Vielerorts herrscht Verwirrung, inwieweit der Einkauf von der Industrie 4.0 betroffen ist. Wo liegen eigentlich die Unterschiede zu etablierten Ansätzen des E-Procurement? Dieser Beitrag gibt Empfehlungen, wie Unternehmen bei der Einführung von „Einkauf 4.0“ von Erfahrungen bei der Umsetzung des E-Procurement profitieren können.
Die „Industrie 4.0“ ist derzeit das Thema. Gleichzeitig werden bisher kaum konkrete Auswirkungen wahrgenommen. Durch die informationstechnologische Prägung der Industrie 4.0 herrscht zudem große Verunsicherung, wie die Abgrenzung E-Procurement vorzunehmen ist. Dies zu klären ist Inhalt dieses Beitrags. Einkäufer sollen so befähigt werden, die „vierte industrielle Revolution“ aktiv mitzugestalten.
Wesentliche Elemente von Industrie 4.0 sind „Automatisierung“, „Vernetzung“ und „Big Data“ – samt entsprechender IT-Systeme. Hier fallen bereits erste Parallelen zum E-Procurement auf, das als internetbasierter Ansatz Einkaufsprozesse unterstützt: Beide nutzen digitale Technologien. Die Intensität unterscheidet sich jedoch: verbindet ein klassisches E-Procurement zwei oder mehr (System-)Schnittstellen, so baut Industrie 4.0 weitergehend auf autonome Abläufe. Im einen Fall wird IT genutzt, um manuelle Prozesse (z. B. bestellen von Ersatzteilen via ERP-System) zu vereinfachen. Unter „4.0“ dagegen würde die Produktionsmaschine einen sich abzeichnenden Bedarf eines Ersatzteils selbstständig (=intelligent) erkennen und automatisch beim Lieferanten bestellen. Selbst die Bestätigung vom Einbau des Ersatzteils und die Zahlung würden durch die Maschine eigenständig abgewickelt. Mittels Analyse großer Datenmengen („Big Data“) können 4.0-Systeme zudem Muster im Bedarf selbst erkennen und in das Bestellverhalten einfließen lassen.
Ein großer Unterschied zum E-Procurement besteht zudem im Einkauf 4.0 in der Veränderung der Beschaffungsobjekte, denn „intelligente“ Produkte erfordern passende Lieferantenbeiträge, z. B. autonome Steuerungsmodule. Der Einkauf muss solcherlei Innovationen aktiv auf den Beschaffungsmärkten suchen bzw. einfordern. So würde der Einkauf die vielfach postulierte, jedoch allzu selten ausgefüllte, gewichtige Rolle in der Produktentwicklung spielen. Zudem ergeben sich weitere Veränderungen in der stärker innovationsorientierten Lieferantenbeziehung. Hierin liegen wesentliche Differenzierungen zum prozessorientierten E-Procurement. Doch die Chancen zur Veränderung gleichen denen der frühen „elektronischen Beschaffung“. Allerdings werden Neuerungen oft auch als Risiko angesehen – nicht wenige haben deswegen lange auf die vielen Vorteile von E-Procurement verzichtet (oder tun dies bis heute). Was also sollten Einkäufer bei der Umsetzung von „Einkauf 4.0“ vermeiden?
Ein erster verbreiteter Fehler: der Versuch, Veränderung „aussitzen“ zu wollen. Das war bei E-Procurement keine Lösung und wird es auch bei Industrie 4.0 nicht sein. So waren Vermeidung („kennen wir schon“ oder „machen wir nicht“) und auch Ablehnung („brauchen wir nicht“) am Anfang weit verbreitet. Als sich einige sehr sinnvolle Aspekte durchgesetzt haben, haben Markt- und Konkurrenzsituation entsprechend starken Druck auf „Nachzügler“ ausgeübt. Die Empfehlung lautet also: Veränderungen annehmen und aktiv mitgestalten, um Wettbewerbsvorteile zu erzielen.
Im Gegensatz dazu besteht auch die Gefahr, die Möglichkeiten von Industrie 4.0 zu überschätzen. Bei E-Procurement zu sehen beim Versuch, auch erfolgskritische Teile durch E-Auktionen zu beziehen und dabei Qualität und/oder Lieferantenbeziehungen zu beeinträchtigen. Gleichgültig, was Industrie 4.0 verspricht: Es wird sich nicht auf alles übertragen lassen. Wie bei E-Procurement wird es Schwerpunkte geben, für die ein Einsatz in Frage kommt. Mit E-Procurement konnten und können auch nicht alle Beschaffungsprozesse (teil-)automatisiert werden. Für den Einkauf 4.0 bedeutet das: selektiv implementieren, beginnend mit kleineren „Leuchtturmprojekten“.
Was lässt sich aus diesen Erfahrungen mit E-Procurement für Industrie 4.0 ableiten? Besonders wichtig ist es, die Entwicklung bei Industrie 4.0 als Prozess zu sehen, der einerseits kontinuierlich abläuft, andererseits immer wieder neue Aspekte aufnimmt. Einkäufer sollten diesen Prozess intensiv beobachten und regelmäßig entscheiden, welche Aspekte von Industrie 4.0 wann sinnvoll und ausgereift genug sind, bestehende Einkaufsprozesse zu ergänzen bzw. zu ersetzen. Gegebenenfalls müssen Einkäufer dabei sogar ihre eigene Position in Frage stellen („automatisierte Abläufe“, neue Aufgaben und Rollen).
Der kritische Blick zurück auf E-Procurement zeigt somit deutliche Möglichkeiten, aus den damals gemachten Erfahrungen zu lernen. Die „Wunderwaffe E-Auction“ mit erwarteten „zweistelligen Savings auf das gesamte Einkaufsportfolio“ wurden sehr schnell von der Realität gebremst. Ähnlich liegt es mit elektronischen Katalogen, gepriesen als „Prozesskostenkiller“. Doch beide Ansätze sind – wie autonome Bestellprozesse eines „Einkaufs 4.0“ – nicht überall einsetzbar. Dazu kommen Aufwände für Implementierung, Schulungsbedarf und Systembetreuung. Auch ist ein fokussiertes Change Management erforderlich, um Widerständen bei Einkäufern, Lieferanten und der Unternehmensleitung zu begegnen. Interessanterweise hat die Beschäftigung mit E-Auktionen dazu geführt, dass für erfolgskritische Beschaffungen neue Wege gefunden wurden, die sowohl den Anwendern als auch den Lieferanten Vorteile bringen – dynamische RFPs als elektronische Angebotsausschreibungen. So sollte auch „Einkauf 4.0“ als Gelegenheit zur Nutzung und Weiterentwicklung spezifischer Instrumente gesehen werden.
Wie bei E-Procurement sind bei Industrie 4.0 ebenfalls positive und negative Auswirkungen auf die Lieferantenbeziehung zu erwarten. Flexiblere, agile Supply-Chain-Strukturen durch Industrie 4.0 sowie die immer geringere Wertschöpfung je Stufe führen zu leichterer Austauschbarkeit auf beiden Seiten. Einkäufer werden im „Einkauf 4.0“ deutlich stärker gefordert sein, die Beziehungen mit Lieferanten so zu festigen, dass gemeinsame Innovationen mit diesen Lieferanten entwickelt und langfristig genutzt werden können. Das gilt selbst für eine (mögliche) Rückkehr zur Eigenfertigung durch 3D-Druck auf Basis von Lieferantendaten.
Trotz vieler Parallelen stellt ein „Einkauf 4.0“ also eine Weiterentwicklung gegenüber E-Procurement dar. Einkäufer haben dabei die Chance, nicht nur Beiträge zur Effizienzsteigerung zu leisten, sondern aktiv Innovationen zur Nutzung der Erfolgspotentiale einer „digitalen Welt“ zu generieren. Die allseits herrschende Konfusion rund um „Industrie 4.0“ sollte dabei Ansporn sein, aktiv zu gestalten und so „Zugpferd“ für das gesamte Unternehmen zu sein. So besteht die Möglichkeit, in einer Phase massiven Wandels den Einkauf nicht wieder auf die Rolle des Kostensenkers zu beschränken, sondern als Antreiber einer strategischen Unternehmensveränderung.
Dr. Robert Freidinger ist Trainer und Berater, Leiter des IPS Institut für Purchasing & Supply Management der Hochschule Reutlingen sowie Dozent an der DHBW Stuttgart
Dr. Andreas H. Glas ist Projektleiter am Lehrstuhl für Materialwirtschaft und Distribution der Universität der Bundeswehr München
Prof. Dr. Florian C. Kleemann ist Professor für Materialwirtschaft & Logistik an der DHBW Stuttgart sowie freiberuflicher Consultant.
Auswirkungen Industrie 4.0 auf den Einkauf
Smart Procurement & Supply Management
Die DHBW Stuttgart und die Universität der Bundeswehr haben in einer gemeinsamen Studie die Auswirkungen der Industrie 4.0 auf den Einkauf untersucht. Titel:„Smart Procurement & Supply Management: Auswirkungen der Industrie 4.0 auf den Einkauf“. Unter dem unten genannten Link können Sie eine Zusammenfassung der Ergebnisse herunterladen.
Unsere Webinar-Empfehlung
Im anstehenden Webinar erläutert Felix True, Head of Presales bei easy software, wie Sie in Einkaufprozessen maximale Transparenz mit Budgetkontrolle durch easy Request entstehen lassen. Dabei zeigt Felix True den kompletten Durchlauf vom initialen Bedarf bis zur Bestellung.
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