu. In der Teileversorgung setzt das Unternehmen auf schnelle und flexible zentrale Prozesse. Anstelle der Selbstabholung wird ein Routenzugverkehr implementiert. Dieser übernimmt Transport und Versorgung über die einzelnen Stationen vom Wareneingang über die Qualitätssicherung, über das Lager und die Kommissionierung bis zu Vormontagen und Fahrzeugbau. Die letzte Etappe endet am Warenausgang. In der Teileverfolgung kommen mobile Geräte wie Scanner und Tablet-PCs zum Einsatz. An den Übergabepunkten sind Informationsanzeigen installiert.
Um die Prozesse effizient zu organisieren und operativ zu steuern, wird ein Material- und Auftragsmanagement als „Zentrales Nervensystem“, so Grinninger, eingeführt. In einem Leitstand fließen künftig alle Informationen zusammen. Ein Auftragsabwicklungssystem steuert die Teileabrufe beim Lieferanten über die Disposition und die Transportaufträge für die Routenzüge. Es kommuniziert mit der Lagerverwaltung und erteilt Produktionsaufträge für die Vormontage.
Bis zum Abschluss der Implementierungsphase für die neuen Logistikprozesse im kommenden Frühjahr setzen die Verantwortlichen bei Audi Sport vor allem auf ihr eingespieltes und effizientes Team. Daher ist ein kontinuierliches Change Management durch die Integration der Mitarbeiter in alle Projektphasen ein wichtiger Erfolgsfaktor im Projektverlauf aber auch darüber hinaus.
Wichtige Instrumente sind hier eine 3-D-Qualifizierung mit den Kernelementen Prozess/Organisation, IT sowie Hardware. Weiterhin gehören ein Anlauf-Support und Coaching on the job durch Process-Key-Player zum Instrumentenkasten. Ziel ist, Qualifizierung und Coaching zur langfristigen Verankerung von Wissen zu nutzen.
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