Beschaffung aktuell: Sie sind nicht nur Einkaufsexpertin, sie halten auch Vorträge und haben zwei Bücher über Verhandlungen geschrieben. Was ist Ihre Kernbotschaft?
Charlotte de Brabandt: Ich habe einen Slogan: „Be inspired to inspire“. Ich selbst werde inspiriert von der jungen Generation und von Experten und inspiriere weiter. Das ist meine Mission: Unseren Beruf, die Beschaffung, nach vorne zu bringen. Wir haben die Verantwortung, Zukunftsdenker zu sein und die nächste Generation zu inspirieren.
Beschaffung aktuell: Sie sagen Zukunftsdenker. Was sind denn die wichtigen Zukunftsthemen für den Einkauf?
Brabandt: Meiner Meinung nach gibt es drei wichtige Themen. Das erste ist die Technologie und das zweite ist unser Umgang mit der damit einhergehenden Umstrukturierung. Die Technologie vereinfacht uns zwar das Leben, aber wir müssen unsere Prozesse anpassen, damit sie effizient funktioniert. Das dritte Thema ist, wie wir unseren Beruf für talentierte Arbeitnehmer interessant machen.
Beschaffung aktuell: Im Einkauf ist das Nachwuchsproblem groß. Warum ist es schwer, gute, junge Mitarbeiter zu finden?
Brabandt: Das Problem fängt schon bei der Stellenbeschreibung an. Ich bin Teil eines Zusammenschlusses global arbeitender Einkäufer, dem „Thought Leadership Council“. Dort haben wir uns Stellenbeschreibungen im Einkauf angeschaut. Und die meisten sind abgeschrieben und kopiert – Soft Skills werden oft gar nicht erwähnt. Wie will man Talente rekrutieren, wenn die Stellenbeschreibungen nicht zukunftsorientiert formuliert werden?
Beschaffung aktuell: Was kann ein Unternehmen tun, um Talente anzuziehen?
Brabandt: Früher sind wir zum Job gegangen, weil es normal war, zu arbeiten. Man hinterfragte das nicht. Jetzt stellen Talente mehr Fragen: Warum soll ich diesen Job machen? Was bringt mir das für meine persönliche Entwicklung? Dazu ist es wichtig, dass Unternehmen eine klare Vision haben und diese den Talenten vermittelt. In meinem jetzigen Unternehmen bekamen wir genau erklärt, für was das Unternehmen steht. Allein, dass diese Botschaft von der Führung so klar kommuniziert wird, hilft dabei, Mitarbeiter zu halten.
Beschaffung aktuell: Gibt es noch andere Möglichkeiten?
Brabandt: Es ist wichtig, dass man eine reguläre Kommunikation pflegt. Wenn es eine Entscheidung gibt, sollte diese sofort umgesetzt werden: schnelles Agieren ist gefragt. Neben den Jahresendgesprächen sollte es wöchentliche Meetings mit den Mitarbeitern geben.
Zusätzlich sollten Unternehmen an ihrer Flexibilität arbeiten. Man spricht gerne von Work-Life-Balance. Aber ich glaube, in der Zukunft sollte es „Work-Life-Integration“ heißen. Das bedeutet, den Tagesablauf an den Job anzupassen. Ich rede nicht über weniger Arbeitsstunden. Ich rede von wahrer Flexibilität. Wenn eine Mutter die Kinder um 15 Uhr von der Kita abholen muss, dann geht sie zu diesem Zeitpunkt nach Hause, verbringt bis sechs Uhr Zeit mit den Kindern und arbeitet dann nochmal zwei Stunden. Das ist hier im amerikanischen Unternehmen normal.
Beschaffung aktuell: Welche Unterschiede in der Kultur sehen Sie im Einkauf?
Brabandt: In Europa sind wir sehr traditionell und jeder Wandel läuft sehr langsam. Amerikaner sind offener für den Wechsel. In meiner allerersten Woche habe ich erlebt, wie eine Beratungsfirma beschloss, die lokalen Einkäufer des Unternehmens durch drei globale Sourcing-Zentren zu ersetzen. Die Mitarbeiter im lokalen Einkauf wurden aufgefordert, entweder nach Prag zu ziehen, oder sich einen neuen Job zu suchen. Ich hatte erstmal einen Kloß im Hals, wie viele Familien darunter zu leiden hatten.
Letztes Jahr habe ich nochmal eine Umstrukturierung miterlebt. Wir hatten nur ein paar Tage Zeit, uns im eigenen Unternehmen neu zu bewerben. So liegt eine permanente Verunsicherung in der Luft, man weiß nie, was morgen passiert. Niemand ist verheiratet mit dem Unternehmen, sondern wir geben einfach unser Bestes.
Beschaffung aktuell: Was können denn deutsche und amerikanische Unternehmen
voneinander lernen?
Brabandt: Ich würde Führungskräften in Deutschland raten, keine Angst vor großen Entscheidungen zu haben, die das Unternehmen in eine andere Richtung steuern. Es geht darum, selbst Verantwortung zu übernehmen. Manchmal ist es besser, eine Entscheidung durchzusetzen und danach Entschuldigung zu sagen. Gleichzeitig sollten Führungskräfte mehr auf die Menschen eingehen und mitarbeiterzentriert arbeiten. Ich war einmal in einem Team, in dem die eine Hälfte mit Sie, die andere Hälfte mit Du angesprochen wurde. Das ist doch unsympathisch. Wie kann man die Hälfte der Mitarbeiter so auf Distanz behalten?
Beschaffung aktuell: Wie inspirieren Sie Ihre Mitarbeiter?
Brabandt: Indem ich auf die persönlichen Bedürfnisse eingehe. Ich versuche zu verstehen, was die Person erreichen möchte. Nicht jeder hat die gleichen Ziele. Sobald ich auf die Eigenschaften eingehe, erhöht sich das Vertrauen. Wenn man das Vertrauen des Teams hat, dann wird dieses umso härter arbeiten, Sie stehen als Führungskraft besser da und das gesamte Team glänzt.
IBM hat eine tolle Lösung für Teams eingeführt, das sogenannte „Power of Recognition“. Die Mitarbeiter treffen sich morgens und loben sich gegenseitig. Das leuchtet mir ein, denn so hat jeder einen guten Start in den Tag. Das ist so etwas Kleines, aber jedes Talent fühlt sich wichtig und bekommt gleichzeitig reguläres Feedback.
Beschaffung aktuell: Oft redet man vom Betrag des Einkaufs zur Wertschöpfung des Unternehmens. Wie sehen Sie hier die Rolle des Einkaufs?
Brabandt: Ich sehe die Kompetenz des Einkaufs vor allem in guter Kommunikation. In der Zukunft geht es darum, gut zu kommunizieren und Stakeholder, etwa Lieferanten oder Abteilungen im eigenen Unternehmen, positiv zu beeinflussen.
Momentan sind wir als Firma diejenigen, die unsere Lieferanten aussuchen. Das „Thought Leadership Council“ argumentiert, dass es in der Zukunft die Lieferanten sind, die das Unternehmen aussuchen. Das Argument ist ein ähnliches wie bei der Anwerbung von Talenten: In der Vergangenheit hat die Firma die Talente ausgesucht. Jetzt erleben wir einen Wandel, und die Talente sind diejenigen, die entscheiden. Ebenso könnte es in der Zukunft mit den Lieferanten sein – das wird eine sehr große Umstellung für uns Einkäufer werden, die uns dazu zwingen wird, unsere Arbeit grundlegend zu überdenken.
Beschaffung aktuell: Wie wird sich die Organisation innerhalb des Einkaufs verändern?
Brabandt: Die Organisation muss sich verändern und transparenter werden. Was man in dem Prozess abbilden sollte, ist, wie in der Zukunft im Sourcing-Prozess Lieferantenentscheidungen getroffen werden. Das ist aber Zukunftsmusik.
Kurzfristig gedacht liegt viel Optimierungspotenzial im Verhandlungsprozess. Hier werden die Möglichkeiten der Digitalisierung immer wichtiger. Wir arbeiten schon jetzt mit Onlineauktionen; in der Zukunft werden Verhandlungen von durch Algorithmen gesteuerten KIs geführt.
Von der Ausschreibung über die Verhandlung bis hin zur Entscheidung wird vieles automatisierter ablaufen. Dabei müssen sich Unternehmen überlegen: Behalten wir nur den Kostenrabatt als Entscheidungskriterium im Auge oder beziehen sie auch andere Faktoren, wie zum Beispiel Nachhaltigkeit, mit ein?
Beschaffung aktuell: Wie beurteilen Sie das Zusammenspiel anderer Abteilungen mit dem Einkauf?
Brabandt: Oft wird gesagt, der Einkauf hat kein gutes Verhältnis zu anderen Abteilungen. Meiner Meinung nach kommt das aber sehr auf den Einkäufer selbst an. Bis heute sehe ich, dass Einkäufer einfach annehmen, sie würden die Informationen schon irgendwie bekommen. Aber das stimmt nicht, der Einkäufer muss aktiv auf die Fachbereiche zugehen, eine Beziehung aufbauen, Interesse zeigen und Neugier entwickeln. Dann sind die Bereiche umso glücklicher, Inhalte zu erklären. So fängt Vertrauen und Kollaboration an.
Beschaffung aktuell: Wie wichtig ist es, dass der Einkauf bei Projekten von Anfang an mit eingebunden wird?
Brabandt: Den Einkauf von Anfang an zu involvieren, gibt dem Einkauf die Möglichkeit, Projekte grundsätzlich besser zu verstehen. Es gibt nichts Schlimmeres, als einen Einkäufer zu haben, der nicht versteht, was er einkauft. Dahingehend hat mich meine Führungskraft bei VW geprägt; er sagte: „Was auch immer du beschaffst, du musst Expertin darin sein.“ Man kann sich nicht nur auf die Fachbereiche verlassen, man muss selbst Interesse entwickeln und Gespräche suchen, um genau zu verstehen, was man einkauft.
Beschaffung aktuell: Hatten Sie selbst von Anfang an geplant, im Einkauf zu arbeiten?
Brabandt: Im Studium wusste ich noch gar nicht, was Beschaffung ist. Ich habe in London studiert, durfte meine Praktika bei der HSBC machen und ich war Präsidentin von unserem Investment- und im Debattierclub. Wenn man im Investmentclub ist, ist es gar keine Frage: man geht in die Bank. Und dann kam die Finanzkrise 2008. Mein Kumpel war genau drei Tage bei den Lehman Brothers, bevor er wieder arbeitslos wurde.
Jeder musste sich umorientieren. So habe ich mich entschieden, einen Master zu machen und habe mich auf Technologie und Entrepreneurship spezialisiert, also die Technologien der Zukunft. Danach hat Volkswagen mir
ein internationales Beschaffungs-Traineeprogramm angeboten. Das war eine sehr harte Schule, aber auch die beste, die ich haben konnte. Ich bin also eher unerwartet in der Beschaffung gelandet.
Ich glaube, das man Möglichkeiten immer ergreifen sollte. Nicht zu lange überlegen! Das ist meine Philosophie. Ich habe Kollegen, die bekamen Angebote, nach China oder Amerika zu gehen, und sie haben die Angebote wochenlang überdacht. Das führt doch zu nichts. Ich habe keine Scheu, auch mal etwas falsch zu machen, denn was kann mir schon passieren? Das Allerschlimmste wäre, dass man seinen Job verliert, aber dann fängt man eben wieder an. Man muss einfach hartnäckig sein und am Ball bleiben.
Beschaffung aktuell: Hatten Sie in Ihrer Karriere bestimmte Aufgaben, die Sie besonders geprägt haben als Einkäuferin?
Brabandt: Nach achteinhalb Jahren in der Automobilindustrie und in der deutschen Kultur habe ich den Schritt gewagt, in eine andere Industrie und Kultur zu wechseln.
Am dritten Tag im Unternehmen habe ich dann ein neues Projekt bekommen, nämlich, einen neuen Energie-Serviceprovider zu finden. Wir müssen um die 980 Produktionsstätten global mit Energie eindecken. In der Vergangenheit hat sich niemand um Energie gekümmert, da das Thema so wichtig ist und alle Angst hatten, es anzufassen.
Ich sollte unseren Energie-Servicevertrag erneuern. Aber warum sollte ich blind einen Vertrag verlängern, der schon 15 Jahre läuft? Ich wollte einen neuen Serviceprovider finden, der uns bei der Beschaffung der Energie weltweit zur Seite steht. So habe ich alle Lieferanten, die wir kennen, zu einer Konferenz eingeladen. Ihnen habe ich erstmal das Projekt sowie unser Credo vorgestellt und respektvoll erklärt, was das Ziel des Projektes ist.
Als die Ausschreibung startete, habe ich um die 50 Rückmeldungen bekommen. Tatsächlich hat sich herausgestellt, dass wir eine neue Option hatten. Der neue Lieferant war ein Drittel billiger – eine Milliardensumme. Darüber hinaus hatte ich 14 Monate Zeit für die Ausschreibung, stattdessen habe ich nur vier Monate bis zur Unterschrift der Verträge gebraucht.
Bei diesem Projekt habe ich gelernt: akzeptiere „Nein“ nie als eine Antwort. Es gibt immer Lösungen. Man muss den eigenen Weg gehen. Man muss auf sich selbst hören.
Beschaffung aktuell: Sie hatten viele verschiedene Positionen inne. Wie hilft Ihnen das in Ihrem jetzigen Job?
Brabandt: Es hilft mir sehr, nicht verblendet zu sein von meinem Job und mir meine eigene Meinung zu bilden. Leider ist es untypisch, die Position öfter zu wechseln. Aber es ist doch gesund, etwas Neues zu lernen. Es ist kein Verbrechen den Job zu wechseln, im Gegenteil, nur so kann man zukunftsorientiert an den Einkauf gehen. Ich möchte, dass die nächste Generation, vor allem in Deutschland, das begreift. Wir waren im Bereich Beschaffung sehr gemütlich, aus dem Grund, weil Leute jahrelang, lebenslang immer in einer Position blieben, ohne sich mit Zukunftsthemen zu beschäftigen.
Beschaffung aktuell: Im Moment arbeiten Sie im strategischen Einkauf, vor allem im Themenbereich Nachhaltigkeit. Wie definieren Sie denn Nachhaltigkeit?
Brabandt: Nachhaltigkeit im Lieferantenmanagement bedeutet, eine transparente Beschaffungskette darzustellen, und zwar End-to-End. Man muss wissen, welches Teil an welchem Standort von welchem Lieferanten hergestellt und geliefert wurde. Dazu müssen wir als Unternehmen Transparenz entwickeln. Im Detail funktioniert das in Kollaboration mit den Lieferanten; wir haben ein Programm ausgearbeitet, in dessen Rahmen überprüft wird, ob Lieferanten ein EcoVadis- oder CDP-Zertifikat haben. Unsere Strategie besagt des Weiteren, dass 80 Prozent unserer Lieferanten,durch solche Programme als nachhaltig eingestuft sein müssen. Es geht also darum, dass wir als Unternehmen mit einer transparente Beschaffungskette Verantwortung übernehmen.
Beschaffung aktuell: Wie unterscheidet sich diese Herangehensweise von früher?
Brabandt: Früher ging es im Einkauf nur um Preisnachverhandlungen und um die gläserne Kalkulation von Tier-Eins-Lieferanten. In der Zukunft geht es nicht nur um Kosten. Es ist unsere Verantwortung, auch Lieferanten über Tier-Eins hinaus auf ihre Nachhaltigkeit hin zu überprüfen.
Beschaffung aktuell: Das klingt sehr aufwendig. Warum betreibt ein Unternehmen diesen, auch finanziellen Aufwand?
Brabandt: Absolut, das kostet Geld. Ich finde, jedes Unternehmen hat eine Verantwortung, welche sich in unternehmenseigenen Regularien für Lieferanten widerspiegeln. Bei meinem jetzigen Arbeitsgeber bauen diese Regularien auf den UN-Nachhaltigkeitszielen auf. Nachhaltigkeit ist ein Zukunftsthema. Wenn das Unternehmen hier ein Vorreiter ist, eröffnet sich daraus ein klarer Mehrwert.
Das Interview führte Sanja Döttling,
Beschaffung aktuell.
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Charlotte de Brabandt. Springer Gabler,
Wiesbaden, 2020.
Softcover, 142 Seiten 19,99 €.
ISBN: 978-3658272388
Die Frau
Charlotte de Brabandt
…. kommt ursprünglich aus der Schweiz. Ihren Bachelor of Science in Marketing Management legte sie an der University of London ab, danach absolvierte sie ihren Master of Science in „Technology Entrepreneurship“ an der London Business School. Obwohl sie mit einer Karriere in der Bankindustrie liebäugelte, machte ihr die Finanzkrise 2008 einen Strich durch die Rechnung. Deshalb ging sie zur Volkswagen Gruppe, wo sie ab 2009 ein Trainee-Programm im Bereich Procurement und Beschaffung absolvierte. Über Volkswagen sammelte sie auch Erfahrung in China. 2012 wechselte sie zur Porsche AG, wo sie zuerst für den Marketingeinkauf zuständig war, bevor sie im Tochterunternehmen „Porsche Design Timepieces“ in der Schweiz den Einkauf neu aufbaute. 2017 ging sie zu einem großen Unternehmen in Amerika, bei dem sie zuallererst den Energieeinkauf umkrempelte, bevor sie in ihrer jetzigen Position an der nachhaltigen Beschaffungsstrategie des Unternehmens mitwirkt.