Für die deutsche und europäische Industrie haben sich die geo-, geld- und ökopolitischen Rahmenbedingungen massiv verschoben. Preissteigerungen, Lieferengpässe, steigende Zinsen sowie ökologisch-soziale Anforderungen an die Lieferketten begleiten den Alltag des Einkaufs. Lieferwege umgestalten, diversifizieren und verkürzen sind Antworten auf diese Herausforderungen.
Umso wichtiger ist der Blick in die Zukunft und die Frage: Quo vadis Einkauf 2030?
- Wie kann die Beschaffung den Strukturwandel zu einer resilienten, nachhaltigen Wertschöpfung vorantreiben und begleiten?
- Welche Grundannahmen müssen Unternehmen hierfür in Frage stellen, welche neu interpretieren?
- Welche Rolle kommt dem Management, welche den Mitarbeitenden, welche der Einkaufsorganisation zu?
- Wie funktioniert das alles vor dem Hintergrund eines sich weiter verschärfenden Fachkräftemangels?
Kosten, Qualität, Zeit – das war über Jahrzehnte das magische Dreieck, innerhalb dessen der Einkauf seine Entscheidungen für oder gegen Lieferanten und Beschaffungsmärkte traf. Nun wird aus dem Dreieck ein Sechseck. Zu Kosten, Qualität und Zeit kommen Resilienz, Nachhaltigkeit und Innovation. Die deutlich höhere Komplexität zu managen, ist die Aufgabe des Einkaufs in den kommenden Jahren.
Kosten anders beurteilen
„Best Cost Country“ oder „Global Sourcing“ waren die Schlagworte, die den Einkauf als Organisierenden der externen Wertschöpfung groß gemacht haben. Dass in globalen Lieferketten der günstige Materialpreis nur ein kleiner Teil der Wahrheit ist, zeigen TCO-Betrachtungen, die die Gesamtbetriebskosten und gesamtunternehmerischen Wagnisse einkalkulieren. Über die Nachhaltigkeit kommen die externalisierten Kosten hinzu. Sie werden über Lebenszyklusanalysen ermittelt, die ein erweitertes Knowhow, (oftmals) externe Hilfe und eine gute Datenlage brauchen. Auch Resilienz erfordert eine neue Bewertung der Gesamtkosten und Risiken, die eine ausgelagerte Wertschöpfung mit sich bringt. Viele Krisenentscheidungen, wie jene die Lieferketten zu verkürzen oder zu diversifizieren, wären unter reinen Materialkosten-Gesichtspunkten anders getroffen worden.
Aktuell steht die Preisstabilität ganz oben auf der Agenda des Einkaufs. Das Ziel: Beschaffung wieder planbar zu machen und die Materialkosten zumindest in Teilbereichen zu senken. Das taktisch-operative Problem kurz- bis mittelfristig zu lösen ist entscheidend, um die Transformation zu bewältigen. Die Grundlage liefern angepasste Warengruppenstrategien, die spätestens 2023 implementiert werden müssen. Insofern bleibt die Kostenstabilität ein wichtiger strategischer Aspekt in der einkäuferischen Arbeit.
Innovation endlich integrieren
Die Qualität wird wie der Preis und die Lieferfähigkeit selbstverständlich in Ausschreibungen berücksichtigt. Inwieweit es Unternehmen darüber hinaus gelingt, externe Technologien in ihre Wertschöpfung zu integrieren, hängt an der Innovationsfähigkeit der Lieferantenbasis. Wer über Marktkenntnis, Technologiescouts oder KI-Unterstützung im Sourcing-Prozess gut aufgestellt ist, hat deutliche Wettbewerbsvorteile. Der moderne Einkauf agiert crossfunktional und sitzt als Schnittstelle zum Markt bei Innovationsentscheidungen von Stunde eins mit am Tisch. Neben einem standardisierten Prozess braucht der Einkauf hierfür Kapazität und das entsprechende Know-how.
Klima und Umwelt mitdenken
An den gestiegenen Logistikkosten, der Verteuerung fossiler Energien (etwa gegenüber eigenerzeugtem Ökostrom) und an der CO2-Bepreisung zeigt sich, dass sich die Grundannahme „nachhaltig = teurer“ verändert und nachhaltiges Wirtschaften zum Business Case wird. Ein gutes Beispiel ist die Ökodesign-Richtlinie der EU, die auf reparierbare und recyclebare Produkte abzielt. Hieraus lassen sich neue Geschäftsmodelle (Reparaturservices, Modulbauweise und Kreislaufwirtschaft) entwickeln, die in der Produktentstehung direkt mitgedacht werden müssen.
Mehr Verantwortung, großer Hebel
Bis 2030 haben sich zahlreiche Unternehmen vorgenommen, ihre Scope 3-Emissionen um 50 Prozent zu senken. Das ist anspruchsvoll, aber machbar. Denn die Beschaffung kann auf den Märkten sehr viel bewegen. Allein das Einkaufsvolumen der 9750 Unternehmen, die Mitglied im BME sind, beträgt 1,25 Billionen Euro und damit knapp ein Drittel des deutschen BIP. Diese Marktmacht gilt es einzusetzen. Im bisher geltenden Dreieck „Kosten, Qualität, Zeit“ hat die Beschaffung gezeigt, dass sie Lieferketten anhand von Kennzahlen erfolgreich transformieren kann. Dass dies genauso für Resilienz, Nachhaltigkeit und Innovation möglich ist, dessen sind sich viele Einkäuferinnen und Einkäufer im Mittelstand noch nicht bewusst. Der Einkauf als Funktion hat einen wesentlichen Einfluss auf die nachhaltige Transformation der Gesellschaft. Diese Verantwortung sollten Einkäuferinnen und Einkäufer wahrnehmen.
Green Procurement als neuer Standard
Viele Einkaufsorganisationen gehen erste Schritte im Nachhaltigkeitsmanagement. Wie Nachhaltigkeit als Ziel in den Einkaufsprozessen verankert werden kann, haben wir in Beschaffung Aktuell in mehreren Beiträgen beschrieben. Am Anfang steht das systematische Warengruppenmanagement, kombiniert mit einer Wesentlichkeitsanalyse, um die richtigen Hebel für die Warengruppen zu erkennen. Im nächsten Schritt werden die für die Warengruppen entwickelten Ziele im Rahmen des Lieferantenmanagements umgesetzt und Nachhaltigkeit konsequent in die Ausschreibungs- und Vergabeprozesse integriert.
Steile Lernkurve für die Beschaffung
Klar ist jedoch auch: Der Einkauf wird auf diesem Weg eine steile Lernkurve durchlaufen müssen. Aktuell geht es erst einmal um die Datenerhebung des nachhaltigen Status Quo bzw. um die passenden Dashboards, über die sich die Ist-Situation beurteilen und mit dem Soll abgleichen lässt.
Die Interpretation der Daten erfordert Marktkenntnis und Knowhow, das sich Einkäuferinnen und Einkäufer aneignen müssen. Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz liefert seit diesem Jahr einen Vorgeschmack und eine gute Übungsplattform dafür, was in Bezug auf soziale und ökologische Aspekte in den Lieferketten auf den Einkauf zukommt. Gleichzeitig sind die Anforderungen des LKSG nur umzusetzen, wenn diese in die Beschaffungsabläufe integriert bzw. jene um die entsprechenden Themen erweitert werden.
Andere Rollen, neue Arbeitspakete
Damit die Mitarbeitenden das Aufgabenpaket stemmen können, sollten sich Unternehmen vom Bild des „Einheitseinkäufers“ verabschieden, die Aufgaben clustern (in Harmonie/Abstimmung/Einklang mit den Soll-Prozessen), die Pakete verteilen und in neue Rollen überführen. Diese konsequente Spezialisierung oder Fokussierung, die andere Bereiche längst durchlaufen haben, steht im mittelständischen Einkauf noch aus. Dazu gehören die Zusammenarbeit in funktionsübergreifenden Teams und flache Hierarchien. Auch der strategische Einkauf wird arbeitsteiliger: Strategische Einkäuferinnen und Einkäufer bleiben nicht die Generalistinnen für alle mit dem Prozess verbundenen Aufgaben, sondern werden zu Product Ownern und Expertinnen für Teilprozesse.
Einkauf als Öko-Gatekeeper
Der Hebel, den der Einkauf für eine zukunftsfähige Wertschöpfung hat, ist gleichzeitig seine Chance Nachwuchskräfte für die Beschaffung zu begeistern. Nachhaltigkeit ist das Zukunftsthema der jungen Generation und der Einkauf sitzt in unserer arbeitsteiligen Industriegesellschaft an der zentralen Schnittstelle für die notwendigen Veränderungen.
Einkäufer und Einkäuferinnen sind in den Lieferketten die Gatekeeper für Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Dafür müssen sie sich nicht auf Autobahnen kleben, sich aber engagiert in die Eingangstore der Unternehmen stellen, externe Angebote und Partner auf Nachhaltigkeit sondieren, sich für ein konsequentes Nachhaltigkeitsmanagement im eigenen Unternehmen stark machen und auf die Vorteile der Transparenz immer wieder hinweisen.
Attraktiv für qualifizierte Fachkräfte
Unternehmen, die vorleben, wieviel Macht der Einkauf in Sachen Nachhaltigkeit hat, werden keine Probleme haben, Stellen im Einkauf zu besetzen. Im Gegenteil: Der Einfluss, den Einkäuferinnen und Einkäufer in ihrer Rolle haben, ist deutlich größer als jener, den sie als Einzelperson und private Konsumentinnen und Konsumenten auf die nachhaltige Transformation der Gesellschaft jemals haben könnten. Und genau das gilt es jungen Fachkräften zu vermitteln.