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Process Mining in der Beschaffung

Methoden in der Beschaffung
Process Mining: Hype oder Allheilmittel?

Process Mining: Hype oder Allheilmittel?
Process Mining beschäftigt sich mit der Untersuchung, Verbesserung und Überwachung von Geschäftsprozessen anhand von digitalen Daten, um ein genaues Bild aller Prozesse im Unternehmen zu erhalten. Das Ziel besteht darin, Aufgaben effizient und wiederholbar abzuwickeln. Hält es auch, was es verspricht? Bild: Picture Office/stock.adobe.com
Der Begriff des „Process Mining” grassiert wie ein Buzzword in den Einkaufsabteilungen. Als Booster für Agilität, Promoter für resilientere Strukturen oder als Optimierer für die Schaffung von Lieferketten einer nächsten Generation. Doch was steckt dahinter und inwieweit kann Process Mining beim Aufbau widerstandsfähiger Lieferketten tatsächlich helfen?

Im aktuellen Diskurs dominiert das Bild, dass Process Mining als universelle Lösung für die verschiedensten und unterschiedlichsten Probleme fungieren kann. Gerade Softwareanbieter und Unternehmensberater skizzieren ein rosarotes Bild vom Process Mining. Wir geben exklusive Einblicke in unsere Untersuchung am Fallbeispiel eines süßwarenherstellenden Unternehmens, in der wir unter anderem diesen zuvor genannten Fragen nachgegangen sind.

Stresstest für Lieferketten

Die Appelle von unterschiedlichen Seiten nach widerstandsfähigeren und anpassbareren Strukturen in den Wertschöpfungsketten nehmen zu. So fordern bspw. das Weltwirtschaftsforum, die OECD und die G7-Staaten die Unternehmen eindringlich auf, die Lieferketten grundlegend umzugestalten, um aktuelle und künftige Herausforderungen besser bewerkstelligen zu können.

Um diesen Forderungen aus Politik und Gesellschaft nachgehen zu können, sind die zum Teil komplexen und international verflochtenen Lieferketten, zu durchdringen, zu verstehen und zu verbessern. In diesem Kontext der Auseinandersetzung mit den Aktivitäten und Prozessen innerhalb der Lieferketten, bildet das Process Mining den de-facto-Standard für solche Arten von Analysen.

Röntgenbrille für Lieferketten?

Der Begriff des Process Mining stellt eine Komposition aus den Einzelbegriffen des (Business) Process Management und Data Mining dar. Dabei nutzt das Process Mining, auch Workflow Mining oder Controlflow Mining genannt, die digitalen Spuren, die bei der Ausführung von Tätigkeiten in Informationssystemen entstehen. Diese Informationen, welche als Event Log bzw. Ereignisprotokolle bezeichnet werden, stellen einzelne Handlungen in einem Prozess dar, wie zum Beispiel Bestellung anlegen, Bestellung an Lieferant versenden oder Wareneingang in der Bestellung buchen (inklusive Zeitbezug). Im Gegensatz zum begriffsähnlichen Task Mining, das auf die Darstellung einzelner Handlungen abzielt, forciert sich das Process Mining auf die durchgängige und vollständige Abbildung von Prozessabläufen. Hierfür greift das Process Mining auf die Vorgehensweisen, Überlegungen und Techniken des Data Mining zurück, um Strukturen, Muster, Zusammenhänge und Auffälligkeiten zu entdecken, zu visualisieren sowie zu analysieren. Damit verbindet das Process Mining die Prozess-, Informations- und Datenwissenschaften miteinander, wodurch es das bisher verborgene (oder nur schwer erreichbare) Wissen erschließen kann. Demnach fungiert das Process Mining als eine Art Röntgenbrille, mit der die Lieferketten durchleuchtet und durchdrungen werden können.

Die Durchleuchtung mithilfe des Process Mining, ermöglicht wiederum einen Lieferketten-Check-up. Indem die realen Prozesse entdeckt, überwacht und (vorausschauend) verbessert werden können, zeigt es Ansatzpunkte zum Aufbau und zur Neugestaltung widerstandsfähigerer Strukturen auf.

Check-up für Lieferketten

1. Entdecken: Auf Basis der Ereignisprotokolle werden die tatsächlichen Prozessabläufe dargestellt und visualisiert. Hierzu werden die Protokolle über die einzelnen Tätigkeiten chronologisch, gemäß ihres Zeitbezugs, angeordnet. Auf diese Art und Weise können Haupt- und Nebenpfade des Prozesses aufgezeigt werden, wobei letztere eine Variation des Prozessablaufes darstellen.

2. Überwachen: Durch die Möglichkeit, die tatsächlichen Prozessabläufe und -variationen zu entdecken, können Vergleiche und Prüfungen zum ursprünglich gedachten oder vereinbarten Prozessablauf durchgeführt werden. Dadurch kann festgestellt werden, wie viele tatsächliche Prozessausführungen dem Idealablauf entsprechen und an welchen Stellen abgewichen wird.

3. Verbessern: Auf Basis der Darstellung der tatsächlichen Abläufe und der Möglichkeit diese Abläufe dem Idealprozess gegenüberzustellen, können Ursachen für Abweichungen bzw. Variationen untersucht, bemessen und beurteilt werden.

4. Vorausschauend verbessern: Im Gegensatz zum Verbessern, dass wesentlich die Ursachenanalyse in den Mittelpunkt stellt, fokussiert sich die vorausschauende Verbesserung auf die Simulation von Einflüssen auf den Prozessablauf. So kann beispielsweise die Anordnung von Tätigkeiten, auf Basis ihrer Ereignisprotokolle, verändert und deren Auswirkungen beurteilt werden.

Check-up setzt Body-Fit voraus

Um den Check-up durchführen zu können, gilt es ein gewisses Body-Fit der zu untersuchenden Lieferketten sicherzustellen:

  • Die Tätigkeiten in den (Teil-)Prozessabläufen in der Lieferkette werden systemgestützt durchgeführt.
  • Es besteht ein Zugriff auf die korrekten und richtigen Daten, welche die ausgeführten Tätigkeiten in der Lieferkette dokumentieren.
  • Die Daten, auf die Zugriff besteht, beinhalten einen Zeitstempel und können einer Tätigkeit zugewiesen werden.

Da das Body-Fit als hinreichende Bedingung zur Anwendung und Nutzung des Process Mining angesehen werden kann, ergeben sich hieraus drei grundlegende Herausforderungen:

1. Es werden verschiedene Systeme und/oder Anwendungen genutzt.

2. Es besteht kein Datenzugriff.

3. Es können die verfügbaren Daten nicht „gelesen“, „zusammengeführt“ oder „verstanden“ werden.

Insgesamt reduziert das notwendige Body-Fit die (Teil-)Prozessabläufe, für die eine Untersuchung mithilfe des Process Mining möglich ist. Grundsätzlich eignen sich besonders die Prozessabläufe, die über eine hohe Systemunterstützung und Wiederholungsrate verfügen, wie zum Beispiel Bestell-, Zahl- und Reklamationsprozesse.

Auch wenn das Process Mining als Allheilmittel angepriesen wird, zeigt besonders das notwendige Body-Fit eine deutliche Schwäche auf: Datenverfügbarkeit, -richtigkeit und -vollständigkeit. So kennzeichnen sich Lieferketten in der Regel dadurch, dass mehrere Unternehmen gemeinsam an der Leistungserstellung eines Erzeugnisses beteiligt sind. In der Realität nutzen die Unternehmen unterschiedliche Systeme, -ausgestaltungen und -intensitäten bei der Ausführung ihrer jeweiligen Tätigkeiten. Folglich stellt bereits der grenz- bzw. intraorganisationale Charakter einer Lieferkette eine Hürde für die Anwendung des Process Mining dar. Auch die Fähigkeit zum Lesen und Auswerten der Ereignisprotokolle wird als eine zusätzliche Hürde angesehen. So erfordert die Anwendung der Techniken des Data Mining einerseits die Fähigkeit zur Abstraktion komplexer Prozessabläufe und andererseits das Verständnis von, mit, und über mathematisch-statistischen Methoden.

Diagnose: Potenziale und Hürden

Sofern diese Hürden jedoch überwunden werden, bietet die Entdeckung der tatsächlichen Strukturen und die Überwachung des idealen Prozessablaufs das Potenzial, etwaige Unterschiede in den Prozessausführungen festzustellen, die wiederum eine Harmonisierung bis Standardisierung des Prozesses über mehrere beteiligten Unternehmen ermöglicht. Im Hinblick auf die Steigerung der Widerstandsfähigkeit, kann die Möglichkeit zur Simulation von Änderungen als ein weiteres Potenzial angesehen werden. Gerade die Berücksichtigung unterschiedlicher Einflüsse sowie die Darstellung und Messung etwaiger Auswirkungen auf den Prozessablauf, ermöglichen alternative Strukturen und Prozessvariationen zu entwickeln. Somit können künstliche Stresstests mit den Lieferketten durchgeführt werden, die eine Beurteilung der Widerstandsfähigkeit je Situationsentwicklung möglich machen.

Process Mining als ein Heilmittel

Das Process Mining kann als ein Heilmittel zur Schaffung widerstandsfähiger Lieferketten angesehen werden. Da es auf bestehende Prozessstrukturen aufbaut, empfiehlt sich vorbereitend die Einführung und Anwendung eher traditionellerer Ansätze, wie zum Beispiel Six Sigma, Lean Management oder Business Process Reengineering. Hierdurch kann Praxis- und Prozess-Know-how aufgebaut werden, was wiederum die effektive Nutzung des Process Mining unterstützt. Ebenfalls empfiehlt sich zunächst einkaufsinterne Teilprozesse einer Lieferkette zu analysieren, um das gewisse Body-Fit sicherzustellen. Auch ermöglicht es erste Erfahrungen im Umgang mit einer prozessualen Datenanalyse zu sammeln.


Process-Mining

Der aktuelle Diskurs zeigt, dass die meisten Lieferketten ihre Anforderungen nicht erfüllen. Daher gilt es zu verstehen, wie die Lieferketten als Ganzes funktionieren – mit all ihren Prozessen, Akteuren und Besonderheiten. Eine Möglichkeit bietet das Process Mining, dass die „digitalen Spuren“ in den verwendeten IT-Systemen nutzt, um die Lieferketten mit einer Art „Röntgenbrille“ zu analysieren und zu verbessern.


Gewinnerin des BME Science Award (master)

In der Kategorie „Master FH“ gewann Christine Freye von der FOM Hochschule für Oekonomie & Management, mit ihrer Arbeit zum Thema „Bewertung der Anwendung des Process Mining im Lieferantenkettenmanagement: Eine empirische Untersuchung am Fallbeispiel eines Süßwarenherstellers“.

Sie wurde im März beim 16. Wissenschaftlichen Symposium „Supply Management“ des BME an Universität Mannheim ausgezeichnet. Die Vorträge der Veranstaltung werden in einem Tagungsband veröffentlicht (Erscheinungstermin: Sommer 2023).


Christine Freye

Business- & Process Analyst im Einkauf eines süßwarenherstellenden Unternehmens; Doktorandin im Bereich der industriellen Beschaffung


Prof. Dr. Mahmut Arica

Professur für allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing und Vertrieb an der FOM Hochschule für Ökonomie & Management, Münster

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