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Ambitionierte ESG-Ziele brauchen eine offene Fehlerkultur

Serie Nachhaltige Beschaffung, Teil 1: Atruvia AG
Ambitionierte ESG-Ziele brauchen eine offene Fehlerkultur

Tabea Münch verantwortet im Einkauf des IT-Dienstleister Atruvia das Nachhaltigkeitsmanagement. Neben den regulatorischen Anforderungen und Green-IT geht es der Sozialwissenschaftlerin um ein Umdenken im Einkauf und die Hebelwirkung, die die Beschaffung für nachhaltiges Wirtschaften hat.

Annette Mühlberger, Journalistin

Atruvia ist Teil der Genossenschaftlichen Finanzgruppe. Über die Rechenzentren des IT-Dienstleisters laufen die Bewegungen von 86 Millionen Bankkonten und die Steuerung von 32.000 Geldautomaten. Seit 2022 ist Tabea Münch bei Atruvia für das Nachhaltigkeitsmanagement im Einkauf verantwortlich. Ihre Kernaufgabe zunächst: die Implementierung des Lieferkettengesetzes in die Beschaffungsprozesse. Doch nicht nur das: „Wir wollen mit unseren Bestrebungen nicht nur compliant, sondern grundlegend nachhaltiger werden“, betont die Nachhaltigkeitsexpertin. Münch weiß, wie groß der Hebel des Einkaufs ist: „Die Lieferketten haben einen signifikanten Einfluss auf die sozialen und ökologischen Auswirkungen unternehmerischen Tuns“, erklärt sie und damit gleichzeitig ihre Motivation sich als Politik- und Sozialwissenschaftlerin für eine sozial- und klimafreundliche Beschaffung zu engagieren.

Hebel des Einkaufs bewusst machen

Den Kolleginnen und Kollegen im Einkauf diese Bedeutung klar zu machen, sieht sie, neben der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie in der Beschaffung, als eine ihrer wichtigsten Aufgaben. „Nicht allen Einkäuferinnen und Einkäufern ist bewusst, welchen Einfluss sie in ihrer Funktion auf die Transformation der Wirtschaft haben. Privat kaufen sie vielleicht Bioprodukte und tun dort so ihren Teil, aber die Macht, die sie beruflich besitzen, ist deutlich größer“, betont sie. Ähnlich sei es in den Fachbereichen. Auch dort sei nicht überall klar, wie Beschaffungsentscheidungen auf nachhaltige Ziele einzahlten. „Für viele im Unternehmen ist Einkauf etwas sehr Abstraktes“, beobachtet sie.

Ausgangspunkt für die nachhaltige Beschaffungsstrategie sind bei Atruvia die Unternehmensleitlinien und die Unternehmensstrategie. „Der Anfang war zunächst ganz klassisch top-down, sodass unsere Strategien und Maßnahmen zusammenpassen und aufeinander einzahlen können“, beschreibt Tabea Münch den Prozess. „Eine Vergabeentscheidung muss schließlich genauso auf unsere große Unternehmensstrategie einzahlen, wie auf unsere granulare nachhaltige Warengruppenstrategie, da kommt unsere Agilität in der Zusammenarbeit ins Spiel“, erklärt sie den Zusammenhang.

Hinzu kam eine Analyse, über die sich der Einkauf den wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Fußabdruck der Materialgruppen angeschaut hat. „So entstand das Herzstück unserer Nachhaltigkeitsstrategie für den Einkauf“, erzählt Münch. Bei der sogenannten Wesentlichkeitsanalyse werden die Warengruppen entlang der Unternehmensachse (wie wichtig ist die Warengruppe für das Unternehmen) und der Nachhaltigkeitsachse (wie groß sind die ökologisch-sozialen Auswirkungen) analysiert. Für Atruvia als Digitalisierungspartner blieb die IT sowohl unternehmensseitig als auch mit Blick auf die nachhaltige Wirkung die entscheidende Warengruppe.

Startpunkt Wesentlichkeitsanalyse

Dabei geht es nicht nur um den grünen Strom, mit dem die Rechenzentren in Zukunft ausschließlich betrieben werden sollen oder um energieeffiziente Hardware, sondern auch um Zukunftsthemen wie Green Coding, das verarbeitungsarme Programmieren von Software. „Auch hier sind wir bereits mit Anbietern im Gespräch“, beschreibt Tabea Münch die Richtung, in die sich die ressourcenschonende IT entwickelt. Auch Beratungsleistungen (weniger Flugstunden), Facilitymanagement (grüner Strom, faire Bezahlung und Arbeitszeiten) oder Hotelübernachtungen stehen auf dem Prüfstand. „Man kann nicht, nur weil eine Leistung in Deutschland gesourct wird, einfach einen Hakten dahinter setzen“, bemerkt die Nachhaltigkeitsmanagerin nicht nur mit Blick auf das Lieferkettengesetz.

Einkauf braucht Leitplanken

Damit das nicht passiert, müssen die Vorgaben und Ziele in die Beschaffungsprozesse integriert werden. „Unsere Einkäufer und Einkäuferinnen sind sehr engagiert, trotzdem oder gerade deswegen brauchen sie Leitplanken und Kennzahlen, an denen sie sich orientieren können, sonst bleib das Thema abstrakt und schwer umsetzbar“, beschreibt Münch die Herausforderung, wenn es darum geht, Nachhaltigkeit in der Supply Chain nicht nur „irgendwie“ zu verbessern, sondern systematisch zu einem festen Qualitätskriterium für Ausschreibungen zu machen.

Scorecards zur Lieferantenbasis

Eine Herausforderung für Atruvia – wie für viele andere auch – ist die noch dürftige Datenlage, etwa beim CO2-Abdruck in der Lieferkette, um die Fortschritte über Kennzahlen zu messen. Für das Nachhaltigkeitsranking der Lieferantenbasis arbeitet man mit Ecovadis zusammen, dessen Scorecards in SAP Ariba eingespielt werden. Doch, meint Tabea Münch, am Ende entscheide der Mensch: „Die Daten und die Transparenz nutzen wenig, wenn sie der Einkauf nicht in die richtigen Maßnahmen umsetzt und diese konsequent nachhält. Tools sind weiße Billardkugeln, man braucht sie, um Dinge anzustoßen, ins Rollen zu bringen, aber man muss sie richtig zu nutzen wissen, alleine haben sie nur wenig Wert“, mahnt sie und sieht gleichzeitig eine große Chance darin, dass das Lieferkettengesetz mit seinen Vorgaben (etwa für ein systematisches Risikomanagement der Lieferketten) zum Katalysator für nachhaltige Beschaffung wird.

Knowhow der Partner nutzen

Die Nachhaltigkeitsmanagerin nutzt außerdem das Wissen der Lieferanten. Schließlich arbeiten aktuell viele, zumal die großen Player, an den gleichen Zielen. „Nachhaltigkeit ist oder sollte im Kern noch kein Konkurrenzthema sein, deshalb lässt sich hier im Moment sehr offen diskutieren und die Erfahrungen austauschen“, empfiehlt sie anderen ähnlich vorzugehen.

„Nachhaltigkeit ist systemisch und braucht den Blick von vielen Seiten“, meint sie. Und es brauche einen Blick auf das, was möglich ist. „Ich treffe sehr viele engagierte Menschen, mit denen man das Thema gut voranbringen kann“, lautet ihre Erfahrung. Allerdings gelte auch oder gerade in der Nachhaltigkeitsdebatte: Es ist nicht alles grün, was den Anschein erweckt. „Man muss lernen, den Lieferanten unangenehme Fragen zu stellen“, erklärt sie und betont: „Atruvia will die Art Kundin sein, die ihren Einfluss mit Blick auf Nachhaltigkeit geltend macht und tiefer geht als Nachhaltigkeitsberichte blicken lassen.“

Ziele operationalisieren

Die Ziele stehen fest, dazu gehören u.a. wiederaufbereitete Geräte zu nutzen (die eigenen Geräte werden bereits zu großen Teilen der gemeinnützigen Afb zur Verfügung gestellt), auf eine komplett erneuerbare Stromversorgung hinzuarbeiten, um so die Rechenzentren grün zu versorgen, die Umstellung des Fuhrparks sowie Sozialstandards im Facilitymanagement. „Um solche Maßnahmen für alle Warengruppen zu definieren und umzusetzen, müssen wir entscheiden, mit wem wir regelmäßig über welche Themen sprechen und bis wann wir welche Verbesserungen erzielen wollen“, beschreibt die Nachhaltigkeitsmanagerin die nächsten Schritte. Immerhin geht es um rund 2500 Lieferanten. Auf dem Weg sei eine offene Fehlerkultur wichtig: „Wenn der Mensch nicht scheitern darf, setzt er sich keine ambitionierten Ziele mehr“, meint die Sozialwissenschaftlerin.

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