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Türkei: die Krise – eine Chance?

Internationale Beschaffungsmärkte
Türkei: die Krise – eine Chance?

Schwächelnde Lira lädt zu Investitionen in der Türkei ein. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für Einkäufer, Geschäftsbeziehungen aufzubauen, aber die kulturellen Aspekte sind dabei nicht zu unterschätzen.

Die türkische Bevölkerung hat im März März und August dieses Jahres gewählt. Mit über 45 Prozent der Stimmen hat fast jeder Zweite trotz der Skandale (Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan und seine Minister), der Provokation Syriens durch den Abschuss eines syrischen Kampfflugzeugs, der Sperrung von YouTube und Twitter, der Einschränkung der Meinungsfreiheit doch die konservative Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi = Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt) gewählt. Ein wesentlicher Grund für dieses Wahlverhalten liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes in den letzten zehn Jahren. Der Bevölkerung, auch der ländlichen, geht es besser denn je. Das Pro-Kopf-Einkommen ist zwischen 2003 und 2013 von 3500 US-Dollar auf 10 079 US-Dollar gestiegen.

Die stabile politische Lage bis Mitte 2013, ein neues Handelsgesetzbuch, welches stark an das deutsche HGB angelehnt ist, massive Investitionsförderprogramme sowie rückläufige Inflationsraten (2001: 68,53 Prozent; 2013: 7,40 Prozent), ferner die Absenkung der Körperschaftsteuer auf 20 Prozent (in manchen Regionen gar bis auf 2 Prozent), niedrige Löhne und eine konsumfreudige Gesellschaft zogen Investoren aus aller Welt in die Türkei. So stieg die Anzahl der Unternehmen mit ausländischem Kapital Ende 2012 auf 32 604 an.
Mit 5158 Unternehmen rangiert Deutschland auf Platz 1 der Liste ausländischer Unternehmungen in der Türkei. Seit 1980 wurden 11,9 Mrd. USD von deutschen Unternehmen in der Türkei investiert. Das macht mittlerweile 2,5 Prozent des türkischen Produktionsindexes aus. Die größten deutschen Investoren sind Daimler, BSH, Siemens, Bosch, Henkel, Bayer und MAN.
Die politischen Turbulenzen in den letzten Monaten haben zu einem Rückgang der ausländischen Investitionen um 4 Prozent und zu einer Abwertung der türkischen Lira um fast 30 Prozent geführt. Um dem Verfall der türkischen Lira entgegenzuwirken, hat die türkische Zentralbank den Leitzins von 4,5 Prozent auf 10 Prozent und die Zinsen für Übernachtkredite von 7,75 Prozent auf 12 Prozent am 29. Januar 2014 angehoben. Zwar hat daraufhin die Lira kurzfristig an Wert gewinnen können, hat sich jedoch seither um die Marke von 2,90 YTL für einen Euro eingependelt. Während diese Schritte gerade für die zum Teil hoch verschuldeten Privathaushalte ein großes Problem darstellen, bieten sie für Einkäufer ausländischer Unternehmen Chancen, um strategische und langfristige Lieferantenbeziehungen in der Türkei aufzubauen. Wurden kleine Aufträge bis vor Kurzem beispielsweise in der Metallgussindustrie nur ungern oder gar nicht angenommen, könnten nun gute Chancen bestehen, diese Aufträge bei türkischen Lieferanten zu platzieren. Viele Unternehmen haben aktuell freie Kapazitäten.
Unbedingt zu berücksichtigen ist auch die steigende Qualität der türkischen Produkte. Die türkischen Unternehmen orientieren sich in den letzten Jahren stark an den europäischen Qualitätsnormen – insbesondere auch den deutschen – um den Kundenanforderungen zu genügen und dadurch ihre Exportquote zu steigern. Dies wird insbesondere am Beispiel der Automobil- und Automobilzulieferindustrie deutlich. Die Produktionskapazitäten haben sich zwischen 2003 und 2013 mit 1,1 Mio. Stück im Jahr mehr als verdoppelt. Im gleichen Verhältnis sind auch die Automobilexporte gestiegen. Mittlerweile machen die Automobilexporte 14,1 Prozent der Gesamtexporte der Türkei aus. Mit einem Anteil von 68 Prozent waren 2012 die europäischen Länder die größten Abnehmer von Kfz-Teilen und -Komponenten. Deutschland liegt mit 8,2 Mrd. USD auf Rang 1 der Hauptabnehmer, gefolgt von Frankreich, Italien und Großbritannien. Weitere wichtige Branchen für die Importe aus der Türkei sind die Bekleidungsindustrie, hier insbesondere qualitativ hochwertige Produkte, darüber hinaus Maschinen und Textilien.
Den derzeit sehr günstigen Bedingungen für Einkäufer stehen jedoch auch Risiken gegenüber. Insbesondere landeskulturelle Unterschiede führen häufig zu Missstimmungen zwischen den Einkäufern aus Deutschland und den Unternehmen in der Türkei. Im Folgenden werden einige wesentliche Unterschiede und Handlungsmöglichkeiten kurz skizziert. Nach Hofstede unterscheiden sich die deutsche und die türkische Kultur insbesondere bei den Dimensionen Machtdistanz und Individualität.
Der Machtdistanzindex zeigt an, wie in einer Gesellschaft mit der Ungleichverteilung der Macht umgegangen wird. Ist in einer Gesellschaft die Distanz zwischen dem Vorgesetzten und seinen Mitarbeitern eher gering oder hoch? Deutschland wird mit einem Index von 35 als ein Land eingestuft, in dem eine geringe Distanz zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter vorzufinden ist, während in der Türkei dieser Abstand traditionell größer ist. Die Mitarbeiter trauen sich in der Regel nicht, dem Vorgesetzten zu widersprechen.
Entscheidungen werden in letzter Instanz vom Vorgesetzten, häufig dem Firmeninhaber, getroffen. Für Einkäufer kann dies bedeuten, dass sie zwar mit dem Vertriebsmitarbeiter verhandeln, ob das Geschäft dann aber zustande kommt, ist wesentlich vom Einverständnis des Eigentümers oder des obersten Chefs abhängig. Deshalb ist unbedingt herauszufinden, ggf. auch auf Umwegen, welche Bedeutung die Zusammenarbeit für die Unternehmensleitung hat. Dies wird sich spätestens bei Kapazitätsproblemen auf ihre Lieferungen auswirken. Nur wenn dem türkischen Partner die persönliche Beziehung zu dem deutschen Unternehmen beziehungsweise dessen Firmenleitung von Bedeutung ist, werden deren Aufträge mit hoher Priorität erledigt.
Große Unterschiede sind auch in Bezug darauf festzustellen, welche Bedeutung der Einzelne in einer Gesellschaft hat. Ob ein Mitglied als ein Individuum oder als Teil einer Gruppe angesehen wird, hängt wesentlich von der Kultur eines Landes ab. In kollektivistisch geprägten Gesellschaften stehen die Interessen einer Gruppe im Vordergrund. Deshalb funktionieren Zielvereinbarungen nur auf der Ebene der Gruppe gut. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, welchen Einfluss der Einzelne dann in einem Geschäft oder Unternehmen hat. So kann es bei Verwerfungen mit einer Person, die ein hohes Ansehen innerhalb einer Gruppe genießt, vorkommen, dass die gesamte Unternehmung gefährdet ist, weil die ganze Gruppe sich betroffen fühlt. Nicht selten kommen Geschäfte in der Türkei durch die Empfehlung eines Geschäftsfreundes zustande. Auch bedarf es normalerweise mehrerer Treffen, bis ein Geschäft zustande kommt. Entsprechend werden die getroffenen Vereinbarungen häufig an die Person des Einkäufers geknüpft und ein Wechsel von Ansprechpersonen sollte möglichst vermieden werden.
Des Weiteren unterscheiden sich Deutsche und Türken, generell gesehen, in der Art und Weise ihrer Kommunikation, in ihrem Raum- und Zeitverständnis sowie der Informationsgeschwindigkeit. Dem Anthropologen Hall zufolge ist die Türkei ein Land, in dem mehrere Dinge auf einmal erledigt werden, die Gesprächspartner eine geringe Distanz zueinander halten und in dem Informationen schnell geteilt werden. Die Kommunikation vollzieht sich jedoch meistens nicht direkt, sondern das eigentlich Gemeinte muss aus dem Kontext (Haltung, Stimme, Gesichtsausdruck, Zeit für die Beantwortung der E-Mails etc.) erschlossen werden.
Trotz der kulturellen Unterschiede erweitern deutsche Unternehmen wie Daimler, Festo, BSH, Siemens, Mahle, Brose zunehmend ihre Türkei-Aktivitäten. Als ein wichtiger Faktor neben den relativ niedrigen Lohnkosten sowie den Steuer- und Standortvorteilen wird die hohe Arbeitsmotivation in der türkischen Belegschaft angesehen.
„Es gibt in der Türkei kaum ein Problem, was nicht gelöst werden kann. Meist hat man einen Freund, der das kann.“
Wie der türkische Markt erfolgreich erschlossen werden kann, zeigt Ihnen das Interview mit Jörg Dellbruegge, Beschaffungsmanager bei Windmöller und Hölscher KG.
Falls Unternehmen in der Türkei aktiv werden wollen, ist trotz der momentanen politischen Lage jetzt der richtige Zeitpunkt zum Markteinstieg. Gut geplant ist auch ein Erfolg garantiert.
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