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Steuern im Schweinezyklus

Supply Chain Management
Steuern im Schweinezyklus

Mit seinem Projekt „One Besi“ hat der ambitionierte Ausrüster der Halbleiterindustrie nicht nur seine Supply Chains neu strukturiert. Mit verbesserter Transparenz operiert Besi auch schneller in hochvolatilen Märkten.

Als Ausrüster der Halbleiterindustrie unterliegt der niederländische Hersteller BE Semiconductor Industries N.V., kurz Besi, mit seinen Produktgruppen Datacon, Esec, Fico und Meco dem sehr zyklischen Geschäft dieser Hightech-Branche. In einigen Produktfeldern gehört Besi mit seinen drei Hauptstandorten im niederländischen Duiven, in Radfeld/Tirol sowie in Cham nahe Zürich zu den Weltmarktführern. Mit weltweit rund 1700 Mitarbeitern erzielte das Unternehmen im Jahr 2011 einen Umsatz von 320 Mio. Euro. Zum Portfolio gehören Maschinen, die Chips von einem Silizium-Wafer nehmen und auf das Substrat setzen. Pro Stunde werden bis zu 12.000 Chips mit einer Genauigkeit von bis zu 5 µm bestückt und teilweise in einem „Flip-Chip“-Prozess zusätzlich mit der entsprechenden Geschwindigkeit gedreht und mit der Logik nach unten auf das Substrat gesetzt. „Wichtig ist es, aufgrund der teilweise hohen Chip-Kosten den Ausschuss so gering wie möglich zu halten“, sagt Dr. Frank Stegherr, Vice President & Program Manager One Besi, Besi AG, Radfeld/Ö. Außerdem stellt Besi Molding-Maschinen für das Packaging her, um Chips vor äußeren Einflüssen wie Feuchtigkeit oder mechanischen Einwirkungen zu schützen. Dabei spielt die Bauhöhe eine besondere Rolle, da sie maßgeblich für die Miniaturisierung der Endgeräte ist. Eine andere Anforderung an den Hersteller: Bei Lufteinschlüssen besteht vor allem während des Lötprozesses das Risiko des sogenannten „Popcorn-Effekts“.

Als zusätzliche Herausforderung für die Ausrüster der Halbleiterindustrie kommt hinzu, dass sie Nachfrageerhöhungen erst in der Spätphase einer Aufwärtsbewegung am Halbleitermarkt spüren, also dann, wenn sich die Halbleiterhersteller zur Ausweitung ihrer Fertigungskapazitäten gezwungen sehen. Daher ist auch das Zeitfenster für Reaktionen in der gesamten Supply Chain bei einem Ausrüster wie Besi meist relativ kurz, bevor dann die nächste Abwärtsbewegung am Halbleitermarkt einsetzt. In diesem extrem schwankungsanfälligen Marktumfeld sind Nachfragerückgänge in einzelnen Quartalen von 50 Prozent, die viele Unternehmen in der weltweiten Krise der Jahre 2008/09 verzeichneten, nicht die Ausnahme, sondern gehören beinahe zum Alltag. Zu diesen Schwankungen in der kurzen Frist kommt der sogenannte „Schweinezyklus“ hinzu, also ein zeitverzögerter, aber dann massiver Produktionsaufbau, der schnell zu einem gewissen Überangebot und nachfolgendem Preisverfall führt. Die Herausforderung für das Unternehmen liegt also darin, sowohl den lang-, als auch den kurzfristigen Zyklen angemessen begegnen zu können. Und: Die heutige Besi-Gruppe ist in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten aus dem Zukauf einzelner Teile entstanden. Entsprechend heterogen waren nicht nur die Datengrundlagen und IT-Systeme sowie die zu steuernden Prozesse, sondern auch die Kundenstrukturen. Alles in allem, die IT-Komplexität war außergewöhnlich hoch und „kaum beherrschbar“, blickt Stegherr zurück. Eine weitere Klippe, die die Supply-Chain-Manager umschiffen müssen, ist die geografische Verteilung der über 250 Kunden, die zu einem großen Teil in Asien angesiedelt sind, also weitab von den europäischen Hauptstandorten von Besi. Daher drängte sich für das Unternehmen eine gründliche Neuaufstellung fast auf, die sowohl die Ausrichtung der Prozesse als auch die Umstellung auf ein durchgängiges System umfassen sollte. Kernpunkte des Projektes „One Besi“ waren demnach einheitliche Prozesse weltweit, eine Informationsquelle und ein standardisiertes Bündel an Tools. Im Fokus standen alle vier wesentlichen Schritte der Wertschöpfungskette, von der Produktentwicklung über die Markterschließung und den Absatz bis zum After-Sales-Geschäft.
Den ersten Schritt ging das Unternehmen ohne einen „Big Bang“. Auch auf eine detaillierte Skizze eines vermeintlich idealen Fernziels wurde verzichtet. „Es ging zunächst darum, da, wo es richtig knirscht und weh tut, harmonisierte Prozesse zu bekommen“, erläutert Frank Stegherr die Marschroute. Allerdings sollte nicht alles über einen Kamm geschoren, sondern möglichst harmonisiert werden. Nicht alle sollten gleich arbeiten, sondern möglichst identisch. Der Startschuss fiel an den drei Standorten Schweiz, Österreich und Singapur, die zu diesem Zeitpunkt bereits über SAP verfügten. Ein Template wurde ausgearbeitet und dann im Jahr 2011 nach Malaysia weiter ausgerollt. Dabei konnte das Unternehmen auf funktionierende Tools in den Geschäftsbereichen Datacon und Esec zurückgreifen. Beim Rollout in Malaysia ergab sich allerdings das Problem, die unterschiedliche Ausrichtung der Produktion, hier eine Volumenfertigung, in Österreich eher das Customizing, in ein funktionierendes System zu überführen. „Wichtig war, gleich am Anfang klarzumachen, dass wir nicht das gesamte System in Frage stellen, das funktioniert, sondern da, wo berechtigte Interessen und Zweifel bestehen und Verbesserungen möglich sind, weiter zu optimieren“, betont Stegherr. Dagegen wäre der Versuch, verschiedene ERP-Systeme in ein Tool zu integrieren, im Hinblick auf die Harmonisierung von Stammdaten, Kundennummern und Warengruppen sehr viel schwieriger zu realisieren. Zudem ging es nicht darum, für alle Produktbereiche den Beschaffungsprozess komplett zu vereinheitlichen, sondern vielmehr innerhalb der einzelnen Sparten.
Der zweite Schritt sollte sich dann ungleich leichter gehen, wenn Sicherheit darüber besteht, was weiter optimiert werden kann und wie die spezifischen Bedürfnisse der einzelnen Standorte noch besser berücksichtigt werden können. Inzwischen verfügt Besi über ein System mit einheitlichen Kundendaten. Hier zeigt sich der grundlegende Vorteil dieses Konzeptes, nicht auf eine heterogene Struktur etwas aufzubauen, was die Daten dann konsolidieren soll, sondern zunächst die Basis zu harmonisieren und weitere Schritte folgen zu lassen. Inzwischen, freut sich Frank Stegherr, zeigen sich auch andere Standorte dem neuen System gegenüber aufgeschlossen, die bisher auf ein eigenes leidlich funktionierendes System vertrauen konnten, aber jetzt die Vorteile in der Datentransparenz im Austausch mit den asiatischen Standorten klar erkennen können. Mittlerweile ist die Basis dafür geschaffen, transparent mit den Standorten kommunizieren, den Status quo früher erkennen und auf Bedarfsschwankungen besser vorbereitet reagieren zu können. So kann in der Planung bereits schneller erkannt werden, ob die Bestellungen ausreichen, um den Bedarf befriedigen zu können.
Um diesen Status quo durch „One Besi“ zu erreichen, waren allerdings für die Produktion zwei grundlegende Entscheidungen wichtig: Zunächst die klare Trennung der verschiedenen Supply Chains. Liefen bisher das Standardgeschäft und das Geschäft mit kundenspezifischen Lösungen in einem einheitlichen Prozess ab, wurden mit „One Besi“ beide Bereiche klar voneinander getrennt. Während das Standardgeschäft auf Geschwindigkeit und Kosten ausgerichtet wurde, also auf wettbewerbsfähige Preise und möglichst kurze Lieferzeiten, stehen bei den individuellen Lösungen stärker die Faktoren Innovation und Flexibilität im Vordergrund. Des Weiteren wurde die Supply Chain klar strukturiert. Von der früheren Beschaffung auf Einzelteilebene hat das Unternehmen inzwischen Abstand genommen. Stattdessen wurden drei Stufen implementiert: Zunächst ein Make-to-order-Prozess in der Endmontage. Hier wird nur nach Auftrag gefertigt. Der zweite Bereich umfasst die Modulmontage, die vor allem durch den Forecast-Prozess geregelt wird. Drittens kommt in einem weiteren Kanban-Loop die Einzelteilbeschaffung hinzu. Gerade hier zeigen sich, so Stegherr, die Vorteile des „One Besi“-Konzepts: Statt auf der Einzelteilebene zu beschaffen, geht das Unternehmen mehr und mehr zur Modul-Ebene über. Dabei helfen die gewonnene Transparenz und der Aufbau eines Portals für die weltweiten Bedarfe, das den Lieferanten zur Verfügung gestellt werden kann.
Um in der Forecast-Planung zu besseren Ergebnissen zu kommen, formulierte Besi unter dem Stichwort ‚One number planning‘ das Ziel, anstelle unterschiedlichster Planzahlen nur noch eine Zahl an alle Standorte zu kommunizieren. Zu diesem Prozess gehört auch ein sorgfältiges Monitoring, um Änderungen in der Planung frühzeitig auf den Grund zu gehen. Auch die Sales-Seite rückt stärker in die Verantwortung. Künftig sollen ungenutzte Geschäftspotenziale stärker auf unternehmensspezifische Unterlassungen geprüft werden, statt vorschnell die vorherrschenden Marktverhältnisse zu akzeptieren. Um die verschiedenen Ebenen wie Sales und SCM auf eine gemeinsame Basis zu stellen, bevorzugt Besi das Modell einer ‚neutralen Instanz‘: „Wir brauchen jemanden, der die Planung überwacht und alle Beteiligten zusammenführt“, erläutert Stegherr den Hintergrund. Diese Personalentscheidung bleibt aber in jedem Fall schwierig, da alle internen Mitarbeiter natürlich entsprechende Vorprägungen haben. Mithilfe dieser neutralen Moderation gelingt es immer besser, eigene Ressourcen und weltweite Bedarfe aufeinander abzustimmen sowie Problembereiche früher zu erkennen. In den begleitenden Meetings fallen dann auch gemeinsam getragene Entscheidungen über Extraschichten, Shipment-Kapazitäten oder Expresskosten.
Mit den ersten Ergebnissen zeigt sich der Program Manager zufrieden: „Wir schaffen es immer besser, durch die bereits erreichte Transparenz auch die Verantwortlichkeiten im S&OP-Prozess klar zu benennen“. Allerdings ist die Zustimmung zu dem Konzept des ‚One number planning‘ etwas ungleich verteilt: Während der Bereich SCM die Vorteile klar bejaht, ist das Urteil im Sales-Bereich gemischt. Beide Bereiche sehen den gesamten Planungsprozess jedoch vorwiegend weniger als eine Aufgabe der Logistik, sondern eher als Herausforderung des gesamten Unternehmens. Ein kritischer Punkt war jedoch die Herauslösung des Sales-Bereichs aus seiner Fokussierung auf Excel als Planungs-Tool und dessen Einbindung in den regelmäßigen Kommunikationsprozess mit monatlichen Pflichtterminen für die ‚Planning review meetings‘. Ein weiteres positives Resultat: Besi gelingt es immer besser, den ‚Bullwhip‘-Effekt zu begrenzen. „Schwankungen bleiben Schwankungen“, resümiert Dr. Frank Stegherr. „Wir bilden aber diese Schwankungen zielgenauer ab. Das macht am Ende auch den Lieferanten glücklicher.“ Für zusätzliche Glücksgefühle sorgen Rahmenverträge, die dem Lieferanten über verlässliche Planzahlen mehr Sicherheit für die eigene Kapazitätsplanung vermitteln.
Axel de Schmidt,
Logistikexperte bei
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