Der Lhotse ist mit 8516 Metern der vierthöchste Berg der Erde. Die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhält aber fast ausschließlich sein Nachbargipfel, der Mount Everest. Dasselbe gilt den Gründern und Geschäftsführern des gleichnamigen Tech-Unternehmens, Jan Berssenbruegge, Can Akin und Henning Hatje, zufolge für die meisten indirekten Ausgaben. Demnach liegt der Schwerpunkt auf den 80 Prozent der Ausgaben, die als strategisch angesehen werden. „Die verbleibenden 20 Prozent werden oft übersehen und nicht optimiert“, sagt Hatje: „Unser Ansatz ist es, die breite Masse dieser Anfragen abzudecken, damit der Nutzer schnell auf ein gutes Ergebnis kommt.“
Das Start-up Lhotse hat im Juli 2020 firmiert. In den Monaten zuvor hatten die drei Gründer ihre Idee einer Plattform für die indirekte Beschaffung validiert. Nach der Gründung entwickelte Akin gemeinsam mit zwei weiteren Entwicklern die erste Version des Produkts. Währenddessen machten sich Berssenbruegge und Hatje daran, die ersten Anwender zu akquirieren. Mit Erfolg: Das Pflanzenzüchtungs- und Biotechnologie-Unternehmen KWS Saat konnte als erster Kunde gewonnen werden.
„Wir haben mit KWS angefangen zu arbeiten, als es unser Produkt noch gar nicht gab“, erinnert sich Hatje. Von der Einkaufsabteilung des S-Dax-Unternehmens konnte so ein erstes Feedback eingesammelt werden. Nach zwei Finanzierungsrunden im Jahr 2021, sahen sich die drei gut aufgestellt und konnte ihr Team sowie die Plattform weiter ausbauen. Mittlerweile beschäftigt Lhotse rund 25 Mitarbeiter – primär Entwickler und Produktmanager.
Künstliche Intelligenz greift an zwei Punkten
Die Plattform deckt den indirekten Einkauf von Produkten und Dienstleistungen von der Anfrage bis zur Angebotsentscheidung ab. Hatje: „Wir fokussieren uns im speziellen auf die ‚taktische Beschaffung‘. Das sind in der Regel Themen, die ein Volumen von 100.000 Euro je einzelner Beschaffung nicht überschreiten und oft nicht planbar sind. Die Summe kann aber auch mal höher oder niedriger liegen.“ Dabei geht es dem Tech-Start-up insbesondere um die Prozessgeschwindigkeit. Die relevanten Angebote sollen dem Nutzer schnellstmöglich zur Verfügung gestellt werden.
Während des Vorgangs ist an zwei Stellen künstliche Intelligenz aktiv: bei der Bedarfsdefinition und bei der Lieferantenidentifikation. Sobald der Bedarfsträger nach einem Produkt sucht und es definiert, läuft eine semantische Suche über den Inhalt und gleicht diesen mit verfügbaren Daten des Unternehmens ab. Diese speisen sich aus Katalogen, alten Bestellungen und Vorlagen des Einkaufs.
„So können Aussagen darüber getroffen werden, welches die besten Optionen sind. Die KI nimmt dem Bedarfsträger oder dem Einkäufer, je nachdem wie wir implementiert sind, eine gewisse Denkarbeit ab. Die könnte man in diesem Umfang gar nicht leisten“, macht Hatje deutlich. IT-Hardware wie Servertechnik und Konferenzequipment oder Marketing-Produkte, beispielsweise für Messen, werden verstärkt nachgefragt. Andere relevante Produktbereiche sind das Facility Management, hier insbesondere Dienstleistungen, und verschiedene MRO-Bedarfe (Maintenance, Repair, Operations).
Die zweite Stelle an der KI greift ist die Lieferantenidentifikation. Um den passenden Lieferanten für die jeweilige Anfrage zu identifizieren, gleicht der Algorithmus die Suchbegriffe mit bereits bestehenden Lieferanten und der Lhotse-Datenbank ab. Letztere umfasst im europäischen Raum rund eine Million Betriebe inklusive entsprechender Informationen und Kriterien. Diese lassen sich grob in drei Kategorien unterteilen: Stammdaten, spezifische Produkt- sowie Leistungs- und Performance-Daten. Im Hintergrund wertet die Plattform aus, ob ein Lieferant mehr oder weniger relevant ist. Je mehr Datenpunkte so gesammelt werden und je mehr Transaktionen über die Plattform laufen, desto valider werden die Vorschläge mit der Zeit.
Kosten und Zeitaufwand für Anwender reduzieren
Die Plattform ist browserbasiert und funktioniert auf allen gängigen Systemen. Das hat den großen Vorteil, dass theoretisch nicht vor Ort beim Kunden implementiert werden muss. „Wir integrieren uns in viele bestehende Systeme. Wenn der Anwender eine E-Procurement-Lösung im Einsatz hat, können wir die Anfrage über eine Schnittstelle ziehen, durchführen und in das System zurückspielen“, so Hatje.
In einem solchen Fall, ohne eigene Benutzeroberfläche, spricht das Start-up von „Lhotse headless“. Eine andere Möglichkeit ist es, die Benutzeroberfläche direkt in den Fachbereichen zu implementieren. So kann der Bedarfsträger seine Anfrage selbst spezifizieren.
Aber wie wirkt sich die Nutzung der Plattform schlussendlich auf den Beschaffungsprozess aus? „12 Prozent Kostenersparnis sind unser laufender Durchschnitt. Die Preisreduktion erheben wir intern bei jedem Vorgang, der über Lhotse läuft“, erläutert Hatje. Ein Kunde, der über die Plattform Angebote für eine Backup-Lösung eingeholt hatte, konnte laut dem Start-up Einsparungen von rund 25 Prozent erzielen. In diesem Fall, bei einem mittelgroßen Unternehmen, ein sechsstelliger Betrag. Den Lieferanten musste er nicht wechseln, da er das günstigere Angebot als Basis für die erfolgreiche Nachverhandlung verwenden konnte.
Die Arbeitszeit, welche der Anwender aktiv aufbringen muss – Definition der Anfrage, Vergleichen der Angebote, Bestätigen des Lieferanten – soll weniger als 15 Minuten betragen. Die gesamte Durchlaufzeit dauert durchschnittlich etwa fünf Werktage. Hatje: „Cash-Ersparnis schön und gut, aber viel relevanter sind Prozesseffizienzen.“
Mehr Nutzerorientierung, weniger Einzelgänge
„Es gibt so viele Datenpunkte, die nicht miteinander verknüpft sind und nicht genutzt werden, um eine Automatisierung der Prozesse oder das Treffen guter Entscheidungen voranzutreiben“, erklärt Hatje weiter. Dabei sei die indirekte Beschaffung laut dem Gründer perfekt dafür diese zu nutzen, „da hier erstens noch nicht viel geschehen ist, zweitens die Datengrundlage vorhanden ist und es drittens auch eine Relevanz für große Unternehmen hat“.
Das Risiko dabei die Business Continuity zu gefährden, sei relativ gering. Denn in der Regel wird nicht in die Kernprozesse Produktion oder Logistik eingegriffen, sondern in periphere Vorgänge.
Maverick Buying die Grundlage nehmen
Das laufende Jahr ist ein wichtiges für das junge Tech-Unternehmen: die Plattform hat inzwischen laut der Gründer die nötige Marktreife erreicht, um auch bei großen Kunden implementiert werden zu können. Weiter im Fokus steht dennoch auch die Produktentwicklung in enger Zusammenarbeit mit den Kunden. Häufig würden gute Ideen schließlich aus den Einkaufsabteilungen und Fachbereichen selbst kommen.
„Die Tools und Prozesse die aktuell einkaufsseitig vorgegeben werden sind nicht intuitiv. Das ist ein Grund, warum Maverick Buying immer noch so häufig auftritt. Davon sind wir fest überzeugt“, sagt Hatje. Seiner Meinung nach braucht es für den Bedarfsträger eine sehr nutzerorientierte Oberfläche. Diese will die Plattform bieten. „Wir wollen den Einkaufsprozess aus Sicht der Person denken, die im Zentrum stehen sollte – der Bedarfsträger, der etwas braucht, um seine Arbeit durchzuführen.“