Nach wie vor agieren und organisieren sich die meisten Unternehmen in Abteilungen und haben klare Hierarchien. Im strategischen Einkauf ist das die warengruppenbezogene Leadbuyerstruktur. Doch diese Strukturen beginnen sich aufzulösen. Den Startschuss hierzu gaben die agilen Arbeitsformen, die in immer mehr Unternehmensbereichen und Branchen Einzug halten. Entsprechend kooperativ und weniger hierarchisch gestalten sich Führung und Zusammenarbeit. Das Ziel: flexibler, schneller und näher am Kunden und seinen ständig neuen Anforderungen.
Auch am Einkauf geht das nicht spurlos vorbei. Das, was die internen Kunden brauchen, passt nicht unbedingt zum Warengruppenfokus, mit dem der Strategische Einkauf auf den Einkaufsprozess blickt. Hinzu kommt: Vergaben, die neben dem sonstigen Tagesgeschäft im Strategischen Einkauf sauber aufgesetzt werden, brauchen aus Sicht der Fachbereiche oft zu lange und sind nicht immer zielführend.
Passt die Warengruppen-Denke zum Bedarf?
„Strategische Einkäufer sind Generalisten für alle mit dem Prozess verbundenen Aufgaben wie Ausgabenanalyse, Warengruppenstrategie, Sourcing, Ausschreibung, Verhandlung und Lieferantenmanagement“, beschreibt Einkaufsspezialist Joachim von Lüninck, amc Group, das Dilemma, das im komplexen Alltag dazu führt, dass im Einkauf nicht unbedingt vom Kunden aus gedacht und gehandelt wird.
Joachim von Lüninck setzt sich deshalb für eine stärkere Arbeitsteilung im Strategischen Einkauf ein und sagt: „Das Warengruppenmanagement, wie wir es kennen, stößt angesichts der zunehmenden Komplexität der Aufgaben im Einkauf an Grenzen. Es wird Zeit, dass wir die Funktion von ihren vielen Aufgaben entlasten, sie neu aufteilen und weitere Rollen im strategischen und taktischen Einkauf etablieren.“ Nichts anderes sehen agile Formen der Zusammenarbeit vor, wenn sie statt die Arbeit um den Menschen, den Menschen um die Arbeit organisieren. Das Ergebnis sind Spezialisten, die sich um Teilaufgaben kümmern. Als Beispiel nennt von Lüninck eine RFX-Factory, die als Product Owner den Vergabeprozess verantwortet. Für E-Auctions gibt es solche Profis in größeren Einkaufsabteilungen schon länger.
Modell Projekteinkauf
Neben dem Category Management hat sich der technische Projekteinkauf etabliert, der sich warengruppenübergreifend auf die Anforderungen der Produktentwicklung konzentriert. Dass das Modell in der Industrie hervorragend funktioniert, bestätigt Michael Stietz, CPO der Körber AG. „Je kleiner die Losgrößen, desto generalistischer muss die Einkaufsorganisation agieren“, erklärt er. Nicht überall lasse sich aus der Warengruppe heraus ein Mehrwert generieren.
Körber AG: Hybride Organisation
Auch Michael Stietz sieht die Herausforderung der Multidimensionalität des Warengruppenmanagements. Für ihn gehören neben der Bündelung vor allem Themen wie Cost-Break-Down, Verbesserung der Ausschreibungsfähigkeit und Vernetzung mit den Geschäftspartnern dazu. Aber er sagt auch: „Die Supply Chain wird diverser, weil wir nicht mehr nur eine Angebotskategorie für den Markt haben. “ Danach richte sich die Organisationsform. Bei Körber wird also von Fall zu Fall entschieden: An welchen Stellen macht eine Warengruppenorganisation Sinn, wo Leadbuyer mit Lieferantenverantwortlichkeiten und wo ein Projekteinkauf. Stietz prognostiziert: „Hybride Organisationsformen werden weiter zunehmen.“
Vorteil Bündelung und Synergien
Allerdings will er die Profillandschaft nicht zu sehr verkomplizieren: „Die Organisation muss auch noch verstehen, wie der Einkauf aufgebaut ist und was sie von welcher Funktion erwarten kann.“ Für Michael Stietz ist klar: Die Warengruppenmanager sind im Körber-Konzern mit seinen eigenständigen Geschäftsfeldern für die Synergien verantwortlich. Sie kennen die Portfolios, analysieren Muster und stellen den Wissenstransfer über die Standorte sicher. An dieser Stelle hilft natürlich die Digitalisierung. Sie wird dem Warengruppenmanagement sicherlich einen Teil dieser Arbeit abnehmen können. Selbst bei neuen, innovativen Warengruppen sieht Stietz die Vorteile in einer klaren Leistungsexpertise: „Aus Sicht eines Technologiekonzerns brauchen wir für innovative Schlüsseltechnologien eine sehr gute Marktkenntnis im Einkauf“, erklärt er.
R+V: Kundenmanager im Einkauf
Die Warengruppenstruktur in der Einkäuferzuordnung komplett aufgelöst hat Kim Kuhlen, Einkaufsleiter der R+V Versicherung. Seitdem besteht der Konzerneinkauf der Versicherung aus zwei Gruppen. Einer strategischen Einheit für Support und Unterstützung, in der sich alle Querschnittsfunktionen des Einkaufs bündeln (strategische Weiterentwicklung, Controlling, Vertragsstandards, Weiterentwicklung der IT-Systeme, Regulatorik, Risikomanagement) und einer taktischen Einheit für das Bedarfs- und Vergabemanagement. Allein im Einkaufscontrolling und IT-System existiert die Warengruppenlogik weiter und hat dort Einfluss auf die Verbuchung.
„Wir haben heute Kunden- und Prozessmanager, die den Kunden durch den kompletten und individuellen Einkaufsprozess führen“, erklärt Kuhlen. Die taktischen Einkäufer sind grob in zwei Cluster aufgeteilt: Die Vergabe von Dienstleistungen (von Reinigung bis Beratung) sowie die Vergabe jeglichen elektrifizierten Guts. Von IT über Druckstraßen bis zu Portomaschinen ist auch hier die Spreizung groß. Aber darum geht es Kim Kuhlen gar nicht: „Die Warengruppenexpertise haben wir ja bewusst zugunsten der Prozessexpertise für einen optimalen Einkaufsprozess zurückgefahren“, betont er.
Kunden- statt Materialexpertise
„Die Frage lautet für uns nicht mehr: Bin ich ein Marktexperte? Wir diskutieren mit den Fachbereichen vielmehr, welche Form der Vergabe am besten für ihren speziellen Bedarf und die Situation passt: ein Benchmarking, eine Angebotseinholung, eine Ausschreibung oder ein sehr individueller Einkaufsprozess“, erklärt der Einkaufsleiter. Anhand der vier Nutzendimensionen Sicherheit, Zeit, Qualität und Kosten wird gemeinsam der passende Vergabeprozess bestimmt. In diesem Jahr noch will Kim Kuhlen die Cluster ganz auflösen und rein kundenzentriert arbeiten. „Dann gibt es Kollegen, die alles für das Marketing einkaufen und andere für die IT, egal ob Software oder Medialeistung“, sagt Kuhlen. Und die Bündelung? Die bleibt wichtig, betont er, aber sie wird zugunsten der Kundenzentrierung nachgelagert erfolgen.
Wo steckt der größte Mehrwert?
Die Rückmeldung aus den Fachbereichen ist sehr positiv. „Wir werden als Businesspartner wahrgenommen und diskutieren auf Augenhöhe“, freut sich Kuhlen über seine Situation, die gerade im indirekten Einkauf nicht unbedingt selbstverständlich ist. Kein Wunder, denn: Dort, wo es Sinn ergibt, nimmt man sich die Zeit und verhandelt im Detail Verträge. Und dort, wo es drängt, führen Benchmarks zu einem schnellen und für alle zufriedenstellenden Ergebnis. „Nicht immer ist die zweite Nachkommastelle entscheidend“, weiß Kuhlen. Trotzdem: Die Zahlen stimmen. Die Einbindungsquote ist gestiegen, die Maverick Buying Quote gesunken und die Savings entwickeln sich positiv. „Wir konzentrieren uns auf die wertschöpfenden Vorgänge und verschwenden mit unkritischen Vergaben keine Ressourcen mehr“, nennt Kim Kuhlen den Grund für die Einsparungen.
Dass eine solche Arbeitsaufteilung in strategische und taktische Prozesse wie bei der R+V Versicherung großen Unternehmen leichter fällt als kleinen, weiß auch Einkaufsexperte Joachim von Lüninck. „In großen Firmen lassen sich natürlich leichter Teams bilden, die einzelne Prozessketten im Einkauf bearbeiten“, erklärt er, „in kleineren Einheiten haben die Mitarbeiter dann trotzdem wieder zwei bis drei unterschiedliche Rollen.“ Aus Sicht von Lünincks managt der Einkauf künftig Wertschöpfungsnetzwerke. „Hierfür braucht es eine Ebene der agilen, bereichsübergreifenden Zusammenarbeit vom internen Kunden über den Verkauf, die Produktion zum Einkauf und seinen Lieferanten.“
Innovations-Cluster bilden
Und was sagt die Wissenschaft? „Die Orientierung an Warengruppen macht dort Sinn, wo Bedarfe exakt benannt und Volumina und Charakteristika genau definiert sind. Dann erziele ich über den Warengruppenfokus eine sehr gute End-to-End-Transparenz und nachhaltige Kostensenkungen“, erläutert Prof. Dr. Elisabeth Fröhlich, Professorin für strategisches Beschaffungsmanagement an der CBS International Business School. Die Grenzen sieht sie dort, wo diese festen Volumina und Spezifikationen nicht mehr gegeben sind, besonders, wenn Innovationen gefragt sind: „Wenn ich Stahl kaufe, ist eine Warengruppe zur Bündelung meines Stahlbedarfs natürlich sinnvoll. Denke ich jedoch über völlig neue Materialien nach, brauche ich im Einkauf eine Einheit, die losgelöst von Warengruppen solche innovativen Prozesse unterstützt“, beschreibt sie den Unterschied. „Das, was den Einkauf der Zukunft ausmacht, ist die Tätigkeit des Analysten und die des Innovators, beides passt nicht unbedingt zur starren Fixierung auf Warengruppen“, erklärt sie. Auch für die geforderte Nachhaltigkeit von Materialien und Lieferketten seien innovative Konzepte gefragt. Elisabeth Fröhlich empfiehlt Innovation-Teams im Einkauf, die genau diese Themen übergreifend vorantreiben. „Ihre Aufgaben und Rollen sollten die Teams selbst erarbeiten“, plädiert sie für die agile Selbstorganisation.
Wertschöpfungsnetzwerk statt Warengruppe
Und die angehenden Fachkräfte? Fröhlichs Studierende bemängeln am Warengruppenmanagement, dass es sich auf die Objekte und nicht auf den Prozess des Einkaufens fokussiert. „Sie finden den Ansatz deshalb wenig spannend“, beobachtet Fröhlich. Damit sind die jungen Talente in der neuen Welt des Einkaufs schon angekommen.