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Wie sich der Einkauf den Faktor Unsicherheit zur Stärke macht

Systemisches Denken bei Rehau
Wie sich der Einkauf den Faktor Unsicherheit zur Stärke macht

Wenn der Einkauf bei der Rehau Industries SE & Co KG mit Sitz im oberfränkischen Landkreis Hof über die Zukunft spricht, geht es um komplexe Strukturen und Prozesse, vor allem aber um neue Denkansätze. Mit „konstruktiven Entscheidungen“ will man Komplexität und Unsicherheit in der Beschaffung reduzieren. Thesen: Es gibt keinen einfachen, direkten Zusammenhang zwischen Problem und Lösung. Gleicher Input führt nicht zu gleichem Output. Veränderung braucht Organisation. Wie passt das zusammen?

Das Gespräch führte Sabine Ursel, Journalistin, Wiesbaden.

Beschaffung aktuell: Herr Krendelsberger, was ist Ihre Grundannahme, um den Faktor Unsicherheit als Motor zu nutzen?

Ingo Krendelsberger: Die Erkenntnis, dass eine Organisation nicht von außen steuerbar und veränderbar ist. Um zu bestmöglichen Entscheidungen zu kommen, gilt es Veränderung genau zu beobachten und entsprechend zu intervenieren. Wichtig: Wir treffen Entscheidungen dort, wo sie sinnvollerweise getroffen werden sollten und setzen dabei auf ein eng verzahntes Zusammenspiel zwischen Einkauf und Geschäftseinheiten sowie anderen Services wie Finance und IT.

Wen und was beziehen Sie in Ihren systemischen Denkprozess ein?

Krendelsberger: Für uns als Einkauf und Serviceeinheit sind die Wachstumsstrategien unserer Geschäftseinheiten zentral. Also: Wie müssen wir uns einkaufsintern aufstellen, um möglichst wirksam zu sein? Wir beziehen Mitarbeitende, Lieferanten und Kunden ein. Gerade auch beim Thema Nachhaltigkeit/ESG setzen wir auf Kooperation und Partnerschaft.

Frau Schwaiger, wenn Unsicherheit die neue Realität ist, dann taugen einfache Ursache-Wirkung-Zusammenhänge nicht, um beispielsweise eine tiefgreifende Reduzierung von Komplexität zu erzielen, oder?

Katrin Schwaiger: Nein. Wir versuchen Komplexität dort zu reduzieren, wo es Sinn macht. Dabei starten wir immer bei unseren eigenen Prozessen und Strukturen. Wir haben uns zum Beispiel sehr intensiv mit dem Thema Rollen auseinandergesetzt. Dabei ging es uns vor allem um organisationsinterne Kommunikations- und Kooperationsmodelle, stärkere Vernetzung unserer Mitarbeitenden auf globaler Ebene sowie um neue Kompetenzen und dazugehörige Lernlösungen. Dafür ist gemeinsames Verständnis nötig: Wo liegt meine Zuständigkeit und wo beginnt die anderer Rolleninhaber? Das Ergebnis ist eine klar ausformulierte Rollenlandkarte. Aufgaben auf strategischer, taktischer und operativer Ebene und auch Verhaltenserwartungen an unsere Führungskräfte sind transparent definiert. Und das abgestimmt und eingebettet in unsere konzernweit übergreifende Jobarchitektur. Ein klares Verständnis von Rollen und Aufgaben kann maßgeblich dazu beitragen, Komplexität zu reduzieren.

Was bedeutet das konkret für den Einkauf? Und wo haben Sie Vorreiterfunktion?

Krendelsberger: Wir sehen uns nicht nur für die klassischen Einkaufsthemen zuständig. Wir blicken über den Tellerrand hinaus, greifen Themen auf, die für das Unternehmen wichtig sind, und führen sie aus. Ein Beispiel ist die Entlastung bei Energiepreisen unter Führung des Einkaufs. Und auch beim Thema Standardisierung und Automatisierung hat der Einkauf eine Vorreiterfunktion im Unternehmen. Wir treiben nachhaltiges Handeln mit unseren Lieferanten voran und haben entsprechende Prozesse und Tools etabliert. Wir suchen immer nach kreativen Partnern, die Mut zur Veränderung beweisen und mit uns neue Wege gehen. Generell sind wir mit unserem Credo, erforderliche Veränderungen rasch im Sinne eines First Movers anzupacken, immer gut gefahren.

Schwaiger: Wir gehen Themen proaktiv an und wollen uns nicht im Kleinklein verlieren. Das ist bei Veränderungsthemen essenziell. Wir bemühen uns immer um ein Big Picture und versuchen die Richtung, in die sich die Organisation als Ganzes bewegt, im Auge zu behalten. Dabei lohnt es sich immer mal wieder die Helikopterperspektive einzunehmen oder den Blick durch die systemische Brille zu richten. Alles was wir tun, hat einen Grund.

Wie werden bei Ihnen die Teams gebildet und wie führen Sie Entscheidungen herbei?

Schwaiger: Die soziale Komponente – also wer sollte wo und wofür involviert werden – ist am Anfang wesentlich für den Prozess. Es muss entsprechende Energie entstehen. Generell binden wir unsere Mitarbeitenden so früh wie möglich in Projekte ein. Bei der Einführung neuer Systemanwendungen sind vor allem End User gemeint. Das können Kolleginnen und Kollegen aus diversen Funktionen innerhalb oder außerhalb der eigenen Organisation sein. Wenn Menschen mitgestalten können, wachsen Akzeptanz, Unterstützung und Motivation. Anders: ausgedrückt: Dann kommt Bewegung ins System.

Krendelsberger: Entscheidungen sollen bei uns dort getroffen werden, wo das entsprechende Know-how besteht. Bevor wir Entscheidungen treffen, haben wir mindestens zwei bis drei alternative Szenarien ausgearbeitet. Wir haben Ableitungen anhand zuvor aufgestellter Hypothesen gebildet und so Handlungsoptionen aufgedeckt, oft auch neue. Darin liegt bereits viel Lösungspotenzial. Wir bewerten im Dialog-Prozess anhand zuvor definierter Kriterien. Die Entscheidungsfindung ist transparent nachvollziehbar. Natürlich brauchen neue Denk- und Handlungsmodelle zuerst einmal Unterstützung von Geschäftsleitung und Führungskräften. Transformation ist Managementaufgabe. Unser Procurement Leadership Team ist von Anfang an in Veränderungsprozesse eingebunden. Ziel und Zweck werden regelmäßig thematisiert, um so auch den notwendigen Konsens herzustellen und in die Organisation weiterzutragen.

Wo steht der Rehau-Einkauf im beschriebenen Prozess derzeit?

Schwaiger: Mit Hilfe eines umfangreichen Capability Assessments haben wir den Reifegrad unserer globalen Einkaufsorganisation bestimmt. Betrachtet wurden zentrale Themen wie Governance Model, Performance Management, Spend Transparency, Compliance und Risk Monitoring. Dabei haben wir uns an einem fortschrittlichen Industriezulieferer als Benchmark orientiert. Um Außenwahrnehmung, Erwartungen und Anforderungen an uns als Business Partner zu klären, haben wir entsprechende Interviews mit unserem Management geführt. Wir haben nun ein klares Bild zur Weiterentwicklung der Einkaufsorganisation und den Einkaufssystemen mit breit aufgestelltem Einsatz von integrierten AI-Anwendungen. Erforderliche Veränderungen und Roadmaps sind festgelegt.

Über welche Lerneffekte können Sie berichten? Und was raten sie anderen Unternehmen?

Schwaiger: Essenziell für Transformationsvorhaben sind Bewusstsein und Verständnis für die Notwendigkeit zur Veränderung. Der „sense of urgency“, also die Dringlichkeit, muss erkannt werden, sonst geht es nicht. Man kann schon am Anfang viel falsch machen. Deshalb lohnt es sich besonders zu Beginn eines (Change-)Projektes in die notwendigen Ressourcen zu investieren. Wichtig bei komplexen Vorhaben bzw. Entwicklungs- und Veränderungsprojekten ist eine gute Analyse. Sie hilft, Schwachstellen zu identifizieren und ein Bewusstsein über vorhandene Stärken und Ressourcen zu entwickeln. Es gibt eine Vielzahl hilfreicher Methoden und Tools, die dabei unterstützen, auch zwischen den Zeilen zu lesen und Zusammenhänge sichtbar zu machen.

Krendelsberger: Ich rate dazu, die Themen aktiv anzugehen und nichts auszusitzen, die Selbstorganisation zu stärken und sich neuen Aufgaben zu stellen, die über das originäre Verständnis des Einkaufs hinausgehen. Generell sollte klar sein: Die Führungsebene muss den Change mittragen.


Interview mit Ingo Krendelsberger, CPO, und Katrin Schwaiger, Director Local Procurement EMEA, bei Rehau.


Rehau Industries

Die globale Rehau Group hat sich auf polymerbasierte Lösungen spezialisiert. Rehau Industries bildet als Teil der Gruppe das Dach für die Divisionen Building Solutions, Window Solutions, Interior Solutions und Industrial Solutions (die in ihren jeweiligen Märkten eigenständig agieren) sowie die divisionsübergreifend tätigen Einheiten Services & Solutions. Die Rehau-Gruppe hat rund 20.000 Beschäftigte an über 170 Standorten und erwirtschaftete zuletzt einen Jahresumsatz von über 4,5 Mrd. Euro.

www.rehau.com


Kathrin Schwaiger

Katrin Schwaiger stieg nach dem Betriebswirtschafts- und Slawistik-Studium in Graz bei Rehau in Wien (Guntramsdorf) ein und hatte mehrere Funktionen mit Fokus Systeme und Prozesse inne. Seit zwei Jahren agiert sie als Director Procurement – Leitung lokale Einkaufsunits an den EMEA-weiten Produktionsstandorten. Nach ihrer Ausbildung zur systemischen Beratung absolviert Katrin Schwaiger derzeit parallel zum Job den Lehrgang „Systemisches Change Management“ bei Trainconsulting in Wien.


Ingo Krendelsberger

Der 56-Jährige ist seit 2004 bei Rehau in verantwortlichen Funktionen aktiv: seit 2019 bis heute als Head Group Procurement (CPO) in Rehau; zuvor in Guntramsdorf bei Wien u. a. als Country Head Austria. Vor seiner Rehau-Zeit agierte er bei Mondi (Wien; Vice President Group Procurement), bei Scandic Fibre Logistics (Stockholm; Member Board of Directors) und Novartis (Wien; u. a. Head Global Supply Chain Management Action Team). Der Rehau-CPO ist Vorstandsmitglied im BMÖ – Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik in Österreich (Wien).

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