Einkaufsmannschaften in der Automobilindustrie stehen aktuell vor großen Herausforderungen: teilweise enormer Kostendruck, Lieferkettenengpässe, schwierige Volumenplanung und zunehmende Komplexität. Hinzu kommen mentale Faktoren, etwa die Bereitschaft für bereichsübergreifend neue Ansätze, z. B. Priorisierung bei der Auswahl alternativer Materialien. Die Frage war also: Wie kann der Automobilzulieferer den Professionalisierungsgrad im Einkauf sukzessive erhöhen und so zu einer nachhaltigen Verbesserung der Verhandlungsleistung gelangen?
In Absprache mit dem Top-Management hat die Einkaufsleitung Mitte 2019 ein Projekt gestartet, das letztlich auch zu einem Mentalitätswechsel der Beteiligten führen sollte. Die Ziele: Implementierung nachhaltiger Prozesse in den Verhandlungsteams mit Aspekten wie Ableitung von Strategie und Taktik, Profiling oder Machtanalyse, spezifische Planung und Vorbereitung von wichtigen Verhandlungen, Aufbau langfristiger strategischer Lieferantenbeziehungen sowie strategische Einbindung der Fachabteilungen wie der Entwicklung, Produktion, Vertrieb.
Verantwortung
Für Konzeption und Implementierung wurde das Konzept „House of Negotiation Excellence“ (HoNE) der Frieder Gamm Group GmbH (kurz FGG) ausgewählt. Das ganzheitliche Projekt wird vom Dräxlmaier-Top-Management verantwortet. FGG-Mentoren steuern die Maßnahmen gemeinsam mit dem „A-Team“, gebildet aus Dräxlmaier-Einkäufern und -Einkäuferinnen unter Leitung von Martin Mutschler.
In der Vorbereitungsphase wurde zunächst eine 360°-Analyse durchgeführt, um „blinde Flecke“ zu identifizieren bzw. zu reduzieren. Das A-Team hatte fortan die die stringente Umsetzung der unternehmensweit festgelegten Prozessschritte der Verhandlungsführung unter Anwendung innovativer Verhandlungstools zu sichern. Weitere Aufgaben: Einbeziehen wichtiger Schnittstellenpartner und kontinuierlicher Wissenstransfer in Sachen Verhandlungsführung.
Proof of Concept
Wirtschaftlichkeit. Dräxlmaier hat das FGG-Konzept „House of Negotiation Excellence“ zunächst mit fünf Referenzprojekten gestartet. Über einen Zeitraum von 14 Monaten waren 120 Einkäufer und Einkäuferinnen (Weiterbildung in Verhandlungsführung), 15 Führungskräfte (aus unterschiedlichen Bereichen; Ausbildung) und 10 A-Team Coaches (Ausbildung und Begleitung) eingebunden. Die anschließende Wirtschaftlichkeitsanalyse hat eine Einsparung von 88,60 Euro pro eingesetztem Euro Invest ergeben. „Unser Procurement Management hat nicht nur auf Basis des ROI-Ergebnisses, sondern auch durch das ganzheitliche Vorgehen eine nachhaltige Effizienzsteigerung erkannt und die globale Implementierung von HoNE, verbunden mit einem in der Einkaufsorganisation implementierten Vollzeit A-Team initiiert“, so der Einkaufsleiter Robert Suvak.
„House of Negotiation Excellence“ – Projektschritte
1. Initialisierung des Projekt HoNE inkl. A-Team: Erstellung eines Masterplans für das Verhandlungsmanagementsystem
2. Erarbeitung des „HoNE Dräxlmaier“-Plans: Festlegung der Verhandlungsprozesse bei A-Verhandlungen; Auswahl, Ausbildung und Implementierung des A-Teams; Ernennung von Martin Mutschler als Leiter A-Team; Weiterbildung der Führungskräfte und Einkäufer/Einkäuferinnen
3. Start der definierten A-Verhandlungen (Referenzprojekte); Kick-off mit den Zuständigen (Einkauf, Führungskraft, Coach); Vorbereitung und Durchführung der A-Verhandlungen
4. Erfolgssicherung: Sicherung der Ergebnisse und Vorstellung vor dem Management; Vorstellung Lessons learned in der Einkaufsorganisation; rollierender Wechsel der A-Team-Mitglieder
5. Internationaler Roll-out: Erstellung eines Masterplans und Abstimmung mit betroffenen regionalen Einkaufseinheiten; Implementierung und Begleitung ausgewählter A-Verhandlungen
Herausforderungen bei der Umsetzung‧
Robert Suvak und den Verhandlungsspezialisten der Frieder Gamm Group war bewusst, dass ein solch tiefgreifendes Projekt auch zu Unsicherheiten führt. Einkaufsverantwortliche standen dem neuen Ansatz erstmal skeptisch gegenüber: Ist dem Prozessmodell unvoreingenommen Vertrauen zu schenken? Wichtig war, dass parallel zum Prozessfortgang zeitnah Lösungen greifen. „Wir haben dann für eine frühzeitige Einbindung aller Beteiligten und für eine offene, klare Kommunikation gesorgt“, betont A-Team-Leiter Martin Mutschler.
Knifflig waren zunächst auch die Sandwichposition der Eingebundenen (Vorgesetzte/A-Team-Mitglieder) und limitierte bzw. restriktive Kapazitäten beim A-Team und den Schnittstellenpartnern. Lösung hier: klare Zielvorgabe durch das Top-Management, gemeinsame Priorisierung und Zuordnung der Aufgaben sowie transparente Kommunikation mit den Prozessverantwortlichen. Projektleiterin Filomena Scavelli der FGG rät: „Generell gilt, Verständnis zu schaffen, Schwachstellen als Chance zu erkennen und die Führungsmannschaft in Konzeptionierung und Umsetzung einzubeziehen.“
Beurteilung und Übertragbarkeit
Robert Suvak: „Die Beziehung zwischen Kunden und Lieferanten ist das essenzielle Erfolgskriterium bei der Realisierung erfolgreicher Projekte. Wir legen großen Wert auf nachhaltige, effiziente und wertschätzende Partnerschaften. Für uns bedeutet das die kontinuierliche Weiterentwicklung der Prozesse mit stringenter Prozessdisziplin für exzellente Verhandlungsführung. Ich bin davon überzeugt, dass die strukturierte Verhandlungsvorbereitung zu besseren Ergebnissen führt. Das HoNE-Konzept hat uns weltweit belastbare, zukunftsgerichtete Standards verschafft. Die eingebundenen Teammitglieder profitieren fachlich, aber auch persönlich.“
Die BME-Jury achtet bei ihrer Betrachtung der eingereichten Konzepte für den BME-Innovationspreis insbesondere auf die Übertragbarkeit der Prozesse auf andere Unternehmen (auch in anderen Branchen). Das Dräxlmaier-Projekt, basierend auf HoNE, wurde für universell übertragbar auf alle Einkaufsbereiche und interne Schnittstellen, national und international, befunden. Gut auch: Skalierbar je nach Größenordnung und Komplexität.
Sabine Ursel, Journalistin, Wiesbaden
Dräxlmaier Group
Elektrik, Elektronik, Batteriesysteme und Interieur sind heute die Hauptgeschäftsbereiche des 1958 gegründeten Familienunternehmens. In mehr als 100 aktuellen Fahrzeugmodellen steckt mindestens ein Produkt der Dräxlmaier Group. Premiumkunden sind u. a. Audi, BMW, Jaguar, Land Rover, Maserati, Mercedes-Benz, MINI, Porsche und VW. Dräxlmaier verfügt über 65 Produktionsstätten in 22 Ländern. Rund 260 Einkäufer beeinflussen in fünf globalen „Einkaufshäusern“ ca. 50% von dem Gesamtumsatz an Beschaffungsvolumen. Das Team von Einkaufsleiter Robert Suvak hat rund 9000 Lieferanten aus der ganzen Welt im Portfolio und führt im Jahr rund 800 Verhandlungen durch, darunter viele wichtige A-Verhandlungen.
In Zahlen
- Hauptstandort: Vilsbiburg (Bayern)
- Umsatz 2021: 4,6 Mrd. Euro
- ca. 75.000 Mitarbeiter weltweit
- 65 Standorte in 22 Ländern
- 9000 Lieferanten
- 5 Einkaufshäuser
- 800 Verhandlungen pro Jahr
„House of Negotiation Excellence“
Ergebnisse bei Dräxlmaier
- signifikante Verbesserung der A-Verhandlungsergebnisse
- Etablierung eines globalen Verhandlungsmanagementsystems
(gemäß HoNE-Methodik) - bereichsübergreifend strukturierte Zusammenarbeit bei A-Verhandlungen
- Etablierung einer funktionierenden Lieferantenbeziehung
- nachhaltige Implementierung von innovativen Verhandlungstechniken
- radikaler Mentalitätswechsel in Bezug auf die Verhandlungsvorbereitung und -durchführung
Mindset
- persönliche Verhandlungskompetenz wird zur Unternehmenskompetenz;
bereichsübergreifende motivierende Teamarbeit
Prozesse
- unternehmensweite Implementierung klar definierte Prozesse für A-Verhandlungen, Einbindung aller beteiligten Schnittstellenpartner
Datenqualität
- höhere Datenqualität durch standardisierte Lieferantendossiers und systematischen Wissenstransfer
BME Business Awards
Mit den BME Business Awards zeichnet der BME die Exzellenz von Unternehmen in Einkaufs, Logistik und SCM aus. Dräxlmaier siegt 2022 in der Kategorie „Procurement Excellence Award (Großunternehmen)“. Jury-Kriterium: Das Sieger-Team ist Procurement-Best-Practice seiner Branche und ein Wegbereiter für zukunftsfähige Lösungen im Einkauf. Mittels des ausgezeichneten Projekts hat ein Team die Effizienz von Einkauf, Logistik oder Supply Chain dauerhaft gesteigert und das Unternehmensergebnis deutlich verbessert. Außerdem wurden inhaltlich weitreichende Veränderungen zur Umsetzung neuer Strategie, Strukturen, Systeme, Prozesse oder Verhaltensweisen angestoßen – idealerweise unter Einbeziehung der Mitarbeitenden.