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Versorgungssicherheit trotz schwankender Nachfrage

Florian Heller, Senior Vice President Supply Chain Management, Deutz AG
Versorgungssicherheit trotz schwankender Nachfrage

Versorgungssicherheit trotz schwankender Nachfrage
Florian Heller ist seit September 2023 Senior Vice President Supply Chain Management & Logistics Operations bei der Deutz AG. Bild: Deutz
Der Motorenhersteller Deutz setzt auf flexible und integrierte Planungsprozesse und steigert damit weltweit die Materialverfügbarkeit und Lieferzuverlässigkeit. Florian Heller leitet das globale Supply Chain Management und erklärt, welche Rolle ein bis auf Top-Level-Ebene reichender S&OP für die Performance spielt.

Das Gespräch führte Annette Mühlberger.

Beschaffung aktuell: Herr Heller, Sie sind verantwortlich für das globale Supply Chain Management der Deutz AG. Wie gestalten Sie diesen umfassenden Prozess?

Florian Heller: Als Leiter SCM habe ich bei Deutz eine Ende-zu-Ende-Verantwortung. Sie beginnt beim Ordermanagement und den Kundenbedarfen. Aus diesen entwickeln wir im S&OP eine übergreifende globale Vertriebsplanung. Ausgehend von den Kundenbedarfen steuern wir das Bedarfskapazitäts- und Bedarfsliefermanagement sowie die interne Produktionsplanung. Weiterhin managen wir die Schnittstelle zur Lieferantenseite, sowohl kommerziell als auch operativ. Mein Team kümmert sich um Allokationen, managt Engpässe, und Reklamationen sowie die Lieferantenentwicklung. Wir steuern die globalen Logistik-Operations inklusive der Kundenauftragsabwicklung, die Packmaterialentwicklung inklusive des Kreislaufmanagements. Das heißt, wir steuern nicht nur zentral, wie Deutz weltweit beliefert werden möchte, sondern auch, wie der Informationsfluss dazu gestaltet wird.

Welche Standorte und Werke beliefern Sie?

Wir versorgen global zehn Standorte, außerdem unser weltweites Servicenetzwerk. Das sind Deutz eigene Servicecenter, Servicepartner aber auch sehr viele Händler, Werkstätten und mobile Servicepunkte.

Welchen Gestaltungsspielraum bietet Ihnen die übergreifende Verantwortung?

Ich kann überall dort, wo potenziell Zielkonflikte entstehen würden, Ziele bereichsübergreifend abstimmen und definieren. Wir können integriert planen – von der Materialplanung über die Auslastung in der Produktion bis zur Lieferung zum Kunden. Durch die Planungssteuerung und Zielsetzung im globalen Netzwerk nimmt das SCM maßgeblich Einfluss auf das Working Capital, den Free Cash Flow, die Produktionskosten, die Auslastung, die Produktivität und die Materialkostenstrukturen. SCM sollte als Werttreiber angelegt sein, im Zielsystem des Unternehmens zur nachhaltigen Wertsteigerung, um den Unternehmenserfolg zu unterstützen.

Wo liegt die Herausforderung der Funktion?

Ich nenne das den modernen Siebenkampf des SCM. Weil zu den früheren Zielen „Zeit, Kosten, Qualität“ weitere Ziele wie Nachhaltigkeit, Resilienz, Innovation und die Risiken und Unsicherheiten in den Liefernetzwerken hinzugekommen sind. Diese vielen Einflussfaktoren zu berücksichtigen, die richtigen Zielparameter zu setzen, macht es herausfordernd. Umso wichtiger ist es, dass sich die SCM-Strategie aus der Unternehmensstrategie und daraus die Gewichtsfaktoren für die Zielsetzung ableiten, um die Supply Chain im Sinne des Unternehmens auslegen und steuern zu können.

Wie wichtig ist die Unterstützung durch das Top-Management?

Die Rückendeckung des Vorstandes ist für ein erfolgreiches SCM entscheidend. Man kann aus Silos heraus kein Netzwerk führen. Man braucht das Mandat einzugreifen und die Funktionsbereiche zu koordinieren. Natürlich ist das nicht immer einfach und führt auch zu Diskussionen, da ja auch die Bereiche ihre individuellen Ziele haben. Den Konsens herbeizuführen ist die hohe Kunst des Supply Chain Managements.

Wie bewerten Sie die aktuelle Entwicklung auf den Beschaffungsmärkten?

Der Beschaffungsmarkt dreht sich in Teilen erneut vom Einkäufer- zum Anbietermarkt. Wir werden mit zum Teil immensen Preisforderungen konfrontiert, von Tier-1, aber auch Tier-2-Lieferanten. Ursache sind die gestiegenen Rohstoffpreise, aber auch die Logistikkosten. Die Schifffahrtsroute Asien-Europa führt aufgrund der Angriffe der Huthi-Rebellen jetzt um Afrika herum. In der Folge verlängern sich Lieferzeiten, die Container werden knapp ergo die Kosten steigen. Das beeinflusst uns genauso wie die Zulieferer. Parallel sehen wir, dass viele Mittelständler und Kleinlieferanten, die für uns und die Automobilindustrie strategische Bedeutung haben, aufgeben, weil sich das Geschäft für sie wirtschaftlich nicht mehr lohnt. Das betrifft auch herkömmliche Produkte und Herstellungsverfahren wie den Metallbau.

Welche Rolle spielt die ESG-Regulatorik?

ESG-Richtlinien wie das Lieferkettengesetz oder die CSRD beeinflussen uns genau wie jedes andere Produktionsunternehmen, das die Richtlinien gemeinsam mit seinen Lieferanten umsetzt. Kleine Mittelständler, ob als direkte oder indirekte Lieferanten, tun sich hier oftmals schwer.

Wie erhalten Sie sich die Daten von Ihren Zulieferern: Verschicken Sie seitenlange Fragenkataloge, führen Sie Gespräche, bieten Sie Hilfe an?

Wer die Marktmacht hat, verschickt Fragenkataloge und stellt Zulieferer vor die Wahl die Anforderungen zu erfüllen oder an Vergaben nicht mehr teilnehmen zu können. Sobald es wie in unserem Fall sehr oft um strategische Lieferanten geht, die Produkte für ein Unternehmen so individuell wie möglich produzieren, geht man einen anderen Weg und setzt sich gemeinsam an den Tisch.

Wie argumentieren Sie konkret?

Wir besprechen mit unseren Partnern, dass wir gewisse Informationen benötigen, dass gewisse Vorgaben erfüllt sein müssen und arbeiten gemeinsam an Lösungen, um die Transparenz herzustellen. Viele unserer Lieferanten beschäftigen sich wie wir schon länger mit den Anforderungen, sind vorbereitet und können unsere Fragen gut beantworten.

Aus welchen Regionen stammen Ihre Zulieferer?

Wir haben eine große Überschneidung mit der Automobilindustrie und deren Lieferanten. Das bedeutet: Etwas mehr als ein Drittel unserer Lieferanten kommt aus dem europäischen Ausland, sechs bis acht Prozent aus China – lokal für unsere chinesische Produktion – fünf bis sechs Prozent aus den USA, vier bis sechs Prozent aus Indien und der größte Anteil nach wie vor aus Deutschland.

Inwiefern beeinflusst der Technologiewandel das Liefernetzwerk von Deutz?

Unter dem Label Green Business baut Deutz ein Segment für alternative Antriebsformen, an das wir unsere Supply-Chain-Segmentierung anpassen. Die Lieferantenstruktur ist eine völlig andere, da wir es hier weniger mit dem typischen Automotive-Lieferanten zu tun haben, der sich auf die Zusammenarbeit mit großen Konzernen eingestellt hat. Hier geht es um neue, innovative Bauteile und wir treffen eher auf Start-up-Strukturen. Für die Unternehmen sind Anforderungen wie Auditierungen, ISO-Normen, Schnittstellen, Strukturen und Prozesse oft Neuland.

Wie gehen Sie mit diesen innovativen, aber gleichzeitig unerfahrenen Lieferanten um?

Wir versuchen zunächst ein Verständnis für ein Großunternehmen wie Deutz zu entwickeln. Man muss die Supplier unterstützen, mitnehmen und auch ein bisschen von herkömmlichen Strukturen abrücken und sich fragen, was davon in diesem Business notwendig ist. Ich kann heute nicht mehr – nach dem Motto „One fits all“ – eine Supply Chain über alle Businessfelder stülpen. Auch im Einkauf müssen wir uns segmentiert aufstellen, uns auf die Lieferanten einlassen und sie für die Zukunft befähigen. Auch die Kriterien für Sourcing-Entscheidungen müssen wir in diesem Segment anpassen.

Wie entwickelt sich die Nachfrage, wie entwickeln sich die Bedarfe?

Wir sehen sehr unterschiedliche Entwicklungen. Während Europa und Deutschland schwanken, nehmen die USA und China eine andere Entwicklung und sind weniger volatil. Dazu kommen Einflussfaktoren wie der technologische Wandel, Gesetzgebungen, politische Entwicklungen und Veränderungen in den Handelsstrukturen. Auch in unseren verschiedenen Businessfeldern Baumaschinen, Land- und Agrartechnik, stationäre Anlagen und Materialhandhabung sehen wir zum Teil unterschiedliche Entwicklungen. Deshalb gehen wir für unsere Prognosen sehr tief und individuell in die Bedarfsanalysen, in die Absatzmärkte und Vertriebskanäle.

Wie gut kennen Sie Ihre Lieferkette in der Tiefe?

Bei unseren direkten Zulieferern haben wir flächendeckend Transparenz, haben auch systemisch alle strategisch wichtigen Lieferanten an unser Bedarfskapazitäts- und Auslastungsmanagement angebunden, auditieren und bewerten die Firmen regelmäßig, auch finanziell. Unsere Tier-2 kennen wir partiell und haben sie, wenn möglich in Bezug auf das Risiko für unsere Lieferkette bewertet. Für diese Lieferstufe streben wir ebenfalls eine flächendeckende Transparenz in Bezug auf ihre Auslastung, Produktivität und Stabilität an.

Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um Lieferrisiken zu minimieren und zu verteilen?

Wir sehen eine drohende wirtschaftliche Entkopplung in den Weltmärkten, speziell für China und die USA. Die Auswirkungen dieser Entwicklung werden wir in den globalen Einkaufsnetzwerken spüren. Für ein unabhängiges und sicheres Produktionszuliefersystem haben wir deshalb eine Bewertung unserer Lieferantenstrukturen und intensive Marktrecherchen durchgeführt. Daraus leiten wir geopolitisch getriebene Dual- und Multi-Source-Initiativen ab. Gleichzeitig stehen wir mit unseren strategisch wichtigen Lieferanten in einem engen Austausch und haben auch unsere Lieferantenentwicklung angepasst.

Sie haben das Sales & Operations Planning für Deutz grundlegend verändert. Wie sieht der Prozess heute aus?

Der S&OP ist der entscheidende Prozess für Forecast, Planung und Steuerung unseres Netzwerks. Seit 2022 gibt es einen weltweiten Executive S&OP auf Board-Ebene. Davor sitzt ein Pre-S&OP für die Produktion, die wir gemäß dem abgestimmten Input planen. Wir haben einen vorgeschalteten S&OP für den Einkauf, in dem wir die Lieferantenkapazitäten und die Verfügbarkeit der Materialien abstimmen und einen weiteren Pre-S&OP, in dem wir die logistischen Kapazitäten, Lagerhaltung und Verfügbarkeiten prüfen, abstimmen, steuern. Über den Executive S&OP besprechen wir mit dem Board die Szenarien für die nächsten Monate gemäß der Kundenbedarfe. Der Prozess läuft global, bereichsübergreifend und sehr diszipliniert in Bezug auf Teilnahme und Daten. Wir bauen im monatlichen Zyklus verschiedene Szenarien auf und entscheiden auf Board-Level, wie wir unser Netzwerk steuern.

Hat sich der Forecast durch die Umgestaltung des S&OP verbessert?

Wir haben einen starken Prozess etabliert, hinter dem sich eine hohe Komplexität verbirgt. Was der Genauigkeit hilft, sind die vielen regelmäßigen Überarbeitungen, weil wir dadurch näher am Markt sind und mit realistischen Zahlen planen können. Wir beliefern ja nicht nur OEMs, sondern auch viele Händler mit Komponenten und Motoren. Hinzu kommen politische Einflüsse, Kriege, Lieferkrisen, veränderte Handelsbeziehungen und Handelsrouten. Das alles macht eine solch enge Abstimmung unverzichtbar.

In welchem Umfang beziehen Sie Ihre Kunden in die Bedarfsplanung ein?

Von strategisch wichtigen Kunden lassen wir uns die Bedarfsvorschauen auf täglicher bzw. wöchentlicher Basis geben. Und wir sprechen persönlich. Die Marktsicht, die Produktions- und Marktplanungen der Kunden zu kennen und in den S&OP einfließen zu lassen, hat unsere Prognosegenauigkeit enorm vorangebracht.

Inwiefern hilft künstliche Intelligenz?

In den früheren, relativ stabilen Märkten haben einfache Indexverfahren und Algorithmen retrospektiv für eine hohe Forecast-Genauigkeit ausgereicht. Das hat sich verändert. Die Methoden werden in unserem Prozess zwar noch angewandt, aber wir reichern sie an, in dem wir weitere Einflussfaktoren bewerten, statistische Verfahren wie Regressionsanalysen oder exponentielle Glättung inklusive der saisonalen-, Trendbereinigung nutzen und so genauere Ergebnisse erhalten.

Welche Kennzahlen sind entscheidend, um die Performance im Supply Chain Management zu messen?

Im SCM ist die Performance-Messung ein Faktor, der oft vergessen wird. Viele Unternehmen schauen nur auf die Order-to-Delivery Performance, auf die Kostenstrukturen oder die Bestände. Zwar sind das die Schlüsselindikatoren des Supply Chain Managements, aber es gibt viele anderen Themen, die Unternehmen anpacken können, um ein globales Supply-Netzwerk zu steuern, wie zum Beispiel der sogenannte Supply Chain Fit oder das richtige SC-Operating-Modell. Und dazu braucht es größtmögliche Transparenz.

Wie intensiv binden Sie Ihre Lieferanten in Ihre Planung ein?

Die Kapazitäten unserer strategisch wichtigen Lieferanten kennen wir sehr genau. Führen unsere aktualisierten Bedarfe zu Engpässen, gehen wir mit den Unternehmen im Rahmen des Pre-S&OP direkt in den Dialog und besprechen die Lösungsoptionen.

Was haben Sie durch den neuen S&OP erreicht?

Wir konnten die Materialverfügbarkeit deutlich erhöhen, haben weniger Ausfälle und eine deutlich höhere Versorgungssicherheit. Wir konnten die termingerechte Fertigstellung von Aufträgen und damit unsere Lieferzuverlässigkeit massiv steigern.

Mit welchem Ausblick gehen Sie in das Jahr 2025?

2024 haben wir sehr viele negative Trends gesehen. Auf 2025 blicke ich mit positivem Realismus. Für den taktischen Forecast legen wir uns nicht auf eine Jahres-Prognose fest, sondern schauen auch hier mit verschiedenen Modellen pro Quartal in die Regionen und auf unsere Kunden. Wir erwarten einen positiven Trend und gehen davon aus, dass die Talsohle weitgehend durchschritten ist. Unsere Versorgung und unsere Produktion werden wir im Netzwerk weiterhin nachhaltig absichern, auch durch die größeren Flexibilisierungspotenziale, die wir uns erarbeitet haben, sodass wir auf Marktentwicklungen auch kurzfristig angemessen reagieren können.

Was würden Sie anderen Unternehmen empfehlen, die ihre Strukturen im Supply Chain Management verbessern wollen?

Ich empfehle jedem Unternehmen sich von dem Gedanken zu verabschieden, dass das Supply Chain Management dafür verantwortlich ist, dass eine Kiste zur richtigen Zeit mit dem richtigen Label beim Kunden ankommt. Unternehmen müssen sich weg von rein kosteneffizienten Linien hin zu einer wertgenerierenden Supply Chain und einem wertgenerierenden Supply Chain Management entwickeln.


Florian Heller

… ist seit September 2023 Senior Vice President Supply Chain Management & Logistics Operations bei der Deutz AG. Zuvor leitete er das globale Supply Chain Management im Bereich Automotive bei Rehau und war acht Jahre lang bei der Schaeffler AG tätig, zuletzt als Senior Director SCM & Logistics Europe. Seine Karriere begann Heller in der Logistik und im Supply Chain Management der Deutschen Bundeswehr. Bereits in seinem Studium der Ingenieurwissenschaften fokussierte sich der SCM-Experte auf das Management und die Logistik von Lieferketten.


Deutz AG

Die Deutz AG erzielte im Jahr 2023 einen Umsatz von rund 2,1 Milliarden Euro und beschäftigte 5.084 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weltweit. Das Unternehmen hat seinen Hauptsitz in Köln und beschäftigt sich primär mit der Entwicklung, Produktion und dem Vertrieb von Antrieben für Off-Highway-Anwendungen. Deutz ist bekannt für seine Diesel-, Gas- und zunehmend auch für seine alternativen Antriebstechnologien, darunter Wasserstoff- und Elektromotoren.

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