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China+1 – ein alter Hut, der aber auch passen muss!

Umgang mit China
China+1 – ein alter Hut, der aber auch passen muss!

Die deutsche Wirtschaft soll sich stärker diversifizieren. So propagiert es die Bundesregierung. Sind die ASEAN-Staaten eine „würdige“ Alternative zu China? Auf den ersten Blick scheint die lässig ausgerufene Strategie „China +1“ (+ x) durchaus sinnvoll – aber sie ist im Prinzip ein alter Hut. Wir haben uns umgehört.

Sabine Ursel, Fachjournalistin, Wiesbaden

Wirtschaftsdaten indizieren begrenztes Diversifizierungspotenzial für die ASEAN-Staaten. „Das chinesische Bruttoinlandsprodukt wird bis 2030 um mehr wachsen, als das gesamte Volumen der Volkswirtschaften aller zehn Mitgliedsstaaten der ASEAN zusammen beträgt“, so formuliert es Dr. Denis Suarsana in seinem Papier „De-Risking, aber wohin? Die Schwellenländer der Emerging ASEAN als Alternative zu China“. Herausgeber ist die Berliner Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Hinzu kämen diffizile strukturelle Herausforderungen. Trotz politischer Appelle und aufgeregter öffentlicher Debatten sei eine Diversifizierung der deutschen Wirtschaft weg von China bisher weitgehend ausgeblieben. Und wie sich ein solches De-Risking erfolgreich durchführen lässt, sei eh offen.

Auf den ersten Blick scheint die lässig ausgerufene Strategie „China +1“ (+ x) durchaus sinnvoll. Was bedeutet das für Import, Absatz, Produktion? Für den Einkauf zumindest dürfte dieses Thema ein alter Hut sein. Blick zurück ins Jahr 2005: Nach einem strategischen Besuch des stellvertretenden chinesischen Außenministers Wei Jianguo in Frankfurt beim Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (heute Eschborn) begann der BME zaghaft erste China-Aktivitäten. Gemeinsam mit der Shanghaier Stadtverwaltung richtete man wenig später die bis dato vor sich hin dümpelnde reverse International Sourcing Fair in Shanghai neu aus. Mit großem Erfolg. Tausende chinesische Supplier (viele freilich noch wenig qualifiziert) belagerten fortan in jedem September die Stände der deutschen Einkäufer. Hauptfrage: Wie lassen sich Nadeln im Heuhaufen finden? Einige BME-Reiseteilnehmer nutzten aber schon damals die Zeit, um grenzüberschreitend Abstecher zu potenziellen neuen Zulieferern oder eigenen Werken zu machen, etwa in Vietnam oder Malaysia. Motto: „China+1“ … mindestens +1.

Klar ist: Wer heute „China+1“ analysiert, muss sehr viel genauer analysieren, in welchem Umfang er in China (noch) involviert sein will und welche Risiken damit einhergehen. Das gilt auch für mögliche Alternativen, die auf den ersten Blick attraktiv erscheinen mögen. KAS-Experte Suarsana nennt als Beispiele Indonesien und die Philippinen – zwei Länder mit „dynamischem Wirtschaftswachstum“ und im regionalen Vergleich „sehr kostengünstigen Arbeitskräften“. Aber: Dieses Reservoir sei „relativ schlecht ausgebildet und damit wenig produktiv“. Hinzu kämen „schwierige Rahmenbedingungen“ und „ein hohes Maß an rechtlicher Unsicherheit und Korruption“, was ausländische Investoren abschrecke. Ebenfalls hinderlich seien „protektionistische Regeln, hohe Zölle, nicht-tarifäre Handelshemmnisse, aufwändige Einfuhrbestimmungen und -verfahren“.

Aus hinlänglich bekannten Gründen kann es bei „China +1“ kein „weiter so“ geben. Was sich 2005 und einige Jahre danach noch vergleichsweise mit leichter Hand – bei zuweilen auch recht unterhaltsamen Begleitaktivitäten – erledigen ließ, hat sich mittlerweile zu einem komplexen Konstrukt entwickelt. Davon zeugt auch der Exodus der Expats aus China. Heute fallen den Unternehmen Fehler vor die Füße, deren Ursachen länger zurückliegen. Was gilt es also unbedingt zu bedenken, zu vermeiden und zeitnah einzuleiten?

Handlungsempfehlungen

Jörg Belitz war einer der ersten, der damals an der International Sourcing Fair in Shanghai teilnahm („von 2012 bis 2015 ein echter Game-Changer für mich“). Als Einkaufsleiter der Vereinigte Schmirgel- und Maschinen-Fabriken AG in Hannover suchte er Zulieferer für Schleifmittel und nicht-metallische Mineralien. In Sachen „China+1“ rät er heute dringend zu einem Risikomanagement „ohne Wenn und Aber“. Das müsse auch die Kunden einbeziehen, etwa bei Qualifizierungsunterstützung. Die Zeit Chinas als günstige Werkbank für die Welt sei „definitiv vorbei“. Die Weltgemeinschaft befinde sich auf dem Weg gegenseitiger Abschottung und Konflikt-Eskalation; jederzeit und kurzfristig sei mit Ausfällen der Lieferkette zu rechnen. Deutschland und Europa sollten darum mit im Fokus bleiben. Jörg Belitz blickt heute als Berater, Coach und Mediator (Nienburg/Weser) auf die komplexe Thematik. Er weist darauf hin, dass eine belastete Beziehungsebene in den Organisationen sehr oft neuen, vielversprechenden Lösungen auf fachlicher Ebene im Wege stehe – „das gilt für die weltweit agierende Beschaffung ebenso wie für andere Abteilungen“.

Uwe Günther hat langjährige Führungserfahrung, u. a. als Einkaufsleiter bei Rolls Royce Aerospace und Leiter Strategische Beschaffung bei Siemens Rail Automation. Von Mitte 2014 bis Februar 2021 war er CPO bei der Deutschen Bahn. Auch den Auf- und Ausbau des DB-Einkaufsbüros in Shanghai hat er vorangetrieben. Von dort aus nahm sein „International Procurement Office Asia“ den gesamten asiatischen Markt in den Blick – neben China auch Japan, Korea, Indien, Vietnam, Malaysia, Indonesien. Die technologische und marktbeherrschende Entwicklung in China sei indes über die Jahre so rasant fortgeschritten, dass ein De-Coupling dieses Einkaufsmarktes völlig außer Frage stehe – „sonst würden ganze Industriezweige in Europa lahmgelegt“, so Günther.

Uwe Günther wertet das heute von Politikern und Konzernlenkern geforderte De-Risking als eine „Ohrfeige für jeden strategischen Einkäufer“. Die konsequente Umsetzung sei schon immer Aufgabe jeder modernen Einkaufsorganisation gewesen. Es gelte, Wettbewerb zu forcieren und Druck auf bestehende Lieferanten aufzubauen, und dafür müsse man die internationalen Märkte, Qualität und Kosten und andere Einflüsse kennen – das sei keine neue Erkenntnis. Heute seien auch Themenkomplexe wie Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Compliance und Lieferkettenüberwachung strikt einzubinden. Wer allerdings unter Kosten- und Ergebnisdruck seine Hausaufgaben bisher nicht gemacht habe, müsse eben Versorgungssicherheit teuer erkaufen. „Kein kluger Einkäufer darf sich freiwillig in eine Single-Sourcing Situation begeben, auch nicht bei einem noch so großen Kostenvorteil“, mahnt Uwe Günther. Seine Organisation habe seinerzeit z. B. für Elektronikteile, Chips, Schienen und sonstige Hardware immer eine Second Source aufgebaut – „das war immer elementarer Teil des strategischen Lieferantenmanagements“.

Was würde der ehemalige Bahn-Einkaufschef heute anders machen? „Ich hätte früher mit dem Thema Internationalisierung und Aufbau von internationalen Einkaufsbüros begonnen.“ Sein Rat: Die personelle Ausstattung der Einkaufsbüros müsse mit kompetenten, international agierenden Mitarbeitern sichergestellt werden. Ihnen seien entsprechend klare Zielvorgaben zu geben. Wichtiger Faktor seien zudem interne und externe Verbündete, die Einkaufsziele mittrügen und laufend unterstützten – vom Vorstand über die Geschäftsfelder bis zum Bedarfsträger und Kunden. Uwe Günther: „Ich habe keine chinesische Firma kennengelernt, die sich diesen Forderungen widersetzt oder uns bewusst hintergangen hätte. Es gibt eher Bestrebungen, auch auf diesen Gebieten bestimmend zu sein und eigene Interessen durchzusetzen. Der Einkauf muss aber klar Position beziehen und notfalls Anbieter vom Wettbewerb ausschließen.“

Dr. Julia Haes beschäftigt sich seit zehn Jahren intensiv mit der chinesischen Wirtschaft und Geschichte. 2021 gründete sie das China-Institut für die deutsche Wirtschaft (CIDW; Tutzing). Neben Trainings, Workshops, dem Podcast „China ungeschminkt“ und dem empfehlenswerten Newsletter „Chinapolitan“ sind individuelle De-Risking-Fahrpläne für Unternehmen das Kernprodukt. „Störungen durch De-Risking-Politik und protektionistische Maßnahmen sind nur zwei von vielen Einflussfaktoren, die es zu identifizieren, zu überwachen und effektiv zu managen gilt“, sagt Julia Haes. Das CDIW hat eine spezielle Methodik für einen Risikomonitor-Prozess entwickelt, die wissenschaftliche Erkenntnisse, originale Dokumente und Quellen mit bewährten Geschäftspraktiken aus Politik, Geopolitik, Wirtschaft, Unternehmensführung und Gesellschaft verknüpft. Ziel ist es, den Unternehmen einen systematischen Überblick über die wichtigsten Risikofelder im Zusammenhang mit dem Chinageschäft zu verschaffen. In einem standardisierten Prozess werden zunächst die Rahmenbedingungen definiert, das sind Mission, Vision, strategische Ziele und Bewertung der Risikobereitschaft des Unternehmens. Anschließend werden systematisch Risiken identifiziert und priorisiert, Beispiele für Risikoszenarien erarbeitet und ein Rahmen für das Risikomanagement aufgebaut.

Dr.-Ing. Elmar Stumpf, Vorstandsvorsitzender des China Netzwerk Baden-Württemberg (CNBW, Oberkirch), führte einst bei der BSH Bosch und Siemens Hausgeräte GmbH eine neue Produktkategorie in den chinesischen Markt ein. Er bringt zudem Erfahrungen in Sachen Unternehmensstrategie, Innovation und technische Expansion sowie M&A ein und hat auch mit Partnern in Afrika, Südostasien, Ozeanien und Lateinamerika gearbeitet. Heute ist er als Inhaber der Conneum GmbH, Oberkirch, beratend aktiv. Wie Jochen Günther hält auch Elmar Stumpf De-Risking für keine neue Idee. „Aber vielleicht ist in der Vergangenheit eine Risikodiversifizierung nicht ausreichend betrachtet worden.“ China werde weitere Hightech-Unternehmen und damit technologisch anspruchsvolle Zuliefererteile hervorbringen und damit den Konkurrenten z. B. in Südostasien voraus sein. Eine eigene Präsenz in China oder an einem anderen asiatischen Standort sei schon aufgrund der Dynamik vor Ort „mehr als zuvor sinnvoll“. Die chinesische Wirtschaftspolitik sie führe in verschiedenen Branchen zu schnellen Entwicklungen, die wahrnehmbar würden, wenn eigene Mitarbeiter sich im Land damit beschäftigten.

Weiterer Aspekt laut Elmar Stumpf: „Seit der Etablierung der asiatischen Freihandelszone RCEP investieren viele chinesische Unternehmen in Ländern des asiatischen Umfelds. Dort bauen sie in ähnlicher Weise eine eigene Infrastruktur auf. Das könnte auch deutschen Einkäufern zugutekommen.“ Diese Entwicklung sei unbedingt im Blick zu behalten und, wenn möglich noch vor dem Wettbewerb, frühzeitig für eigene Zwecke nutzbar zu machen. Der CNBW-Vorsitzende rät zudem, nicht auf allgemeine Verlautbarungen zu warten: „Wertvolle authentische Hintergrundinformationen aus erster Hand erhält man viel früher, wenn man sich in belastbaren Netzwerken einbringt. Beispiel ist das CNBW. Hier tauschen sich Beteiligte in Fachgruppen z. B. auch über Fragen in Sachen Legal & Tax, Artificial Intelligence und Unternehmenskommunikation in China aus.“ Beim Thema „China+1“ würden dabei immer Chancen, Risiken und auch adäquate Alternativen mitgedacht.


Stimmen aus der Wirtschaft

Für diesen Beitrag befragte die Journalistin Sabine Ursel exklusiv die Einkaufs- bzw. Chinaexperten

  • Jörg Beltz, ehemaliger Einkaufsleiter der Vereinigte Schmirgel- und Maschinenfabrik AG, heute Berater und Coach
  • Uwe Günther, ehemaliger Einkaufsleiter bei Rolls Royce Aerospace, Leiter Strategische Beschaffung bei Siemens Rail Automation, CPO der Deutschen Bahn
  • Dr. Julia Haes vom China-Institut für die deutsche Wirtschaft (CIDW)
  • Dr.-Ing. Elmar Stumpf, Vorstandsvorsitzender des China Netzwerk Baden-Württemberg (CNBW), Berater

Lese-Tipp

De-Risking, aber wohin? Die Schwellenländer der Emerging ASEAN als Alternative zu China

Herausgeber: Berliner Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS)

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