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Psychische Gesundheit als Management-Aufgabe

Fehlzeiten belasten Betriebe
Psychische Gesundheit als Management-Aufgabe

Psychische Gesundheit als Management-Aufgabe
RA Dr. Carsten Schucht von der Augsburger „Produktkanzlei“. Bild: Produktkanzlei
Firmen im Artikel
Beim betrieblichen Arbeitsschutz wird häufig übersehen, welche Auswirkungen die Arbeit auf die Psyche der Mitarbeitenden hat. Dabei hat der Arbeitgeber die gesetzliche Pflicht, seine Belegschaft auch vor stressbedingten Belastungen zu schützen.

Im Jahr 2022 fielen bundesweit 130 Millionen Krankheitstage wegen psychischer Belastungen und Erkrankungen an, Tendenz steigend. Einen Spitzenplatz bei allen Ausfallzeiten, physisch und psychisch bedingt, nimmt die Logistik ein: Im Bereich Güterumschlag fehlt jeder Mitarbeitende im Durchschnitt 35 Tage pro Jahr (AOK-Fehlzeitenreport 2023). Den Unternehmen entstehen Kosten in Milliardenhöhe, die sich durch ein besseres betriebliches Gesundheitsmanagement deutlich reduzieren ließen.

Während die großen Firmen und Konzerne meist recht gut aufgestellt sind und den Kampf gegen Stress und psychische Belastungen immer mehr als ihre Aufgabe verstehen, stellt die Frage der mentalen Gesunderhaltung der Belegschaft insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) vor Probleme.

Gefährdungsbeurteilung

Dabei ist die Gesetzeslage eindeutig. „Psychische Belastungen werden im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) ausdrücklich als beachtliche Gefährdungen genannt, die grundsätzlich Gegenstand einer arbeitsschutzrechtlichen Gefährdungsbeurteilung sein sollen“, erläutert Rechtsanwalt Dr. Carsten Schucht von der Augsburger „Produktkanzlei“. Die Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG ist das zentrale Instrument im deutschen Arbeitsschutzrecht, der Arbeitgeber muss sie für jede Tätigkeit gesondert durchführen und dokumentieren. Stellt er typische psychische Gefährdungsfaktoren wie Über- oder Unterforderung, soziale Konflikte, Zeitdruck oder Nachtarbeit fest, muss er diese in die Gefährdungsbeurteilung aufnehmen und geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen.

Einbeziehen der Beschäftigten

Bei der Ermittlung der Ist-Situation im Unternehmen sind zunächst objektive Indizien für eine Belastungssituation der Mitarbeitenden zu beachten, etwa Qualitätsmängel, Fluktuation, Beschwerden, Fehlzeiten oder bestimmte Betriebskennzahlen. Die subjektive Sicht kann am besten der einzelne Arbeitnehmer schildern. „Um die psychische Belastung an bestimmten Arbeitsplätzen zu ermitteln und zu bewerten, bieten sich schriftliche Befragungen der Mitarbeiter an“, erklärt Dr. Anika Schulz-Dadaczynski von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in Dortmund und verweist auf Fragebögen, die teilweise branchenübergreifend, teilweise auch für spezifische Branchen konzipiert vorlägen.

Stressfaktoren

Für ein tieferes Verständnis von Art, Intensität und Dauer der psychischen Belastung und zur Identifizierung der Entstehungsfaktoren rät die Gesundheitsexpertin zu Interviews an ausgewählten Arbeitsplätzen oder zu Workshops als weitere Schritte. „In jedem Fall sollten die Beschäftigten – als Experten ihrer Arbeitstätigkeit – genauso wie die Führungskräfte in die Analyse der psychischen Belastung eingebunden werden.“

Gesunder Führungsstil

Die Schlüsselfaktoren der psychischen Belastung sind: Arbeitsintensität, Arbeitszeit, Handlungsspielräume und Führung. Logistische Prozesse wie Produktionsversorgung, Warenumschlag, Distribution und Verladung verlaufen heutzutage im Schichtbetrieb unter hohem Termin- und Leistungsdruck und bieten dem einzelnen Mitarbeitenden wenig Handlungsspielraum. Die Arbeitszeitverdichtung ist allgegenwärtig und die Digitalisierung verändert Art, Intensität und Dauer der Belastungsfaktoren nochmals. „Wenn vermehrt digitale Informationen empfangen und verarbeitet werden müssen – etwa E-Mails, Nachrichten über Apps, Datenbrillen oder Ähnliches –, dann können die für eine Tätigkeit zu berücksichtigenden Informationen zu umfangreich werden“, weiß Schulz-Dadaczynski. „Die Beschäftigten erleben dann eine Informationsüberflutung.“ Seien die Infos dann auch noch ungünstig dargeboten, lücken- oder fehlerhaft, verschärfe sich die Problematik. Doch Digitalisierung ist nicht per se schlecht für die Psyche. „Wenn etwa Beschäftigte durch Mensch-Maschine-Interaktionen von monotonen oder ergonomisch ungünstigen Tätigkeiten oder dem Umgang mit gefährlichen Stoffen entlastet werden, wirkt sich dies günstig auf die psychische Gesundheit aus“, so die Expertin für Arbeitsschutz.

Führungskräfte müssen darin geschult werden, belastete Mitarbeitende frühzeitig zu erkennen, mit ihnen in der richtigen Art und Weise Gesundheitsgespräche zu führen und insgesamt einen gesunden Führungsstil zu praktizieren. Wertschätzung, Respekt, Unterstützung und Fürsorge sind dabei Schlüsselfaktoren. Auch bei der erfolgreichen Ableitung, Auswahl und Umsetzung von Gegenmaßnahmen spielt das Einbinden der Beschäftigten eine wichtige Rolle. Wobei die Umsetzung immer auch als ein längerfristiger Prozess gesehen werden sollte. „Was heute nicht möglich ist oder Zeit braucht, sollte trotzdem für die Zukunft auf der Agenda bleiben“, rät Schulz-Dadaczynski und empfiehlt einen Mix aus schnell umsetzbaren und längerfristigen Maßnahmen.

Gegenmaßnahmen

Es versteht sich, dass die Maßnahmen höchst individuell auf Betrieb und Belegschaft zugeschnitten sein müssen. Dennoch gibt es Grundsätze, die übergeordnet gelten. Beim klassischen Stressfaktor „hohe Arbeitsintensität“ etwa ist es Aufgabe der Führungskraft, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der zu leistenden Arbeitsmenge, der erforderlichen Arbeitsqualität und der vorhandenen Arbeitszeit zu finden. Reibungslose Arbeitsabläufe ohne Störungen und Unterbrechungen, eine angemessene Personalausstattung und gegenseitige Vertretungs- und Unterstützungsmöglichkeiten sind Mittel, dies zu gewährleisten, ebenso eine realistische und gesundheitsverträgliche Leistungserwartung.

Die Arbeitszeit stresst dann am wenigsten, wenn sie vorhersehbar, planbar und in ihrer Dauer klar begrenzt ist. Es müssen ausreichend Pausen-, Ruhe- und Erholungszeiten zur Verfügung stehen und die Regeln dafür sollen klar und nachvollziehbar sein. Die Mitarbeitenden bei der Planung der Dienst- und Einsatzpläne einzubeziehen, fördert die Zufriedenheit, ebenso die Schaffung zeitlicher und sonstiger Handlungsspielräume, etwa durch eine freiere Einteilung und eine gemeinsame Priorisierung.

Auch wenn psychische Belastungsfaktoren laut Rechtsanwalt Schucht nur ein „Schattendasein“ in den Gefährdungsbeurteilungen führen – bei einem (womöglich stressbedingten) Arbeitsunfall oder auch aufgrund anonymer Hinweise können sie rasch Gegenstand einer intensiven Prüfung der Aufsichtsbehörde werden. „Nicht selten wird in solchen Situationen versucht, die Unterlagen nachträglich auf den erforderlichen Stand zu bringen und Umdatierungen vorzunehmen“, weiß Schucht. „Die Gefährdungsbeurteilung muss jedoch dezidiert vor dem Tätigwerden der Beschäftigten durchgeführt sein.“ Und die dort festgelegten Maßnahmen müssen im Betrieb auch tatsächlich umgesetzt werden, sonst wird von einem Verschulden des Arbeitgebers ausgegangen, wenn etwas passieren sollte.

Folgen

Doch nicht nur drohende Sanktionen sollten den Arbeitgeber dazu anhalten, sich um die mentale Gesundheit der Belegschaft zu kümmern. Auch wirtschaftliche Aspekte legen dies nahe, denn psychische Erkrankungen oder körperliche Erkrankungen mit psychischen Ursachen – etwa Rückenschmerzen – erfordern regelmäßig lange Genesungszeiten. Für ein Unternehmen mit 500 Mitarbeitern haben Fachleute den durch psychische Probleme verursachten Ausfall und Produktivitätsverlust errechnet: er liegt bei mehr als zwei Millionen Euro pro Jahr.


Die Autorin: Anja Falkenstein,

Rechtsanwältin, Karlsruhe


Recht im Einkauf

Die Serie „Rechtsprechung für die Beschaffung“ behandelt juristische Probleme rund um den Einkauf. Sie schafft ein Verständnis für den aktuellen Stand der Rechtsprechung, ersetzt aber nicht die anwaltliche Beratung im Einzelfall.


Serie Einkaufsrecht

RA Anja Falkenstein stellt aktuelle und einkaufsrelevante Rechtsthemen vor.

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